Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 28. Februar 2018


Johannes Brahms: 3. Sinfonie

Johannes Brahms
Johannes Brahms (* 1833 in Hamburg, † 1897 in Wien)

Gleich mehrere Umstände erschwerten es Brahms, sich der Form der Symphonie anzunähern. Da war der Artikel in der Neuen Zeitschrift für Musik, den Schumann im Anschluss an die Begegnung im Herbst 1853 verfasst hatte und in dem Brahms als „Berufener, den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen,“ begrüßt wurde – der 20jährige fragte sich, ob er einer solchen Vorhersage gerecht werden könnte – und der dazu die Aufforderung enthielt, sich mit den „Mächte[n] der Massen, im Chor und Orchester“ zu befassen. Seine Ausbildung bei Eduard Marxsen (ab 1843) in Hamburg hatte sich vielmehr auf die Verfahren der Variation und Bearbeitung konzentriert und durch seine ästhetischen Vorstellungen einer intensiven motivischen Durcharbeitung lag ihm die Kammermusik näher.
 Seine ersten beiden Versuche mit größeren Besetzungen, das Klavierkonzert d-Moll op. 15 und die Serenade A-Dur für kleines Orchester op. 16, fielen bei den ersten Aufführungen 1859 und 1860 in Leipzig durch. Zudem war die Vorstellung einer zeitgenössischen Sinfonik stark von den „Neudeutschen“ – mit Liszt und Wagner als Hauptvertreter – geprägt, die ihr Hauptgewicht auf klangliche und instrumentatorische Gesichtspunkte legten und programmatisch-inhaltliche Bestimmungen suchten, während sie Kammermusik und thematisch-variierende Beziehungsgeflechte für ein Zeichen einer veralteten Musik hielten. Brahms galt daher als Konservativer. – Diese Auffassung wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts revidiert, als zum einen Kammermusik, zum anderen die motivisch-thematische Verarbeitung oder, wie Schönberg sie bezeichnete, die „entwickelnde Variation“, wie sie in ihren Vorstufen bereits Brahms entwickelt hatte, in den Fokus der Komponisten rückte. – Um den neudeutschen Vorstellungen einer Symphonik etwas Eigenes entgegenzustellen, musste Brahms also nach gänzlich neuen Wegen suchen.
  Durchbrüche in dieser Hinsicht gelangen Brahms 1868 mit dem Deutschen Requiem op. 45 und vor allem 1873 mit den Variationen über ein Thema von Joseph Haydn op. 56a. Er hatte sich also die große Form zuerst von der orchesterbegleiteten Chorkomposition, dann mit der rein instrumentalen Besetzung in Form von Variationen erschlossen – beides bereits vorher erprobte Werkformen. Damit war für ihn der Weg zur Symphonie frei. Und sie folgten innerhalb von knapp zehn Jahren 1876 (1. Symphonie c-Moll, op. 68), 1877 (2. Symphonie D-Dur, op. 73), 1883 (3. Symphonie F-Dur, op. 90) und 1885 (4. Symphonie e-Moll, op. 98). Und er hatte einen Weg gefunden, der sich von den neudeutschen absetzte und eine ganz eigene Richtung einnahm. Carl Dahlhaus formulierte: „Die Behauptung, dass Brahms sogar in symphonischen Werken eigentlich Kammermusik geschrieben habe, ist zwar eine Übertreibung, aber eine durchaus verständliche; denn eine nach innen gekehrte Musik, die eher zur Zurücknahme neigt, als dass sie zur Emphase drängt, ist kaum vereinbar mit den Prinzipien einer Gattung, die nach Paul Bekker ihrer Idee erst gerecht wird, wenn sie sich an ein Massenpublikum, eigentlich an die Menschheit insgesamt wendet.“



3. Sinfonie F-Dur, op. 90 (1883)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott – 4 Waldhörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken – Streicher (14-12-10-8-6)
Sätze: 1. Allegro con brio (F-Dur) – 2. Andante (C-Dur) – 3. Poco allegretto (c-Moll) – 4. Allegro (f-Moll/F-Dur)
Spieldauer: ca. 39 Min.

Brahms komponierte seine 3. Symphonie während eines mehrmonatigen Aufenthalts in Wiesbaden im Sommer 1883. Sie wurde noch im Dezember unter der Leitung von Hans Richter in Wien mit großem Erfolg uraufgeführt. Es folgten in rascher Folge Aufführungen in Berlin einmal unter der Leitung von Joseph Joachim und ein zweites Mal unter der Leitung von Brahms selbst, dann Wiesbaden, Meiningen und Leipzig.
 Das Werk zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass der Versuch, die Reihung der vier Sätze zu einem geschlossenen Ganzen zusammenzufügen, auch an der musikalischen Oberfläche zu Tage tritt. Dies zeigt sich nicht allein in der Wiederaufnahme des Anfangs am Ende. Ein solches „Zitieren“ gab es auch schon bei Beethoven, etwa in dessen 9. Symphonie. Die Tonarten-Disposition der vier Sätze spannt ein tonales Gerüst über die gesamte Symphonie. Dazu arbeitet Brahms mit Motiven und Themen, die den musikalischen Verlauf wie handelnde Personen bestimmen. Deutlich wie selten wird mit Hilfe der Verwendung derselben thematischen Bildungen ein Netz von Beziehungen zwischen den Sätzen gespannt. Dieses Netz ist auf den 4. Satz ausgerichtet, in dem sich alle thematischen Zusammenhänge bündeln. Und abgesehen von der Wiederkehr des Anfangs, den man als Reminiszenz hört, sind die thematischen Verknüpfungen hier keine Zitate, sondern eingebunden in den formalen Zusammenhang jedes einzelnen Satzes, so dass durch die Bedeutung der nahe verwandten Gestalten in dem je eigenen Kontext ein ästhetischer Zusammenhang auf substantieller Ebene erwächst.
 Eine weitere Besonderheit und Unterschied zu Beethoven: Brahms Motive und Themen sind nicht in erster Linie rhythmisch, sondern durch ihre Intervalle und Tonhöhen motiviert. Vergleicht man etwa das Kopfthema von Beethovens 5. Symphonie mit dem von Brahms 3., so wird klar: Beethovens Motiv ist eindeutig rhythmisch charakterisiert, während Brahms Thema allein in seiner intervallischen Gestalt prägnant wird.
 Vor dem eigentlichen Thema bringt Brahms im ersten Satz ein Motiv aus drei Akkorden, das im weiteren Verlauf immer den Wechsel von Formabschnitten markiert. Der Satz folgt der Sonatensatzform. Die Durchführung verarbeitet zunächst das Seitenthema, dann folgt der erste Abschnitt des Hauptthemas. Das ganze Hauptthema erklingt erst in der Coda. Ähnlich gegliedert ist auch die Coda.
 Das dreiteilig (a-b-a‘) angelegte Andante mit seinem schlichten, folkloreartigen Thema erinnerte Clara Schumann an „Gläubige, die um ihren kleinen Waldschrein herum knien.“ In der Coda hört man das Hauptthema in den Klarinetten, aber die Chromatik der Begleitung verändert die Stimmung des Satzes.
 Der 3. Satz hat die gleiche Form, das Mittelteil lässt sich als Trio auffassen. Die Reprise ist anders instrumentiert.
 Das Finale setzt mysteriös, aber mit einem energisch vorwärtsstrebenden Thema ein, das Gegensätzliches in sich vereint. Zugrunde liegt die Sonatensatzform, doch setzt die Reprise bereits an der Stelle ein, an der die Durchführung eigentlich den dritten Elementabschnitt des Hauptthemas verarbeiten müsste; das eigentliche Hauptthema wird nicht aufgegriffen.
 Die Coda nimmt fast ein Fünftel des gesamten Satzes ein. Sie hat Durchführungscharakter, indem sie die ersten beiden Elementabschnitte des Hauptthemas des Finales mit Variationen wiederholt.
 Im Vergleich zu der vorherigen energiereichen Entwicklung des Finalsatzes endet dieser überraschend verhalten. Innerhalb dieser abschließenden ruhigen neun Takte erklingt auch das Hauptthema des ersten Satzes, aber mit abgeschwächter Energie, von Tremoli der Streicher begleitet.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.