Einführung zum Livestream-Konzert des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 28. Januar 2021


Joseph Martin Kraus: Sinfonie c-Moll, VB 142

Joseph Martin Kraus
Joseph Martin Kraus (* 1756 in Miltenberg; † 1792 in Stockholm)

Der aus dem Odenwald stammende Kraus kam als zwölfjähriger an das Jesuitengymnasium in Mannheim, wo er seine erste musikalische Ausbildung erhielt. Auf Wunsch des Vaters studierte Jura in Mainz und Erfurt, begann aber bereits während dieses Studiums zu komponieren. Er schloss sich dem Göttinger Hainbund an, eine zum Sturm und Drang gehörige literarische Gruppe. Kontakte zu einem Kommilitonen bewogen ihn, 1778 nach Schweden zu übersiedeln und sich auf die Musik zu konzentrieren. Nach drei sehr schwierigen Jahren, in denen er mehrfach Unterstützung der Eltern brauchte, gelang ihm 1781 mit der Uraufführung seiner Oper Proserpin der Durchbruch. Er wurde vom schwedischen König Gustav III. zum zweiten Hofkapellmeister ernannt, erhielt ein Gehalt und wurde alsbald auf eine vierjährige Reise durch ganz Europa geschickt, was ihm einerseits die Begegnung mit zahlreichen Komponisten, Dirigenten und Musikern und das Studium der ästhetischen Richtungen der Zeit ermöglichte, andererseits konnte er an verschiedensten Orten seine Werke aufführen und veröffentlichen. In Wien komponierte er den Hauptteil seiner kammermusikalischen und symphonischen Werke, so auch die c-Moll Symphonie.
 Nach seiner Rückkehr in Schweden wurde er 1787 zum „Ordinarie Capellmästare“ und zum Direktor der Königlichen Musikakademie ernannt. Neben der Komposition neuer Werke gehörte zu seinen Aufgaben die Neuorganisation des schwedischen Musik- und Theaterwesens.
 1792 wurde auf König Gustav III. ein Attentat verübt, er starb wenige Tage später. Kraus komponierte eine umfangreiche Symphonie fun่bre und eine Trauerkantate, die anlässlich der Trauerfeierlichkeiten für Gustav III. aufgeführt wurden.
 Kraus soll so erschüttert vom Tod „seines“ Königs gewesen sein, dass er sich – schon vorher schwer krank – nicht mehr erholte. 1792 starb er in Stockholm an der Tuberkulose, an der er bereits seit seiner Studentenzeit gelitten hatte.
 Die Bezeichnung von Joseph Martin Kraus als (wahlweise) „Odenwälder oder Schwedischer Mozart“ täuscht zumindest in Hinsicht auf die Würdigung seiner Musik durch die Nachwelt: Anders als die seines Altersgenossen Mozart fand sie außerhalb Schwedens keine breite Würdigung, nur wenige Kompositionen erschienen zu seinen Lebzeiten oder kurz danach im Druck. Die c-Moll-Symphonie nimmt in Kraus' Schaffen insofern eine Sonderstellung ein, als sie zu den wenigen Werken aus seiner Feder zählt, die man Ende des 18. Jahrhunderts noch kannte und die bis heute gelegentlich gespielt werden. Dazu beigetragen hat sicher das Urteil Haydns: „Ich besitze von ihm eine seiner Sinfonien, die ich zur Erinnerung eines der größten Genies, die ich gekannt habe, aufbewahre. Ich habe von ihm nur dieses einzige Werk, weiß aber, dass er noch anderes Vortreffliches geschrieben hat.“



Sinfonie c-Moll, VB 142 (1783)

Orchesterbesetzung: 2 Oboen, 1 Fagott – 4 Hörner – Streicher (8-6-4-3-2, Bratschen teilweise geteilt)
Sätze: 1. Larghetto – Allegro, 2. Andante, 3. Allegro assai
Spieldauer: ca. 20 Min.

Kraus komponierte seine c-Moll-Symphonie während seines Wien-Aufenthaltes 1783 wahrscheinlich für eine Aufführung am Esterházy'schen Hof. Eine frühere Symphonie-Komposition in cis-Moll überarbeitete er hier unter dem Eindruck und dem Einfluss Joseph Haydns. Ein weiterer Einfluss lässt sich sicher in der ihm eigenen Affinität für die Oper und hier speziell der Kompositionen von Christoph Willibald Gluck und den Komponisten der Mannheimer Schule sehen. Auf beeindruckende Weise entstand so ein Werk, das einen ausgeprägten Personalstil mit aktuellen Strömungen des zeitgenössischen symphonischen Komponierens verband, ein bedeutender Beitrage zum musikalischen Sturm und Drang. Was Kraus von seinen österreichischen Komponistenkollegen unterschied, war eine spürbare Eigenwilligkeit und Freizügigkeit in der Behandlung der musikalischen Form. Klar umrissene, erkennbare Strukturen und ausgewogene Proportionen – in der Wiener Klassik geboten – waren nicht sein primäres Anliegen und sind der eindringlichen Darstellung von Dramatik und Leidenschaft oft untergeordnet.
„Der Hauptzug in Kraus' Musik war Energie“, resümierte Carl Stridsberg treffend in seiner Gedächtnisrede anlässlich eines Konzertes zu Ehren von Kraus 1798 in Stockholm. „Die Tiefe, das Düstere, das Nervenvolle war eigentlich bei Kraus vorherrschend, worin er seine volle Meisterstärke zeigte.“
 Wenn auch die Umarbeitung der früheren cis-Moll- zur späteren c-Moll-Symphonie eine Annäherung an den Stil der Wiener Klassik sowie gewisse Zugeständnisse etwa an die Deutlichkeit in der Realisierung der Sonatensatzform im ersten Satz erkennen lässt, so entzieht sich dieses Werk doch einfachen formalen Zuordnungen. Der eröffnende Sonatensatz weist zwar eine Art gesangliches und regulär periodisiertes Seitenthema auf, doch bleibt es Episode. Auch die Konturen von Exposition, sehr kurzer Durchführung und Reprise treten wenig ohrenfällig hervor. Wörtliche Wiederholungen werden weitgehend vermieden, so dass auch das Hauptthema in der Reprise in veränderter Gestalt erscheint.
 Der langsame Mittelsatz lässt sich als eine frei gebaute Variationenform verstehen, das in der Wiener Klassik unentbehrliche Menuett entfällt gänzlich, und auch das Finale gibt sich eigensinnig. Wie im ersten Satz ist eine Sonatenform erkennbar, doch ein Seitensatz mit eigenständigem thematischem Material ist nicht auszumachen, und die Reprise weicht noch stärker von der Exposition ab als im eröffnenden Allegro. Aber all dies ist unwesentlich, lässt man sich auf die Energie, die Dynamik und das Feuer dieser Symphonie ein, die an kompositorischen Mitteln alles aufbietet, was ein echtes Sturm- und Drang-Werk ausmacht: schroffe Kontraste zwischen Forte und Piano, schneidende Akzente auf unbetonten Taktzeiten, leidenschaftliche Tremoli, wuchtige Unisoni im vollen Orchestersatz und eine unerbittlich pulsierende Motorik, vor allem im Finale. Nur das Andante, das seine besondere Färbung durch das solistisch geführte und am thematischen Geschehen wesentlich beteiligte Fagott erhält, und die langsame Einleitung zum ersten Satz eröffnen eine ruhige und kontemplative Gegenwelt. Geradezu barock mutet die fast 50 Takte lange Introduktion zu Beginn der Symphonie an: Ein dreistimmiger Kontrapunkt im verhaltenen Piano fließt selbstvergessen vor sich hin, bis in Takt 24 ein Forte-Einbruch mit massiven Tonrepetitionen und expressiven Synkopen in den Streichern bereits ankündigt, dass die Reise mit dem Allegro-Hauptsatz in eine andere Richtung gehen wird.


Andrea Marcon

Leitung: Andrea Marcon

Italienischer Organist, Cembalist und Dirigent. Andrea Marcon begann seine musikalische Ausbildung im Alter von sieben Jahren. Er studierte Orgel und Cembalo in Castelfranco Veneto und an der Schola Cantorum Basiliensis. Er widmete sich vor allem der Aufführung barocker Musik. Mit dem Venice Baroque Orchestra führte er zahlreiche barocke Opern auf. 2004 dirigierte er Händels Ariodante und im Februar 2010 richtete er Vivaldis Oper Orlando furioso neu ein und dirigierte beide in der Frankfurter Oper. Seit 1997 unterrichtet Andrea Marcon an der Schola Cantorum Basiliensis Cembalo und wirkt daneben als Gastdozent am Sweelinck Conservatorium in Amsterdam.