Einführung zu den Konzerten des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 19. und 20. Mai 2022


Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 8, F-Dur, op. 93

Ludwig van Beethoven
Ludwig van Beethoven (* 1770 in Bonn; † 1827 in Wien)

„Zusammengeraffter, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen“, so schrieb Johann Wolfgang Goethe an seine Gattin nach dem Zusammentreffen mit Beethoven während eines Kuraufenthaltes in Teplitz im Sommer 1811.
 Im Herbst desselben Jahres verbrachte Beethoven einige Wochen bei seinem Bruder Johann, der in Linz als Apotheker lebte. Die Geldentwertung infolge des sogenannten „Finanzpatents“ vom 20. Februar 1811 – des Staatsbankrotts Österreichs und Abwertung der Währung – wirkte sich erheblich auf Beethovens Rente aus. Zu diesen wirtschaftlichen Schwierigkeiten kam 1813 die Sorge um die Familie des Bruders Karl, der als Bankbeamter in Wien lebte.
 Mit der Erstaufführung der Siebten Symphonie und der Schlachtensymphonie (Wellingtons Sieg) am 8. Dezember 1813 im Universitäts-Saal begann eine Reihe glänzender Konzerte, die Beethoven auf der Höhe des äußeren Ruhmes zeigten. Im Orchester, das für die Schlachtensymphonie außergewöhnliche Verstärkungen forderte, saßen die berühmtesten Musiker Wiens: Johann Nepomuk Hummel, Joseph Mayseder, Ignaz Moscheles, Antonio Salieri u.a. Zu diesen Konzerten gehörte auch die selbstveranstaltete Akademie im Redoutensaal in Wien, in der die Achte Symphonie zwischen Siebter und der Schlachtensymphonie uraufgeführt wurde. In diesem glänzenden äußeren Aufschwung sollte nun auch seine Oper mit mehr Glück wieder herausgebracht werden. Der Dichter Friedrich Treitschke hatte das Libretto neu bearbeitet. Am 23. Mai ging sie im Kärntertortheater erneut in Szene – die nächste Aufführung am 26. Mai brachte noch einige kleine Änderungen, auch erklang hier zum ersten Male die jetzige Fidelio-Ouvertüre. Der Erfolg des Werkes war fortan gesichert.
 Die festlichen Konzerte der Jahre 1813/14 erreichten ihren Gipfel in der Akademie vom 29. November 1814 im Redoutensaal. Die Kaiserinnen von Österreich und Rußland, der König von Preußen und fast alle fürstlichen Teilnehmer des Wiener Kongresses waren zugegen; im Orchester saßen wiederum die berühmtesten Musiker Wiens. Beim Hofkonzert in der Burg zum Geburtstag der russischen Kaiserin am 25. Januar 1815 spielte Beethoven zum letzten Male öffentlich.



Symphonie Nr. 8, F-Dur, op. 93 (1812)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 2 Hörner, 2 Trompeten – Pauken – Streicher
Sätze: 1. Allegro vivace e con brio
2. Allegretto scherzando
3. Tempo di Menuetto
4. Allegro vivace
Spieldauer: ca. 27 Min.
Widmung: König Friedrich III. von Preußen
Uraufführung: 27. Februar 1814, im großen Redoutensaal zu Wien

„Keine Furore“ machte die Achte Symphonie laut einem Konzertbericht der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung über die Uraufführung. Zu gewagt, zu ungewöhnlich? Vielleicht war es auch das Konzertprogramm mit der Siebten und der Schlachtensymphonie voller Hurrapatriotismus, die die Achte weniger beachtlich erscheinen ließ. Dabei ist dieses Werk in jeder Hinsicht bemerkenswert. Es experimentiert kühn mit der Form der Symphonie, befreit sich von Konventionen, weckt und enttäuscht Erwartungen, wie man es bei Haydn finden kann, und kombiniert Humor mit expressivem Tiefgang höchster Intensität.
 Am Anfang des ersten Satzes steht sein Schluss; die ersten beiden Takte stehen auch am Ende, dann allerdings im pianissimo. Doch sie werden fortgesetzt, mit Nachsatz versehen, dann entspinnt sich ein Thema, das plötzlich auf dem subdominantischen Quartsext-Akkord hängenbleibt, dann abbricht. In A-Dur erklingt ein zweites Thema, leise, mit seltsamen Modulationen. Und wieder bleibt es plötzlich hängen. Diesmal entspringt daraus eine Aufwärtsbewegung mit dynamischer Steigerung. In den 3/4-Takt brechen unvermittelt punktierte 2-teilige Rhythmen im Tutti aus, womit eine Schlussgruppe eingeleitet wird. Die Exposition wird wiederholt. Die Durchführung bringt zunächst kontrapunktische Verdichtungen des Anfangsmotivs abwechselnd mit einem tosenden Abschnitt aus der Schlussgruppe. Während einer Passage mit der Melodie in den Bässen bleibt plötzlich alles wieder auf einem Akkord hängen. Kurz danach beginnt die Reprise, diesmal allerdings leise in den Holzbläsern. Das eigentliche Thema ist tonal ganz verwandelt, das zweite Thema erscheint in der Subdominante, moduliert dann in die Tonika. Ein ausgedehnte Coda beginnt wie die Durchführung mit einer erneuten Verarbeitung der Anfangsfigur, bleibt wiederum auf einem Akkord stehen, um nach einer Generalpause mit leisen in gezupften Streichern und Holzbläsern alternierenden Akkordwiederholungen die Begleitung des zweiten Satzes vorwegnehmend das Anfangsmotiv zu wiederholen und damit zu schließen.
 Der zweite Satz ist kein Adagio, wie man es erwarten würde, sondern ein schelmisches Allegretto scherzando. Es verkörpert die zentrale und paradoxe Substanz der Symphonie: Dieser kurze Satz klingt in seinen rhythmischen Obsessionen wie den wiederholten Staccato-Akkorden in den Holzbläsern oder dem 32tel-Zwitschern des so harmlos und volkstümlich anmutenden ersten Themas und der Basslinie, die darauf antwortet, in seinen dynamischen Extremen, die oft ein fortissimo direkt neben ein pianissimo stellen, in seinen sich überlagernden Texturen aus ineinandergreifenden Orchesterlinien und in seinen verzerrten musikalischen Mechanismen eher wie eine Vorwegnahme eines Orchesterscherzos von Stravinskij als ein frühromantischer Orchestersatz.
 Der dritte Satz ist Beethovens einziges symphonisches Menuett – doch ist dies wirklich ein Menuett? Er bezeichnet es mit „Tempo di menuetto“, doch ist dies kein höfischer Tanz! In die aus Wechselnoten bestehende und mit sforzati versehene Begleitung fahren Trompeten und Pauken vorzeitig hinein, bevor die Streicher die Melodie eröffnen. Im Nachsatz antworten sie dann „richtig“ auf die Violinen. Man fühlt sich an Mozarts absichtsvoll fehlerhaften Musikalischen Spass erinnert. Im zweiten Teil hören wir Bläserakkorde, die die „2“ im Takt hervorheben, dann geraten wir plötzlich wieder in Zweiertakt-Passagen. Trompeten, Pauken, Holzbläser geraten aus dem Takt, spielen gegeneinander versetzt und die Schlussdominante tritt vorzeitig ein. Das Trio gibt sich zunächst behaglich mit einem Horn-Duett, doch die gezupften Triolen der Celli geben dem einen unruhigen Hintergrund. Im letzten Teil gebärdet sich das anfängliche punktierte Motiv höchst sonderbar, erscheint im Bass mit sforzato auf der unbetonten dritten Taktzeit. Das klingt ebenso spleenig, wie die pompöse, aber ‚falsche‘ Attitüde des Menuett-Beginns.
 Das Finale führt die Erwartung eines symphonischen Finales erneut in die Irre. Weder ein Rondo, noch eine Hauptsatzform ist auszumachen. Im pianissimo eröffnen die Violinen einen Auftakt zu einer Melodie, die nie zustandekommt. Stattdessen wird aus dieser winzigen Figur ein Tutti-Ausbruch komponiert, der – wie schon im ersten Satz – hängen bleibt und nicht mehr von der Stelle kommt. Abrupt befinden wir uns in As-Dur mit einem kurzen, sich zerfasernden zweiten Thema. Ein stufenweise parallel geführter Auf- und Abstieg zunächst leise, dann laut in Tutti-Besetzung schließt den Abschnitt ab. Dann sind wir wieder in der Anfangssituation – war das zuvor ein zweites Thema oder ein Rondo-Couplet? – und ist das jetzt eine Reprise? Wieder hören wir abrupte dynamische Wechsel. Kleinst-Motive werden verdichtet und gegeneinander geführt, dabei in immer weiter entferntere Tonarten moduliert – Durchführung? Wiederholte fortissimo-Ausbrüche führen erneut in das zweite Thema, jetzt in Des-Dur. Die Elemente wechseln sich erneut ab, es geht schließlich über fis- und h-Moll zurück nach F-Dur. Beethoven schreibt Klangfarbenmelodien, ein Jahrhundert bevor Schönberg und Webern auf diese Idee kamen. In der Coda bleibt nach einer gewaltigen Steigerung plötzlich alles wieder stehen, der anschließende F-Dur-Akkord wird 27-mal wiederholt.


Paavo Järvi

Leitung: Paavo Järvi

stammt aus einer Musikerfamilie und wurde 1962 in Tallinn (Estland) geboren. Er studierte zunächst Schlagzeug und Dirigieren in Tallinn. 1980 übersiedelte er mit seiner Familie in die USA, um dort in Philadelphia und Los Angeles – dort bei Leonard Bernstein – sein Studium fortzusetzen. Gleichzeitig spielte er Schlagzeug in Erkki-Sven Tüürs kammermusikalischem Ensemble „In Spe“, einer in Estland beliebten Rockgruppe. Ab 1995 widmete er sich mehr dem Dirigieren, zunächst als Orchesterleiter in Stockholm, später in Cincinnati, Bremen und von 2006 bis 2013 als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und seitdem sein „Conductor laureate“. Danach dirigierte er Orchester in Paris und Tokio, seit der Spielzeit 2019/20 ist er Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Tonhalle-Orchesters Zürich.