Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 25. April 2018 und zum Konzert am 4. Februar 2021


Max Bruch: Kol Nidrei, op. 47

Max Bruch
Max Bruch (* 1838 in Köln, † 1920 in Berlin)

Bruch entstammte einer geistig und künstlerisch hochgebildeten Familie, in der er frühe musikalische Förderung erhielt. Als Vierzehnjähriger hatte er bereits 70 Kompositionen geschrieben, darunter eine Sinfonie, die 1852 öffentlich aufgeführt wurde, sowie ein Streichquartett, das im selben Jahr von der Frankfurter Mozartstiftung ausgezeichnet wurde. Das damit verbundene Stipendium ermöglichte ihm von 1853 bis 1857 ein Kompositionsstudium bei Ferdinand Hiller, der kurz zuvor als städtischer Musikdirektor und Leiter des neuen Konservatoriums nach Köln berufen worden war. Nach einigen Reisen und Studien an der Universität Bonn in Geschichte, Literatur und Kunstgeschichte übernahm er von 1865 bis 1867 eine erste feste Stellung als Musikdirektor in Koblenz. Hier entstand sein berühmtestes Werk, das 1. Violinkonzert in g-Moll. Die Übersiedlung nach Sonderhausen, der freundschaftliche Kontakt mit Philipp Spitta und die Annäherung an Brahms erzeugten bei Bruch eine verstärkte „kulturprotestantische“, konservative Haltung, die sich von den „Neudeutschen“ (v.a. Liszt und Wagner) abwandte und zu einer künstlerischen Neuorientierung führte. Hatte er sich noch 1871 mit Gedanken an eine deutsche Nationaloper getragen, rückten jetzt die vokalen Gattungen, Oratorium und Lied, in den Mittelpunkt seines Interesses. 1872 entstand das Oratorium Odysseus, 1885 folgte Achilleus. Es folgten mehrere Konzertwerke, das 2. Violinkonzert (1877), die Schottische Phantasie (1879/80). Jetzt trat die Liebe zum Volkslied als besondere Konstante im Schaffen Bruchs hervor. Zwar hat er die ursprünglich geplante große Sammlung mit dem Herderschen Titel „Stimmen der Völker in Liedern“ nicht zu Ende geführt, aber für die schlichten Volksliedsätze für Singstimme und Klavier bis hin zu großen Konzertwerken, eben die Schottische Phantasie und das Kol Nidrei, ist das Volkslied ein fester Bezugspunkt.
 Durch seine Berufung an die Berliner Akademie der Künste fand Bruch seinen Platz in der „Garde der älteren Ideale“ – wie Heinrich Riemann schrieb –, die sich um die deutschen Konservatorien und Musikakademien scharte. In dieser Haltung erstarrte Bruch zunehmend, verständnislos und ausfallend gegenüber jüngeren Zeitgenossen, enttäuscht über die zeitgeschichtlichen Ereignisse seiner letzten Lebensjahre – Weltkrieg und Untergang des Kaiserreiches – und verbittert über die Ignoranz der Musikwelt.
 Bezüglich seiner Komposition Kol Nidrei bleiben zwei fast skurril zu nennende Nachwirkungen zu berichten: 1933 geriet Bruch aufgrund dieser Komposition bei den Nationalsozialisten in Verdacht. Es wurde gemutmaßt, er sei jüdischer Abstammung und habe ursprünglich „Baruch“ geheißen. Seine Tochter, die Schriftstellerin Margarete Bruch, bemühte sich, die „arische“ Herkunft der Familie nachzuweisen.
 Und 2014 betitelte der amerikanische Dirigent Leon Botstein eine Einführung in das Werk mit „How an Anti-Semitic Composer Created ’Kol Nidre’ and ’Moses’“.
 So wird aus einem Komponisten, der sich mit zwei jüdischen Melodien befasste, zunächst ein Jude, weil er kein Antisemit war, und später ein Antisemit, weil er kein Jude war.



Kol Nidrei – Adagio für Violoncello mit Orchester und Harfe nach Hebräischen Melodien, Op.47 (1880/81)

Orchesterbesetzung: Solo-Cello – 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken, Harfe – Streicher (12-10-8-6-4)
2 Abschnitte: Adagio ma non troppo (in d-Moll) – Un poco più animato (in D-Dur)
Spieldauer: ca. 10 Min.
Widmung: Robert Hausmann
Uraufführung: 20. Oktober 1881, Liverpool. Mit A. Fischer, Vc, in der Leitung des Komponisten.

Nach dem großen Erfolg seines ersten Violinkonzertes wurde Max Bruch von mehreren Cellisten immer wieder gebeten, doch auch ein Cello-Konzert zu komponieren. Über lange Zeit lehnte er dies ab. 1874 beklagte er sich bei seinem Verleger, dass er von den Cellisten so bedrängt würde: „Da können sie aber lange warten. Ich habe wichtigere Dinge zu thun, als dumme Cello-Concerte zu schreiben!“ 1880 aber teilte er mit: „Ich wollte Ihnen nur noch sagen, dass ich für Hausmann ein Cello Stück mit Orchester geschrieben habe, über eine höchst vortreffliche Hebräische Melodie, ‚Kol Nidrei’ (Adagio) … [Hausmann] hat mich so lange geplagt, bis ich endlich dies Stück geschrieben habe.“
 Als Dirigent des Stern’schen Gesangvereins ab 1878 in Berlin war Bruch mit der jüdischen Musik in Berührung gekommen und Ferdinand Hiller hatte ihm die Bekanntschaft mit dem Cantor Abraham Jacob Lichtenstein vermittelt. Von diesem hörte er den traditionellen Bußgesang des jüdischen Jom-Kippur-Festes, dem höchsten Fest des jüdischen Kalenders. Die Anfangsworte des Gesanges lauten „Kol Nidrei“, zu deutsch: „Alle Gelübde“. Diese Melodie, die Bruch durch die Einfügung von Pausen in kurze eindrückliche betonte Phrasen zerteilte, bestimmt den ersten Abschnitt der Komposition. Im zweiten ins Dur wechselnden Abschnitt des Kol Nidrei verwendet Bruch Isaac Nathans Melodie-Fassung von Lord Byrons Hymne „Oh Weep for Those that Wept on Babel’s Stream“, (Beweint die, so geweint in Babels Land!).
 Natürlich hatte Bruch nicht im Sinn, jüdische liturgische Musik zu schreiben. Er verglich das Kol Nidrei mit seiner Schottischen Fantasie Es-Dur op. 46, „da es“, so Bruch, „wie diese einen gegebenen melodischen Stoff in künstlerischer Weise verarbeitet“ – ein Verfahren, das er in vielen seiner Kompositionen angewandt hat. Immer wieder setzte er sich mit der Folklore anderer Länder und Kulturen auseinander und ließ sich durch sie inspirieren. Neben jüdischen und schottischen Melodien verwendete er auch schwedische und russische Volkslieder in manchen seiner Instrumentalwerke. 1884 schrieb er an seinen Verleger: „In der Regel ist ein einziges gutes Volkslied mehr wert als 200 Kunstwerke.“
 Während Bruch noch in Liverpool war, spielte Hausmann das Werk bereits in Berlin in privaten Zirkeln – sehr zum Leidwesen des Komponisten, der sich beschwerte, dass von Hausmann „dies Adagio durch ein wahnsinnig langsames Tempo künstlich vom Leben zum Tode gebracht“ werde. Die offizielle Uraufführung fand dann erst im Oktober in Liverpool mit einem anderen Cellisten statt.


Paavo Järvi

Leitung am 25. April 2018: Paavo Järvi

stammt aus einer Musikerfamilie und wurde 1962 in Tallinn (Estland) geboren. Er studierte zunächst Schlagzeug und Dirigieren in Tallinn. 1980 übersiedelte er mit seiner Familie in die USA, um dort in Philadelphia und Los Angeles – dort bei Leonard Bernstein – sein Studium fortzusetzen. Gleichzeitig spielte er Schlagzeug in Erkki-Sven Tüürs kammermusikalischem Rockensemble „In Spe“, einer in Estland beliebten Rockgruppe. Ab 1995 widmete er sich mehr dem Dirigieren, zunächst als Orchesterleiter in Stockholm, später in Cincinnati, Bremen und von 2006 bis 2013 als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und seitdem sein „Conductor laureate“. Danach dirigierte er Orchester in Paris und Tokio, ab der Spielzeit 2019/20 wird er neuer Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Tonhalle-Orchesters Zürich.

Mischa Maisky

Violoncello: Mischa Maisky

Der lettische Cellist wurde 1948 in Riga geboren. Seine Ausbildung begann er im Alter von acht Jahren in Riga, wechselte mit 14 nach Leningrad und ein Jahr später in die Meisterklasse von Mstislav Rostropovič in Moskau. 1970 wurde er zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt, vermutlich weil seine Schwester nach Israel ausgewandert war. 1972 wurde er von einem amerikanischen Gönner freigekauft, konnte ausreisen und siedelte sich in Brüssel an. 1973 konnte er sein Montagnana-Cello aus dem Jahr 1720 erwerben, auf dem er bis heute spielt. 1974 wurde er durch Rostropovič’ Vermittlung Meisterschüler bei Grigori Pjatigorski. Danach begann er eine internationale Konzertkarriere als Solist und Kammermusiker, hier vor allem mit Martha Argerich, Radu Lupu und Malcolm Frager. Außerdem bildet er zusammen mit zweien seiner Kinder ein Klaviertrio. Sein Repertoire umfasst die gesamte Cello-Literatur mit Ausnahme der Moderne.


Christoph Eschenbach

Leitung am 4. Februar 2021: Christoph Eschenbach

wurde 1940 in Breslau geboren, verlor seine Familie im Krieg und wurde ab 1946 von der Cousine seiner Mutter, der Pianistin Wallydore Eschenbach, aufgenommen und unterrichtet. Er studierte in Köln und Hamburg Klavier und Dirigieren. 1965 begann er eine internationale Karriere als Pianist, ab 1972 als Dirigent. Ab 1979 war er nacheinander Chefdirigent in Ludwigshafen, Zürich, Houston, Chicago, Hamburg, Philadelphia, Paris und Washington. Seit 2003 ist er musikalischer Leiter der Orchesterakademie des Schleswig-Holstein Musik Festivals. Seit 2016 dirigiert er an der Mailänder Scala. Ab der Saison 2019/20 soll er das Konzerthausorchester in Berlin übernehmen.

Ivan Karizna

Violoncello: Ivan Karizna

der weißrussische Cellist wurde 1992 geboren und erhielt mit fünf Jahren den ersten Cello-Unterricht. Mit sieben wurde er von Vladmir Perlin unterrichtet. Ab 2009 studierte er in Paris bei Jerôme Pernoo, dem schloss sich ein zweijähriges Aufbaustudium an.