Einführung zu den Konzerten des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 9. und 10. Dezember 2021


Gustav Mahler: 1. Symphonie D-Dur

Gustav Mahler
Gustav Mahler (* 1860 in Kališt, Böhmen; † 1911 in Wien)

Mahler studierte in Wien an der Universität Geschichte, Philosophie und Musikgeschichte, am Konservatorium bei Robert Fuchs, Richard Epstein und Franz Krenn und außerdem privat bei Anton Bruckner. 1880 erhielt er seinen ersten Kapellmeisterposten in Bad Hall, Oberösterreich, 1881 war er Dirigent in Ljubljana, 1882 in Olomouc (Olmütz), 1883 in Wien und Kassel und kam 1885 als Zweiter Kapellmeister an das deutsche Landestheater in Prag unter Anton Seidl. Er vertrat 1886 sechs Monate lang Arthur Nikisch an der Leipziger Oper, wurde 1888 Direktor der Oper in Budapest und 1891 Erster Kapellmeister am Stadttheater in Hamburg. 1897 ging er als Kapellmeister nach Wien, wo er bald darauf Hofoperndirektor wurde. Dort betrieb er die Reform der Opernbühne. Seiner Vorstellung nach sollte die Oper ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Schauspielkunst, Regie, Bühnenbild und Licht sein und diese Bestandteile sollten gleichberechtigt nebeneinander zu je eigener, hoher Qualität gebracht werden. Wegen seiner unduldsamen Forderung nach Werktreue und seiner Strenge gegen Sängereitelkeiten war er ebenso geachtet wie gefürchtet. Seine Inszenierungen in Wien wurden zu historischen Ereignissen der Operngeschichte. 1907 beendete eine antisemitische Intrige gegen ihn dieses für die Wiener Oper richtungweisende und reorganisatorische Wirken.
 Mahlers frühe Kompositionen, zum Teil Entwürfe, Skizzen, Fragmente, sind zum Großteil vernichtet oder zumindest verschollen. Sein Werk setzt mit der Balladenkantate Das klagende Lied (1887-90) ein. Mit dem Beginn der Wiener Zeit setzte auch die Serie der Symphonie-Kompositionen ein. War er vorher überwiegend als Komponist von Klavier- und Orchesterliedern in Erscheinung getreten, folgten jetzt im Schnitt alle zwei Jahre eine groß besetzte Symphonie. Rechnet man Das Lied von der Erde (1908/09) – das er selbst nicht zu der Reihe der Symphonien zählte – und die unvollendete Symphonie Fis-Dur (1910) hinzu, schuf er insgesamt 11 Symphonien. Seine Kompositionsarbeit verfolgte er überwiegend in den Sommerferien.
 Im Jahr 1902 heiratete er Alma Maria Schindler. Nach dem Abbruch seiner Wiener Tätigkeit folgte er einem Ruf an die Metropolitan Opera in New York als Dirigent, übernahm 1909 die Leitung der neugegründeten New Yorker Philharmonic Society, erkrankte aber nach zwei Jahren an einer Endokarditis und kehrte nach Wien zurück, wo er 1911 starb.
 Gustav Mahler war der erste Expressionist, der die Grenzen des bis dahin Gültigen ungeheuer geweitet hat. Er ließ seine Zeitgenossen, auch wenn sie um eine beträchtliche Anzahl Jahre jünger waren, weit hinter sich und schuf einen neuen symphonischen Typus. Aber mit seinem Tod verschwand seine Musik aus den Konzertsälen. Die politische Entwicklung in Mitteleuropa hat auch seinen Namen und sein Andenken verfemt und alle, die dafür eingetreten sind. Dies änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg.



1. Symphonie D-Dur

Orchesterbesetzung: 4 Flöten (eine auch Piccolo), 4 Oboen (eine auch Englischhorn), 4 Klarinetten (1. u. 2. auch C-Klarinette, 3. auch C-, Es- und Bassklarinette, 4. auch Es-Klarinette), 3 Fagotte (eines auch Kontrafagott) – 7 Hörner, 5 Trompeten, 4 Posaunen, Tuba – 2 Pauken, 3 Schlagzeuge, Harfe – Streicher
Sätze: 1. Langsam. Schleppend. Wie ein Naturlaut – Im Anfang sehr gemächlich
2. Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell
3. Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen
4. Stürmisch bewegt
Spieldauer: ca. 55-60 Min.
Uraufführung: 20. November 1889 in Budapest, Gustav Mahler – Ltg.

Die Symphonie entstand nach Vorarbeiten seit 1884 von Januar bis März 1888 in Leipzig. Mahler war sich zunächst unschlüssig, ob er das Werk als symphonische Dichtung oder als Symphonie konzipieren sollte. Die ursprünglich vorgesehene Großgliederung der Sätze in zwei Teile fiel im Laufe der Zeit ebenso weg wie ein ursprünglich an zweiter Stelle stehender zusätzlicher Satz. Dieser wird unter der Bezeichnung Blumine gelegentlich noch aufgeführt. Bei den ersten Aufführungen versuchte Mahler auch, dem Publikum den Zugang zu dem Werk durch Werk- und Satztitel zu erleichtern. Der zeitweise beigegebene, aber später zurückgezogene Titel „Der Titan“ bezog sich auf den gleichnamigen Roman Jean Pauls. 1889 führte Mahler das Werk in Budapest als symphonische Dichtung in zwei Teilen auf. Zur Hamburger Aufführung 1893 verfasste Mahler sogar ein vollständig ausgearbeitetes Programm, auf dessen Beigabe er später verzichtete, „weil ich es erlebt habe, auf welch falsche Wege hiedurch das Publikum geriet“. Erst mit der Drucklegung im Jahr 1899 erhielt die Symphonie ihre bis heute bekannte viersätzige Form.
 Der erste Satz hat die Form eines stark variierten Sonatenhauptsatzes. Die groß angelegte Einleitung bildet mit einem Orgelpunkt auf A die Grundlage, auf der verschiedene „Naturlaute“ als fragmenthafte Motivfetzen auftauchen. Dabei fungiert die markant abfallende Quarte als Urmotiv für das gesamte Werk. Nach dieser Einleitung setzt ebenfalls verhalten die Exposition ein, die nur ein Thema bringt, das Mahler seinem Lied Ging heut morgen übers Feld aus dem Zyklus der Lieder eines fahrenden Gesellen entlehnt hat. Der Gesang durchwandert im piano verschiedene Orchesterstimmen. Abgewandelt findet sich dieses Thema im Finalsatz wieder. Die Durchführung verarbeitet eher Motive der Einleitung als der Exposition. Der Kontrast zwischen langsamer Einleitung und bewegtem Hauptthema steht hierbei im Mittelpunkt. Mit den fragmenthaften Naturlauten der Einleitung erscheint die verkürzte Reprise. Am Ende erscheint noch nicht ausformuliert das Hauptthema des Finalsatzes. Mit Motiven der Einleitung setzt eine jubelnde Coda ein.

 Den zweiten Satz bildet ein derber Ländler, welcher Elemente österreichischer Volksmusik aufgreift. Der Satz ist klar strukturiert und gibt sich eher konventionell. Er beginnt mit dem Urmotiv der fallenden Quarte in der Begleitung der tiefen Streicher. Das Ländlerthema nimmt hingegen Elemente des Hauptthemas aus dem ersten Satz auf. Das Trio bietet im Kontrast zum Ländler lyrisches Material. Es beginnt mit einem Hornmotiv, woraufhin sich eine schwärmerische Ländlermelodie in den Streichern entwickelt. Diese wird im zweiten Teil des Trios von einem kantablen Walzer der Celli abgelöst. Gegen Ende dieses Trios findet sich thematisches Material aus dem ersten Satz. Der Satz schließt mit einer Wiederholung des Ländlers, in knapperer Form und etwas größerer Orchestrierung.

 Der dritte Satz in d-Moll beginnt mit einer zum Trauermarsch verfremdeten Bearbeitung des Volkslied-Kanons Frère Jacques. Mahler nimmt hier die in Teilen Österreichs gesungene Mollvariante des Kanons auf. Das musikalische Geschehen steigert sich von Beginn des Satzes an langsam und wirkt wie ein heranziehender, aber grotesker, ironischer Trauerzug. Ein unvermittelt auftauchender Stimmungswechsel wird durch von Mahler verwendete klezmerartige Motive aus der jüdischen Musikwelt im ersten Trio herbeigeführt. Der lyrische Mittelteil in Form des zweiten Trios zitiert die Lindenbaum-Passage aus Mahlers eigenem Lied Die zwei blauen Augen von meinem Schatz aus den Liedern eines fahrenden Gesellen. Der Traum bleibt nur eine kurze Episode, und mit einer abrupten Rückung nach es-Moll kehrt der Trauermarsch zurück. Dieser verklingt schließlich im unheimlich wirkenden pizzicato der Bässe in pianissimo.

 Auch dem Finalsatz liegt eine stark variierte Sonatenhauptsatzform zu Grunde. Während im Kopfsatz das „Hinausgehen“ in die Natur und im weitesten Sinne das Werden der Musik thematisiert wird, beschreibt der Finalsatz eher das Gegenteil. Die Motive klingen zunächst gehetzt und aggressiv, immer wieder türmt sich die Musik auf und wirkt ungestüm und chaotisch. Der Satz beginnt mit einem wild herausfahrenden Motiv des ganzen Orchesters in höchster Hektik und Dynamik. Hieraus entwickelt sich das Haupt-, das Heldenthema in f-Moll, welches bereits im ersten Satz angedeutet wurde. Erst nach einiger Zeit beruhigt sich das Geschehen, und ein lyrisches und höchst inniges, entfernt an Bruckner erinnerndes zweites Thema in Des-Dur etabliert sich. Die Durchführung beginnt mit der Wiederkehr des Hauptthemas, welches mittels hektischen und fragmenthaften Motiven bearbeitet wird. Erstmals erklingt nun das Hauptthema, noch äußerst verhalten in pianissimo nach Dur gewendet. Eine Steigerungswelle setzt ein, um das Thema jubelnd in C-Dur auszusingen. Hierbei taucht auch die choralartige Erweiterung des Themas erstmals vollständig auf. Die Reprise beginnt mit dem lyrischen zweiten Thema in veränderter Form. Anschließend erklingt das Hauptthema in seiner Moll-Gestalt. In einer großen Steigerungswelle wird der befreiende letzte Durchbruch nach D-Dur erreicht. Der hymnenartig jubelnde Tuttigesang beendet die Symphonie.


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Ab 2021 wird er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.