Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 28. Februar 2018


Boris Blacher: Paganini-Variationen

Boris Blacher
Boris Blacher (* 1903 in Pinyin Niúzhuāng (heute: Yingkou), China, † 1975 in Berlin)

Boris Blachers Familie stammt aus Estland, sein Vater arbeitete für die Russisch-Chinesische Bank, daher verbrachte Blacher seine Jugend an verschiedenen Orten in China, Sibirien und der Mandschurei. Entsprechend vielsprachig und multikulturell war er geprägt. Früh erhielt er Klavier- und Geigenunterricht und lernte Musiktheorie und Harmonielehre. Als 16-jähriger instrumentierte er für ein Emigranten-Orchester nach Klavierauszügen verschiedene Werke, darunter Puccinis Tosca. 1922, nach seinem Abitur ging er nach Berlin, um dort an der Technischen Hochschule Architektur und Mathematik zu studieren. Ab etwa 1923 war er Kompositionsschüler von Friedrich Ernst Koch, 1927-31 studierte an der Universität Berlin Musikwissenschaft. Bis weit in die 30er Jahre hinein lebte er von Arrangements von Tanz- und Unterhaltungsmusik. Einen größeren Erfolg im ernsten Genre gelang ihm 1937 mit der Uraufführung seiner Concertanten Musik, op. 10 durch die Berliner Philharmoniker unter Carl Schuricht. Daraufhin erhielt er eine Kompositionsklasse in Dresden, die er jedoch bald wieder abgeben musste, weil er „unerwünschte Musik“ behandelt hatte. Während der folgenden Jahre der NS-Diktatur war Blacher trotz seiner jüdischen Vorfahren einer der bekanntesten Komponisten in Deutschland; seine Werke wurden aber immer seltener gespielt.
 Mit den Orchestervariationen über ein Thema von Niccolò Paganini gelang ihm 1947 erneut ein größerer Erfolg, der ihn auch international bekannt machte. Ab 1948 lehrte er Komposition an der Berliner Musikhochschule, außerdem in Bryanston, Südengland, Salzburg und Tanglewood, Mass. Als Mitglied der 1955 neu gegründeten Akademie der Künste wurde er 1956 ihr Vizepräsident, 1968 Präsident und 1971 Ehrenpräsident. Als Kompositionslehrer gehört er wohl zu den prägendsten Persönlichkeiten Nachkriegsdeutschlands. Das Verzeichnis seiner Schüler hört sich an, wie das „Who is Who“ der Neuen Musik der Nachkriegszeit: Gottfried von Einem, Heimo Erbse, Fritz Geißler, Günter Kochan, Rudolf Kelterborn, Giselher Klebe, Peter Ronnefeld, Heinz von Cramer, Thomas Kessler, Francis Burt, Isang Yun, Max Baumann, Claude Ballif, Hans Eugen Frischknecht, Maki Ishii, Noam Sheriff, George Crumb, Kalevi Aho, Klaus Huber, Aribert Reimann u.v.m. Auch der Dirigent Herbert Kegel war ein Schüler von Blacher.
 Seine kompositorische Handschrift ist gekennzeichnet durch die Vielseitigkeit seiner musikalischen Interessen, zu denen Jazz und Unterhaltungsmusik ebenso gehört, wie elektronische und dodekaphonische Musik und alle Neuerungen, die in der Avantgarde seiner Zeit zu finden sind. Seine Schreibweise ist klar und schlackenlos, seine Partituren oft ironisch distanziert. Er benutzte ein selbst entwickeltes System sogenannter variabler Metren, um musikalische Form und rhythmische Symmetrie mit zahlreichen, arithmetisch aufgebauten Taktwechseln zu durchbrechen. Obwohl überwiegend atonal komponierend, klingt seine Musik immer fasslich. Sie ist gekennzeichnet durch tänzerische Leichtigkeit, klare Strukturen, geistreich-elegante Instrumentierung und pointierten Witz. Durch eine nahezu asketisch verschlankte Schreibweise ist sie frei von jedem falschen Pathos.
 Mit der rhythmischen Symmetrie der variablen Metren gehen sehr häufig palindromartige Strukturen einher. Dies führt zu einem organischen Wachsen und Schrumpfen von Phrasen, Stimmen und Strukturen. Palindrome ordnen Einzelheiten, Komplexe und Abläufe, stiften Kohärenz in Sätzen und Zyklen und erhalten so die Qualität eines zentralen Formprinzips.



Orchestervariationen über ein Thema von Niccolò Paganini, op. 26 (1947)

Orchesterbesetzung: Piccolo-Flöte, 2 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bass-Klarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken – Streicher (16-14-12-10-8)
Spieldauer: ca. 16 Min.

Blacher selbst hat seine beiden erfolgreichsten Stücke, die Concertante Musik, op. 10 von 1937 und die Orchestervariationen über ein Thema von Nicolò Paganini, op. 26 etwas abschätzig als „Edelschnulzen“ bezeichnet. Dass er sich überhaupt mit dem Paganini-Thema befasste, zeigt allerdings eine gewisse Risikofreude. Denn immerhin hatten sich vor ihm bereits Franz Liszt (1839), Johannes Brahms (1862/63), Sergej Rachmaninov (1934), Witold Lutoslawski (1941), Alfredo Casella (1942) und Luigi Dallapiccola (1942/43) an Variationen über das Capriccio a-Moll aus den 24 Capriccii op. 1 von Paganini versucht. Blacher greift hier einzelne Aspekte des Themas heraus und bearbeitet sie auf eine Weise, dass etwas Neues entsteht. In dem Werk, das mit Blachers Palimpsest-Methode als Variationenreihe geordnet ist, finden sich alle Stilmerkmale Blachers ausgeprägt, wie sie Josef Rufer 1948 formulierte: „Klarheit des Klang- und Satzbildes als Ergebnis einer künstlerischen Ökonomie, jener schwierigen Kunst des ‚Weglassens‘, die zu äußerster Prägnanz der Aussage führt. Dann ein sehr dominierendes, oft als ‚Motiv‘, als Antrieb der Fantasie wirkendes rhythmisches Empfinden von subtiler Modulationsfähigkeit; das sich – darin dem ‚Nähmaschinen‘-Ideal Stravinskijs verwandt – sinnvoll nur von dem Raster eines mit motorischer Strenge eingehaltenen Grundtempos abheben und entfalten kann. Und schließlich die gesetzmäßige Gebundenheit der Musik, die bei Blacher weniger im Motivischen und Thematischen liegt als in dem abwechslungsreichen Spiel der Formen.“ Hinzuzufügen wären noch die instrumentatorische Finesse, der Wechsel von feiner Ziselierung und massivem Orchestereinsatz, Blachers musikalischer Witz und nicht zuletzt seine kompositorische Unvoreingenommenheit.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.