Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 26. September 2018


György Ligeti: Athmosphères

György Ligeti
György Ligeti (* 1923 in Diciosânmărtin, rumän. Siebenbürgen, † 2006 in Wien)

Die jüdisch links-intellektuelle Familie lebte im siebenbürgischen Cluj. Ligeti erhielt ab 1936 Klavierunterricht. Nach dem Abitur 1941 wollte er Physik und Mathematik studieren, wurde aber aufgrund seiner jüdischen Herkunft abgewiesen und begann deshalb eine musikalische Ausbildung am Konservatorium in Cluj. 1944 wurde er zum Arbeitsdienst in der ungarischen Armee verpflichtet, geriet in sowjetische Gefangenschaft, konnte aber bei einem Bombenangriff auf das Kriegsgefangenenlager fliehen. Sein Vater wurde im KZ Bergen-Belsen, sein jüngerer Bruder Gábor im KZ Mauthausen ermordet, seine Mutter überlebte das KZ Auschwitz-Birkenau.
 Nach dem Krieg nahm er seine Studien in Budapest wieder auf und arbeitete dann als Musikethnologe über rumänische Volksmusik und unterrichtete Musiktheorie.
 Nach dem Ende des ungarischen Volksaufstandes 1956 konnte er nach Wien fliehen, lernte dort den Musikforscher und Philosophen Harald Kaufmann kennen. Die beiden formulierten in dem Aufsatz „Wandlungen der musikalischen Form“ eine Kritik an der Entwicklung der seriellen Musik, der 1960 veröffentlicht wurde. Kaufmann verfasste zwischen 1950 und 1960 immer wieder Analysen der Werke Ligetis.
 1957-58 arbeitete Ligeti im Studio für elektronische Musik des WDR in Köln und begegnete dort wichtigen Vertretern der musikalischen Avantgarde, etwa Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig. Die technischen Möglichkeiten inspirierten Ligeti, auch wenn er fast keine elektronischen Kompositionen schuf, er setzte vielmehr Verfahren der elektronischen Klangsynthese in der Instrumental- und Vokalkomposition ein. Dazu gehören etwa die Behandlung von Hüllkurven, Clusterfüllungen und Schnitt-Technik.
 Mit der Aufführung des Orchesterwerks Athmosphères in Donaueschingen wurde er mit einem Schlag bekannt. Er lebte bis 1972 in Berlin, danach als „Composer in Residence“ an der Stanford University in Kalifornien. Von 1973 bis 1989 war er Kompositions-Professor in Hamburg. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Wien.
 Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Stalinismus wurde Ligeti zu einem engagierten und eloquenten Gegner von Ideologien und Diktaturen jeglicher Couleur. Er war überaus breit interessiert, beschäftigte sich neben der Kunst- und Volksmusik – und hier vor allem der außereuropäischen – mit Literatur, Malerei, Architektur und Mathematik. Kompositorisch hat Ligeti nie aufgehört, neue Wege zu suchen.



Athmosphères für großes Orchester (1961)

Orchesterbesetzung: 4 Flöten (alle auch Piccolo), 4 Oboen, 4 Klarinetten (auch kleine Klarinette in Es), 3 Fagotte, Kontrafagott – 6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, Tuba – Klavier (im Saitenraum gespielt von 2 Schlagzeugern mit Jazzbesen, Bürsten und Tüchern) – Streicher (14-14-10-10-8, alle Streicher in Einzelstimmen)
Spieldauer: ca. 9 Min.
Widmung: In memoriam Mátyás Seiber.
Kompositionsauftrag: Südwestfunk Baden-Baden 1961
Uraufführung: 22. Oktober 1961, Donaueschingen. Sinfonieorchester des Südwestfunks, Leitung: Hans Rosbaud.

Athmosphères gilt als Schlüsselwerk der neuen Musik. Im Programmheft der Donaueschinger Musiktage von 1961 schreibt Ligeti dazu: „In Atmosphères versuchte ich, das strukturelle kompositorische Denken, das das motivisch-thematisch ablöste, zu überwinden und dadurch eine neue Formvorstellung zu verwirklichen. In dieser musikalischen Form gibt es keine Ereignisse, sondern nur Zustände; keine Konturen und Gestalten, sondern nur den unbevölkerten, imaginären musikalischen Raum; und die Klangfarben, die eigentlichen Träger der Form, werden – von den musikalischen Gestalten gelöst – zu Eigenwerten.“
 Das Werk verschmilzt die große Anzahl von 87 Einzelstimmen zu einem großen, kaum trennbaren Gesamtklang, der durch die Mikropolyphonie, also die Bewegung der einzelnen Stimmen innerhalb eines großen Clusters, quasi oszillierend bewegt ist und sich dadurch ständig wandelt. Das Stück ist in einem 4/4-Takt notiert, doch dieser wird als Takt nicht wirksam, sondern dient nur der Synchronisation der einzelnen Orchesterstimmen.
 Außer der internen Bewegung, deren Struktur sich in Tempo und Figur unterscheidet, verwendet Ligeti den Umfang des Clusters, die Lautstärke des Gesamtklangs, aber auch der einzelnen Instrumente, sowie die Anordnung der einzelnen Instrumente innerhalb des Clusters, um Varianz zu erzeugen. Dazu gibt es eine definierte Ablauf-Form, die Abwechslung und Unterschiede möglich macht.
 Die folgende Grafik stellt diese Form dar: Der Ablauf des Stückes ist von links nach rechts zu lesen, von oben nach unten sind die jeweils gespielten Tonhöhen zu erkennen. Klangfarbe ist hier nicht zu erkennen. Der Lautstärkenverlauf ist in der Grafik unten zu verfolgen:























 Bei der Uraufführung wurde vom Publikum eine sofortige Wiederholung gefordert. Die Verwendung der Komposition in Stanley Kubricks Film „2001: Odyssee im Weltraum“ machte das Werk einem noch wesentlich größeren Publikum bekannt und populär. Ligeti selbst hat das Stück mit der Weltraum-Thematik nicht in Verbindung gebracht.
 Harald Kaufmann hat aufgedeckt, dass Ligeti mit der Widmung an Mátyás Seiber ganz untergründig die Struktur einer Totenmesse verarbeitet habe. Er macht die Struktur einer Requiemsequenz an Form- und Materialaspekten fest, so sei z.B. der Fall von den höchsten Höhen am Ende des F-Teil (siehe Grafik oben) in die Tiefe bei G die Darstellung des Höllensturzes. Andere Verbindungen zu der Requiemform sind sehr viel subtiler und wohl kaum hörbar.


Christoph Eschenbach

Leitung: Christoph Eschenbach

wurde 1940 in Breslau geboren, verlor seine Familie im Krieg und wurde ab 1946 von der Cousine seiner Mutter, der Pianistin Wallydore Eschenbach, aufgenommen und unterrichtet. Er studierte in Köln und Hamburg Klavier und Dirigieren. 1965 begann er eine internationale Karriere als Pianist, ab 1972 als Dirigent. Ab 1979 war er nacheinander Chefdirigent in Ludwigshafen, Zürich, Houston, Chicago, Hamburg, Philadelphia, Paris und Washington. Seit 2003 ist er musikalischer Leiter der Orchesterakademie des Schleswig-Holstein Musik Festivals. Seit 2016 dirigiert er an der Mailänder Scala. Ab der Saison 2019/20 soll er das Konzerthausorchester in Berlin übernehmen.