Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 22. Juni 2018


Hector Berlioz: Harold en Italie

Hector Berlioz
Hector Berlioz (* 1803 in La Côte-Saint-André, Isère; † 1869 in Paris)

Berlioz wurde von seinem Vater, einem angesehenen Arzt, und seinem Onkel selbst unterrichtet. 1821 begann er ein Medizinstudium, interessierte sich aber immer mehr für die Oper. 1826 wurde er am Conservatoire aufgenommen. Im Dezember 1830 gewann er den Rompreis. Kurz vor seiner Abreise wurde seine Symphonie fantastique uraufgeführt.
 Wegen dieses Erfolgs und seiner Verlobung mit der Konzertpianistin Camille Moke versuchte er, um den Rom-Aufenthalt herumzukommen. Einerseits musste er die Gunst des Pariser Publikums pflegen, um dauerhaft erfolgreich zu sein, andererseits fürchtete er um die Verbindung zu seiner Verlobten. Doch es blieb ihm keine Wahl, wollte er seine mit dem Preis verbundene Pension nicht aufs Spiel setzen. So verließ er am 31. Dezember 1830 Paris. Mitte April erreichte ihn in Rom ein Brief der Mutter Camilles, in dem sie die Verlobung ihrer Tochter mit dem Pianisten und Verleger, Camille Pleyel, bekannt gab. Berlioz machte sich sofort auf den Rückweg nach Paris, um seinen Nebenbuhler zu töten, kam aber nur bis Nizza, wo ihn eine Krankheit ans Bett fesselte. Danach kehrte er wieder nach Rom zurück.
  In Rom war Berlioz nur ungern. Er wanderte viel umher, besuchte Florenz, Neapel, Subiaco; im Sommer 1831 begegnete er Felix Mendelssohn-Bartholdy; schließlich kehrte er im Mai 1832 verfrüht nach Frankreich zurück. Am 9. Dezember dirigierte François-Antoine Habeneck erneut die Symphonie fantastique, nun mit der in Rom komponierten Fortsetzung, dem Monodram Le Mélologue, dem späteren Lélio, ou Le Retour à la vie. Eine Woche später bat er um Aufschub der ebenfalls mit dem Rompreis verbundenen Deutschland-Reise. Dieser wurde ihm gewährt.
  1834 erteilte Nicolò Paganini ihm einen Kompositionsauftrag für ein Bratschen-Konzert; die daraufhin entstandene Symphonie Harold en Italie akzeptierte er aber nicht. Im Dezember 1835 zerstritt Berlioz sich mit seinem langjährigen Dirigenten Narcisse Girard, der die Uraufführung des Harold dirigiert hatte. Neben finanziellen Dingen ging es um dessen musikalische Schwächen, die insbesondere bei der Aufführung des dritten Satzes zutage traten. Die folgende Aufführung des Werkes am 13. Dezember 1835 dirigierte Berlioz zum ersten Mal selber. Damit begann seine Profilierung zu einem der führenden und gefragtesten Dirigenten seiner Zeit.



Harold en Italie, Symphonie en 4 parties avec un alto principal, op. 16 (1834)

Orchesterbesetzung: Solo-Viola – 2 Flöten (1 auch Piccolo), 2 Oboen (im 3. Satz: 1 auch Englischhorn), 2 Klarinetten (beide auch in C), 4 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 2 Kornette, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 3 Schlagzeuger, Harfe – Streicher (12-12-8-6-6, im 4. Satz: 2 Violinen und ein Cello hinter der Bühne)
Sätze: 1. Harold in den Bergen. Szenen der Melancholie, des Glücks und der Freude. Adagio – Allegro
2. Marsch der Pilger, ihr Abendgebet singend. Allegretto
3. Serenade eines Bergbewohners der Abruzzen für seine Geliebte. Allegro assai – Allegretto
4. Gelage der Räuber. Erinnerungen an die vorangegangenen Szenen. Allegro frenetico – Adagio – Allegro. Tempo I
Spieldauer: ca. 45 Min.
Uraufführung: 23. Nov. 1834 in Paris

In der Figur Harolds hat Berlioz für das Programm seiner Konzert-Symphonie einen romantischen Heldentypus ins Zentrum gestellt, der ganz dem zeitgenössischen Interesse entspricht: einen empfindsamen, der Hysterie nahen, melancholischen Menschen, der sich der Zivilisation überdrüssig in die Natur zurückzieht, der das Mittelalters idealisiert und dem die Kunst zur Religion wird. Dieser Heldentypus, den vor allem George Gordon Lord Byron in seinen Dichtungen eindrucksvoll gestaltete, hat viele Komponisten fasziniert und zu Werken inspiriert. Als Beispiele seien hier nur genannt: Giuseppe Verdis I due foscari (1844) und Il corsaro (1848), Robert Schumanns Manfred (1848), Franz Liszts Tasso, Lamento e Trionfo (1849), sowie Pëtr Čajkovskijs Manfred-Symphonie (1885).
 Auch Berlioz war ein großer Byron-Verehrer. Während seines Italien-Aufenthaltes 1831 und 1832 las er mit großer Begeisterung dessen Werke. Er komponierte das von Byron inspirierte Monodram Lélio ou la retour à la vie, es entstanden erste Skizzen zu der Ouvertüre Le Corsaire nach Byrons Gedicht The Corsair. Und natürlich las er das Vers-Epos Childe Harold’s Pilgrimage (Des Knappen Harold Pilgerfahrt), das wesentlich die Vorstellungswelt in Harold en Italie geprägt hat. Daneben gab es viele eigene Reiseeindrücke des jungen Berlioz. Das römische Musikleben war für ihn enttäuschend, er nutzte seine Zeit zu langen Wanderungen auf dem Land und in den Abruzzen und studierte die italienische Volksmusik. Alle diese Eindrücke gingen in die Komposition ein, so dass man seinen Harold als ein Mischwesen aus Byrons Gestalt und Berlioz selbst ansehen kann.
 In der Rückschau seiner Memoiren verknüpft Berlioz diese Naturerlebnisse mit der Byron-Lektüre: „Ich wollte die Bratsche in den Mittelpunkt der poetischen Erinnerungen stellen, welche ich von meinen Streifzügen in den Abruzzen behalten hatte, und aus ihr eine Art von melancholisch träumerischer Persönlichkeit machen wie Byrons Harold“.
 Die Harfenbegleitung der Solobratsche zu Beginn des ersten Satzes erinnert an eine Stelle aus Byrons Dichtung:

Als aber tief die Sonn’ im Westen schien,
Griff er zur Harfe, die er wohl zu Zeiten
Anschlug zu kunstlos schlichten Melodien,
Wann fremdes Ohr nicht lauschte.

 Ähnlich wörtliche Verbindungen zu der literarischen Vorlage sind allerdings selten. Berlioz ging es weniger darum, eine Handlung zu illustrieren, als das romantische Lebensgefühl Byrons Harold, das er selbst teilte, in seiner Musik zum Ausdruck zu bringen.
 Der erste Satz „Harold in den Bergen. Szenen der Melancholie, des Glücks und der Freude“ ist wahrscheinlich am deutlichsten von eigenen Natureindrücken geprägt. Die Solobratsche spielt das „Harold-Thema“, welches in sehr verschiedenen Zusammenhängen immer wieder erscheint – zuerst in der langsamen, schwermütigen Einleitung, dann in dem folgenden, lebhaften Sonatensatz.
 Der zweite Satz beschreibt die Begegnung Harolds mit einer Gruppe von Pilgern. Ihre Prozession nähert sich in einem groß angelegten Crescendo; dann entschwindet sie, nach und nach immer leiser werdend.
„Serenade eines Bergbewohners der Abruzzen für seine Geliebte“ lautet der Titel des dritten Satzes. Berlioz schreibt darüber: „Ich habe dann die ‚pifferari‘ in ihrer Heimat gehört, und wenn ich sie schon in Rom so bemerkenswert gefunden hatte, wie viel stärker war die Gemütsbewegung, die ich von ihnen in dem wilden Gebirge der Abruzzen empfing, wohin meine Wanderlust mich geführt hatte!“ Als „Pifferari“ bezeichnete man musizierende Hirten, die vor allem in der Weihnachtszeit aus den Bergen in die Städte kamen, um mit Schalmei und Dudelsack ihre Andacht vor der Krippe des Jesuskindes zu verrichten. Berlioz setzt die Klangmischung von Piccoloflöte und Oboe ein, um den Klang der Schalmeien zu imitieren, die eintönige Bordun-Begleitung der Violen erinnern an einen Dudelsack.
 Im Finale begegnet Harold dann den Räubern. Berlioz selbst beschreibt den Satz als eine „rasende Orgie, wo der Rausch des Weines, des Blutes, der Freude und des Zorns zusammenwirken, wo der Rhythmus bald zu stolpern, bald wild vorwärts zu drängen scheint, wo wie aus metallenem Munde Flüche geschleudert werden und Gotteslästerungen auf flehende Stimmen antworten, wo man lacht, trinkt, schlägt, zerbricht, tötet, schändet und sich schließlich amüsiert […], während die Solobratsche, der Träumer Harold, erschrocken fliehend, in der Ferne noch einige zitternde Töne seines Abendliedes hören lässt.“
 Die Wahl der Bratsche für die Rolle des Harold ist eine im zeitgenössischen Kontext eher ungewöhnliche Entscheidung; um 1830 gab es kaum nennenswerte Literatur für das Instrument, das oft nur von schwächeren Geigern gespielt wurde. Berlioz beschreibt in seiner Instrumentationslehre von 1843 den „eigentümlich herben Klang“ der tiefen Bratschen-Saiten und den „traurig-leidenschaftlichen Ausdruck“ der hohen. Er hob ihren Klangcharakter „tiefer Schwermut“ hervor und empfahl die Bratsche besonders für „Szenen von religiösem und antikem Charakter“. Es ging also um eine Klangcharakteristik, die den romantischen Heldentypus des Harold verdeutlichen kann.
 Dazu hat diese Entscheidung aber möglicherweise noch einen anderen Zusammenhang: Berlioz berichtet in seinen (allerdings nicht immer zuverlässigen) Lebenserinnerungen, Niccolò Paganini habe ihn im Dezember 1833 um ein Bravourstück für sich und seine Stradivari-Viola gebeten. Als der große Geiger jedoch den ersten Satz zu sehen bekam, rief er aus: „Das geht nicht! Ich schweige hier viel zu lange, ich muss immerfort zu spielen haben!“
 Und tatsächlich: Die Stimme Harolds ist bereits im ersten Satz überaus verhalten. Lange Töne, eine verhaltene Melodie, häufig verdoppelt mit Fagott oder Violinen, relativ wenig Dialog zwischen Orchester und Solist – dieses Konzert gibt dem Solisten wenig Raum, Virtuosität zu zeigen, es trägt regelrecht anti-heroische Züge. Aus dem Helden wird ein Beobachter, ein Empfindender, der sich ganz in die Innerlichkeit zurückzieht. Im Verlauf der vier Sätze geht das Gewicht und die Bedeutung des Soloinstruments immer mehr zurück – aus dem Bratschenkonzert wird eine Sinfonie.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.

Antoine Tamestit

Viola: Antoine Tamestit

Der 1979 geborene französische Bratschist ist 2017/18 „Artist in Residence“ beim hr-Sinfonieorchester. Er war im letzten November im Kammerkonzert mit Schnittke und Telemann und im Februar im Forum N mit Berio zu hören. Er studierte in Paris bei Jean Sulem, an der Yale University bei Jesse Levine und beim Tokyo String Quartet, bevor er sein Studium in Berlin bei Tabea Zimmermann fortsetzte. Seit 2013 lehrte er am Pariser Konservatorium. Seit 2007 gehört er zu dem Streichtrio von Frank Peter Zimmermann, dem Solisten des letzten Sinfoniekonzerts.