Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 22. April 2021


Antonín Dvořák: Symphonie Nr. 7

Antonín Dvořák
Antonín Dvořák (* 1841 in Nelahozeves, Tschechien, † 1904 in Prag)

Nach Beendigung seiner Schulzeit an der Prager Orgelschule 1859 arbeitete Dvořák über elf Jahre als Bratschist in einer privaten Tanzkapelle, die 1865 im Opernorchester des Prager Interimstheaters aufging. Offensichtlich probierte er sich in dieser Zeit systematisch als Komponist. Seine erste für die Öffentlichkeit bestimmte Komposition war die Oper Kral a uliř (Der König und der Köhler) von 1871. Mit dem patriotischen Hymnus Die Erben des Weißen Berges für Chor und Orchester gelang ihm der Durchbruch.
 Dieser Erfolg ermöglichten ihm die Heirat mit seiner ehemaligen Klavierschülerin Anna Čermaková, 1874 wurde das erste ihrer neun Kinder geboren. Damit nahm jener Komplex ‚Kinder und Familie‘ seinen Anfang, der in der Folgezeit ebenso wie das Komponieren selbst, auch die Begeisterung für Lokomotiven und Dampfschiffe, das Taubenhobby, das Interesse am technischen Fortschritt, die Liebe zur Natur und die Religiosität das Persönlichkeitsbild Dvořáks prägte.
 Gleichzeitig setzte eine stilistische Neuorientierung ein. Er zog seine in ihrer Deklamation, Harmonik, Leitmotivik und Orchesterbehandlung an Wagner orientierte Oper Kral a uliř (Der König und der Köhler) zurück und vernichtete einen Großteil seiner Frühwerke. Er löste sich spürbar vom neudeutschen Einfluss, suchte eine neue formale Strenge verbunden mit einer musikalischen Sprache, die zunehmend von Elementen slawischer Folklore geprägt wurde. Diese Folklore hörte Dvořák in Smetanas Musik, er wurde durch Freunde angeregt, wie etwa durch Leoš JanáČek, der ihn auf die ukrainische Dumka aufmerksam machte. Dazu studierte er die Volksliedsammlungen von Karel Jaromír Erben und František Sušil. An diese Wendezeit schloss die sogenannte „slawische Periode“ an, für die der Zeitraum von 1876 bis 1881 angegeben werden kann. In diese Zeit fällt neben den Slawischen Tänzen, der Tschechischen Suite, den Slawischen Rhapsodien und der Symphonie Nr. 6 in D-Dur auch das Violinkonzert a-Moll op. 53.
 Nach einer Aufführung des Stabat Mater im Frühjahr 1883 in London erhielt Dvořák im Sommer von der Philharmonic Society London die Einladung, in der folgenden Konzertsaison ein eigenes Werk zu dirigieren. Kurz danach fragte der Londoner Musikverlag Novello ihn nach einem neuen Chorwerk für das Birmingham-Festival 1885. Im Frühjahr 1884 reiste Dvořák nach London, dirigierte erneut das Stabat Mater und weitere Werke, die begeistert aufgenommen wurden. So erhielt er von der Philharmonic Society den Auftrag für eine neue Symphonie. Diese seine 7. Symphonie komponierte er in der Folge und führte sie im April 1885 in London selbst erstmals auf. Die Begeisterung, die ihm in England entgegenkam und der große Erfolg, blieben für Dvořák prägend. Die Bedeutung dieser Verbindung kann für Dvořáks künstlerischen Weg nicht hoch genug eingeschätzt werden, zumal der sich verschärfende böhmische Nationalitätenkonflikt die Aufnahme seiner Werke im deutschsprachigen Raum ab 1880 deutlich erschwerte.



Symphonie Nr. 7, d-Moll, op.70 (1885)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten (1 auch Piccolo-Flöte), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken – Streicher (8-6-5-4-3)
Sätze: 1. Allegro maestoso
2. Poco adagio
3. Scherzo. Vivace
4. Finale. Allegro
Spieldauer: ca. 38 Min.
Widmung: Philharmonic Society London
Uraufführung: 22. April 1885, St. James Hall, London, Antonín Dvořák – Ltg.

Nachdem Dvořák 1884 die 3. Symphonie seines Freundes Johannes Brahms gehört hatte, machte er sich daran, der Bitte der Philharmonic Society London zu entsprechen und eine neue Symphonie zu komponieren. Die Entstehung seiner letzten, der 6. Symphonie, lag zu diesem Zeitpunkt bereits über vier Jahre zurück; eine Zeit, in der Dvořáks Kompositionsstil erneut reifer und ausgefeilter geworden war. Nach dem beachtlichen Erfolg mit dem Oratorium – sein Stabat mater war ein Triumph in London – wollte er nun dem englischen Publikum auch seine Fähigkeiten als Symphoniker unter Beweis stellen können. Außerdem war er sich des Ansehens bewusst, das ihm zuteilwerden würde, kam doch der Auftrag von der berühmten Institution, für die Beethoven seine Neunte geschrieben hatte. Dvořák machte sich an die Arbeit mit dem Bestreben, ein Werk zu schaffen, das alles übertreffen sollte, was er bis dahin komponiert hatte, eine Symphonie, die „die Welt zu rühren imstande sein muss, und Gott möge es gewähren, dass sie es wird!“
 Mit der Komposition gab er die Verbindung mit der slawischen Folklore auf, vielleicht ausgelöst durch Brahms‘ Bemerkung über seine 6. Symphonie: „Ich stelle mir vor, dass Ihre Symphonie ganz anders sein wird als diese.“ Daneben bemühte er sich, die innere Krise zu überwinden, die ihn in der ersten Hälfte der 1880er Jahre geplagt hatte. Die Identifikation Dvořáks als tschechischer National-Komponist, die ihm von außen, aber auch durch seine Verwendung slawischer Folklore anhing, hatte ihm zunächst Wege eröffnet, nun musste er sehen, dass sie ihm Wege verbaute.
 Diese Entwicklung der Krise spiegelt sich auch im Werk getreu wider: Der gedankliche Bogen des Stücks wächst zunächst aus einer Atmosphäre quälenden Zweifels heraus, führt aber schließlich zu einem Ausdruck fester Entschlossenheit. Das Bestreben, sowohl ein musikalisches als auch ein persönliches Zeugnis abzulegen, wird durch die Auswahl der Tonart angedeutet: Mozart schrieb sein Requiem, Beethoven seine neunte Symphonie und Brahms sein erstes Klavierkonzert in d-Moll. Die intellektuelle Strenge des Werkes spiegelt sich auch in der nüchternen Instrumentation wider. Dvořák verwendet hier für sein Orchester nur die klassische Beethoven-Besetzung, während die Blechbläser meist nur dazu dienen, den Klang an dynamischen Höhepunkten zu verdichten. Die Konzeption des Gesamtwerks offenbart einen bemerkenswerten thematischen Zusammenhalt, stilistische Geschlossenheit und ungewöhnliche Kompaktheit in der viersätzigen Form. Interessant ist die Verwandtschaft dieser Symphonie mit der Hussiten-Ouvertüre des Komponisten. So wie beide Werke aus einer ähnlichen Anfangsstimmung erwachsen, sind auch in ihrem thematischen Material klangliche Verwandtschaften zu erkennen.
 Der Charakter des ersten Satzes in Sonatenform wird vor allem durch die Disposition des Hauptthemas bestimmt. Seine düstere Einleitung über einem tremolierende D erinnert an die sprichwörtliche „Ruhe vor dem Sturm“. Darüber baut sich eine düstere Melodie auf. In seinem zweiten Teil erhebt sich das Thema plötzlich und endet überraschend in einem verminderten Septakkord. Das zweite Thema ist versöhnlicher, doch im Laufe der Entwicklung macht sich auch hier eine gewisse Düsternis breit. Die Durchführung im ersten Satz ist eine der dramatischsten in Dvořáks gesamtem Schaffen, und ihre Wirkung ist in der Coda wieder spürbar, wenn nicht sogar stärker. Die Reprise wechselt zunächst nach D-Dur, bevor das Ende zurück nach d-Moll mit einer phantasievollen Auflösung aus der Dramatik der Coda, die sich zum Höhepunkt hin steigert, plötzlich zurücktritt, und resigniert in demselben Geist, in dem der Satz begann, verebbt. Das Dilemma wurde nicht gelöst, die Zweifel bestehen und damit bleibt eine Fülle von Ideen für die anderen Sätze der Symphonie offen.
 Der zweite Satz, Poco adagio, in F-Dur führt eine gewisse Ruhe ein, obwohl er nicht als unbeschwerte Idylle bezeichnet werden kann. Immer wieder durchbrechen intensive Kraftausbrüche die weihevolle von den Holzbläsern dominierte Stimmung des Hauptthemas. Am markantesten hierbei ist eine von der Flöte initiierte Phrase, welche von den Streichern mit zunächst einem, anschließend zwei Tuttischlägen beantwortet wird. Kurz darauf leitet die Trompete eine mitreißende, drängende Bewegung des ganzen Orchesters ein, welche eine enorme Kraftentfaltung darstellt. Der Satz endet schließlich wieder in ruhiger und friedlicher Stimmung, wiederum von den Holzbläsern erzeugt. Die Musik an dieser Stelle wird manchmal als ein Gebet für den Seelenfrieden gesehen. Nach der Uraufführung kürzte Dvořák den Satz um 40 Takte, worüber er in einem Brief an seinen Verleger Simrock berichtete: „Das Adagio ist jetzt viel kürzer und kompakter, und ich bin jetzt überzeugt, dass es keine einzige überflüssige Note in dem Werk gibt.“
 Der dritte Satz, das Scherzo, ist in A-B-A-Form komponiert und ist ein typisches Charakterstück. Entsprechend der Gesamtstimmung der Symphonie enthält er eine Reihe von düsteren Akzenten. Der Hauptteil ist um ein hochrhythmisches markant-tänzerisches Hauptthema herum aufgebaut, das dem beherrschenden zweigliedrigen 6/8-Takten immer wieder hemiolische 3/4 entgegensetzt. In der Wiederkehr des A-Teils wird das Thema mit einer Gegenmelodie kontrastiert. Gegen Ende des A-Teils fügen sich nach und nach immer dramatischere Elemente ein, die sich schließlich in einer Art wildem, dunklem Strudel zusammenbrausen. Nur das kurze Trio scheint etwas Ruhe zu versprechen.
 Der vierte Satz ist eine Sonatenform mit verkürzter Reprise. Alle thematischen Auseinandersetzungen der bisherigen Sätze werden zunächst in einer Einleitung zusammengefasst. Nach einem rhythmischen Unisono-Streicher-Motiv folgt das drängende und immer optimistisch strahlendere Hauptthema, das mit seinem eröffnenden aufsteigenden Oktavsprung als Bild eines heroischen Willensansturms charakterisiert werden kann. Das zweite Thema steht dann konsequent in einer Dur-Tonart – G-Dur – und zeigt triumphale Züge. Die Durchführung besteht aus einer kämpferischen Verarbeitung des Hauptthemas, doch kommt auch hier immer wieder die düstere Grundstimmung durch. Dies mündet in die verkürzte Reprise und in eine dramatische Coda, die mit ihrem entschlossenen, befreiten Ausdruck das Werk zu einem souveränen Abschluss bringt. Mit diesem Finale erreicht Dvořák eine neue Intensität der musikalischen Aussage und Qualität der thematischen Verarbeitung.
 Dvořák vollendete die Symphonie am 17. März 1885 und dirigierte am 22. April desselben Jahres, während seines dritten England-Besuchs, die Uraufführung in der Londoner St. James's Hall. Das Werk wurde begeistert aufgenommen, was Dvořák zwei Tage später in einem Brief an seinen Freund Vaclav Juda Novotny beschrieb: „Mein lieber Freund! Bevor Du diesen Brief erhältst, wirst Du wahrscheinlich schon vom Ergebnis und von meinem Empfang hier in London gehört haben. Die Symphonie fand großen Anklang und das Publikum hat mich auf die pompöseste Art und Weise anerkannt und begrüßt. Nach jedem Satz gab es ein Pandämonium, mitreißend bis zum Schluss, eigentlich genau wie zu Hause. Aber das ist, wie immer, eine Nebensache für mich. Wichtig ist, dass die Symphonie auch mit nur zwei Proben hervorragend lief. Es war so schade, dass Sie nicht Zeuge einer so wunderbaren Aufführung werden konnten!“ Eine Reihe großer englischer Zeitungen – The Times, Daily News, Sunday Times, Morning Post, Daily Telegraph, Athenaeum usw. – druckten ausführliche Rezensionen, die größtenteils überschwängliches Lob enthielten. Ein Musikkritiker der Londoner Times war jedoch weniger enthusiastisch, demzufolge „das gesamte Werk gris-en-gris gemalt ist: es fehlt ihm die Süße der Melodie und die Leichtigkeit des Stils: es ist düster ohne das Pathos der Traurigkeit, das erhebender ist als die Freude selbst“. Am 29. November desselben Jahres wurde die Symphonie zum ersten Mal im Prager Rudolfinum aufgeführt, wiederum unter der Leitung von Dvořák selbst.
 Auch in deutschen Konzerthäusern wurde die Symphonie aufgeführt, dank der Bemühungen zweier führender Dirigenten ihrer Zeit: Hans Richter und Hans von Bülow. Richter dirigierte die Symphonie zum ersten Mal am 16. Januar 1887 mit den Wiener Philharmonikern, doch die Aufnahme des Werkes war eher lauwarm. Richter, ein großer Bewunderer von Dvořáks Musik, war darüber selbst überrascht und äußerte dies in einem Brief an den Komponisten: „Ihr Scherzo capriccioso kam in Wien gut an; leider wurde die Symphonie nicht so sehr geschätzt, wie ich gehofft oder erwartet hatte, angesichts der tadellosen Leistung der Philharmoniker: unser Philharmoniker-Publikum ist oft, nun ja, eigenartig, um es gelinde auszudrücken! Aber das wird mich nicht ablenken.“ Nichtsdestotrotz war die Symphonie bei zwei Aufführungen in Berlin unter Hans von Bülow ein Triumph. Dvořák war bei beiden Konzerten (27. und 28. Oktober 1889) anwesend und, überglücklich über die Aufnahme seines Werkes, klebte er ein Foto von Bülow auf die Titelseite der autographen Partitur und fügte die Notiz hinzu: „Hurra! Ihr habt dieses Werk zum Leben erweckt!“ Dass das Werk erfolgreich nach Übersee reiste, war zu einem großen Teil dem gefeierten ungarisch-deutschen Dirigenten Arthur Nikisch zu verdanken, der die Symphonie während seiner Tournee durch die Vereinigten Staaten 1891 mehrfach aufführte.
 Heute zählt man die 7. Symphonie zu den herausragenden Meisterwerken Dvořáks in Symphonik und Gesamtwerk, und sie gehört somit zum Standardrepertoire der großen Orchester.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.