Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 26. Februar 2019


Pëtr Il'ič Čajkovskij: 4. Sinfonie

Pëtr Čajkovskij
Pëtr Il'ič Čajkovskij (* 1840 in Votkinsk (Gouv. Vjarka, Ural), † 1893 in St. Petersburg)

Bei seinen Reisen 1876 nach Paris, Neapel und Bayreuth hatte Čajkovskij feststellen können, dass seine kompositorische Arbeit internationale Beachtung fand, sein Klavierkonzert war von Hans von Bülow in Boston uraufgeführt und mehrfach überaus erfolgreich gespielt worden und in der kunstsinnigen Nadežda fon-Mekk hatte er eine Förderin und Brief-Freundin – die Korrespondenz umfasst insgesamt 1200 Briefe, einer persönlichen Begegnung aber gingen beide aus dem Weg – gefunden, die ihm später mit dem Angebot einer Jahresrente von 6000 Rubeln die Existenz als freischaffender Künstler ermöglichte. Trotzdem war das Jahr 1877 ein Krisenjahr. Die romantische Liebesbeziehung zu Iossif Kotek, einem seiner ehemaligen Schüler am Moskauer Konservatorium und Geiger, der als Privatmusiker bei Nadežda fon-Mekk angestellt war, musste geheim gehalten werden. Dies und die fast gleichzeitige Heirat mit der ihm nahezu unbekannten Antonina Iwanowna Miljukowa, wohl gedacht als Tarnung für seine Homosexualität, die sich als Missgriff erwies und sehr schnell wieder zu einer konfliktreichen Trennung, wenn auch nicht Scheidung, führte, warfen ihn aus der Bahn.
 Erst die Flucht zu seiner Schwester nach St. Petersburg und Auslandsaufenthalte in der Schweiz und in Italien ermöglichten ihm wieder konzentrierte Arbeit. Mit Iossif Kotek zusammen arbeitete er die Solo-Partie seines Violinkonzertes aus, im Laufe des Jahres 1878 stellte er seine Oper Evgenij Onegin und die 4. Symphonie fertig. Über den Fortgang der Arbeit an der Symphonie berichtete er Frau fon-Mekk sehr genau und nach der Fertigstellung suchte er ihr, das Programm der Symphonie zu erläutern:
„Sie haben mich gefragt, ob es ein bestimmtes Programm für diese Sinfonie gibt? Normalerweise, wenn mir diese Frage über ein symphonisches Werk gestellt wird, lautet meine Antwort: keine! Dies ist in der Tat eine schwer zu beantwortende Frage. Wie kann man die immateriellen Empfindungen in Worte fassen, die man erlebt, wenn man ein Instrumentalwerk ohne ein bestimmtes Thema schreibt? Dies ist ein rein lyrischer Prozess. Dies ist im Grunde eine Entlastung der Seele in Musik, deren Essenz zu Klängen destilliert ist, auf dieselbe Weise, in der sich ein lyrischer Dichter in Versen ausdrückt. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Musik über viel mächtigere Mittel und eine subtilere Sprache verfügt, mit der Tausende verschiedener Emotionen und Geisteszustände ausgedrückt werden können. In unserer Sinfonie gibt es ein Programm, d.h. es kann in Worten ausgedrückt werden, was es zu sagen versucht, und Ihnen und nur Ihnen kann ich die Bedeutung des Ganzen erklären und der einzelnen Bewegungen. Das kann ich natürlich nur allgemein.“



Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36 (1878)

Orchesterbesetzung: Piccolo, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauke, 3 Schlagzeuger – Streicher (16-14-12-10-8)
Sätze: 1. Andante sostenuto – Moderato con anima – Moderato assai, quasi Andante – Allegro vivo
2. Andantino in modo di canzona
3. Scherzo: Pizzicato ostinato – Allegro
4. Finale: Allegro con fuoco
Spieldauer: ca. 45 Min.
Widmung: „a mon meilleur ami“ (Nadežda fon-Mekk)
Uraufführung: 10. Februar 1878 in Moskau, Leitung: Nikolaj Rubinštejn

Das Anfangsmotiv, unisono vorgetragen von Fagotten und Hörnern, verstand Čajkovskij als Hauptidee, als „Samen der gesamten Sinfonie: Das ist das Schicksal, die schicksalshafte Kraft, die verhindert, dass das Streben nach Glück zum Ziel kommt, die eifersüchtig dafür sorgt, dass Frieden und Glück ungetrübt und vollständig sind.“ Der erste Satz bringt im weiteren Verlauf ein Walzerthema und ein Klarinettensolo, gedeutet als Hoffnungs- und Traumbilder, die das Streben nach Glück repräsentieren, und dem obsessiv wiederkehrenden Schicksalsmotiv, das die „harte Realität“ dagegen setzt.
 Ein lyrisches Solo der Oboe eröffnet den zweiten Satz, dies soll „einen anderen Aspekt der Traurigkeit“ darstellen: Melancholie, Müdigkeit, Erinnerungen, Verlustgefühle, aber auch die Süße des Eintauchens in die Vergangenheit prägen den Satz.
 Ein verhuschtes Thema aus Streicher-Pizzicati bildet den Kern des dritten Satzes, geheimnisvoll und leicht. Wie ein Trio wird ein anderes Thema der Holzbläser dagegen gestellt, das sich nochmals mit einem weiteren Motiv der Blechbläser mischt. Die Reprise der Streicher wird in der Coda von den Bläsern mit deren eigenen Motiven durchmischt. Čajkovskij beschreibt den Satz als „wunderliche Arabesken, vage Bilder, die die Fantasie hinterlässt, die beginnt, merkwürdige Bilder zu malen, seltsam, wild und inkohärent …“
 Über den dritten Satz bricht stürmisch der ein Volksfest schildernde vierte Satz ein. „Wenn Sie in sich selbst keinen Anlass zur Glücksseligkeit finden, blicken Sie auf andere. Gehen Sie unter das Volk“, rät Čajkovskij. Unheil verkündend taucht das Fatum-Motiv des ersten Satzes wieder auf, doch kehrt, davon unbeeindruckt, die Volksfeststimmung wieder. „Freue dich an der Freude anderer – und das Leben ist doch zu ertragen“, schreibt Čajkovskij.


Carlos Miguel Prieto

Leitung: Carlos Miguel Prieto

Er entstammt einer spanisch-französischen Familie aus Mexiko-City. Er studierte an den Universitäten von Princeton und Harvard Dirigieren bei Jorge Mester, Enrique Diemecke, Charles Bruck und Michael Jinbo. Er ist der bedeutendste mexikanische Dirigent seiner Generation. Er hat mit Orchestern aller Kontinente gearbeitet und gewann zahlreiche Preise. Er fördert nachdrücklich die lateinamerikanische Musik und hat über 100 Uraufführungen von Werken mexikanischer und amerikanischer Komponisten dirigiert, von denen viele von ihm in Auftrag gegeben wurden. Eine umfangreiche Diskografie bei Naxos und Sony dokumentiert die Breite seiner Tätigkeit.