Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 17. Oktober 2018


Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6

Gustav Mahler
Gustav Mahler (* 1860 in Kalište, Böhmen; † 1911 in Wien)

Nach seinem Kompositionsstudium in Wien waren Mahlers Versuche, Kompositionen zur Aufführung zu bringen, zunächst erfolglos, so dass er sich auf das Dirigieren konzentrierte. Als Dirigent und vor allem als Opernkapellmeister machte er dann eine steile Karriere. Nach mehreren kurzen Engagements war er ab 1891 in Hamburg, 1897 bis 1907 in Wien, danach bis zu seinem Tod in New York. Mit diesen Engagements hatte er die Möglichkeit, seine Kompositionen selbst aufzuführen. So entwickelte er sich zum wichtigen spätromantischen Symphoniker. Ab 1901 nutzte er sein Haus in Maiernigg am Wörthersee mit nahegelegenem „Komponierhäuschen“ in der Zeit der Spielzeitpause, um hier konzentriert zu komponieren. Als er im September 1904 nach Wien zurückgekehrte, berichtete er einem Freund: „Meine VI. ist fertig. – Ich auch!“ Pointierter und lakonischer lassen sich die schöpferische Produktion eines Sommers und die daraus resultierende Erschöpfung wohl kaum zusammenfassen. Umrahmt von zwei „Blitzausflügen in die Dolomiten“ entwarf er in der Abgeschiedenheit innerhalb weniger Wochen den monumentalen Finalsatz der Sechsten Symphonie. Die große Entkräftung des 44-Jährigen wurde dabei vermutlich nicht nur durch das ungeheure Arbeitspensum verursacht, sondern auch durch die Komplexität und den Gehalt des im vorangegangenen Sommer begonnen Werks.



Symphonie Nr. 6, a-Moll (1905)

Orchesterbesetzung: Piccoloflöte, vier Flöten (3. und 4. auch Piccoloflöte), vier Oboen (3. und 4. auch Englischhorn), Englischhorn, Klarinette in D und Es, drei Klarinetten in A und B, Bassklarinette, vier Fagotte, Kontrafagott – acht Hörner, sechs Trompeten, drei Posaunen, Bassposaune, Basstuba – Schlagzeug (fünf Spieler: Pauken, Glockenspiel, Herdenglocken, tiefen Glocken, Rute und Hammer, Xylophon), zwei Harfen, Celesta – Streicher (16-14-12-10-8)
Sätze: 1. Allegro energico, ma non troppo. Heftig, aber markig
2. Andante moderato
3. Scherzo: Wuchtig –Trio: Altvaterisch, grazioso
4. Finale: Sostenuto – Allegro moderato – Allegro energico
Spieldauer: ca. 1 Std. 25 Min.
Uraufführung: 27. Mai 1906 in Essen, Ltg. Gustav Mahler.

Über das in den Jahren 1903 bis 1905 entstandene Werk schrieb die Witwe des Komponisten in ihren Erinnerungen an Gustav Mahler: „Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen wie dieses“, und fügte hinzu, die Sechste sei „sein allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein“.
 Um die Endfassung seiner Sechsten hat Mahler allerdings hart gerungen. Nach der Uraufführung revidierte er die Partitur mehrfach, änderte vor allem Instrumentation und Vortragsbezeichnungen und tauschte dabei auch die beiden Mittelsätze. In der Erstausgabe der Studienpartitur und des Klavierauszugs erscheinen diese in der Reihenfolge Scherzo – Andante. Erst unmittelbar vor der Uraufführung entschied sich der Komponist, den als Ruhepol fungierenden lyrischen langsamen Satz vorzuziehen und das bizarre Scherzo direkt vor das Finale zu platzieren. In dieser Gestalt erklang das Werk dann in allen von Mahler und Oskar Fried geleiteten Aufführungen.
  Wie keine andere seiner Symphonien ist sie der klassischen Gattungstradition verpflichtet: Viersätzig angelegt, mit klarer tonaler Disposition (drei Sätze stehen in a-Moll) und die Exposition des Kopfsatzes wird wörtlich wiederholt. Dennoch war Mahler davon überzeugt, seine Sechste würde „Rätsel aufgeben, an die sich nur eine Generation heranwagen darf, die meine ersten fünf in sich aufgenommen und verdaut hat“. Als Ferruccio Busoni ihn einlud, das neue Werk in Berlin herauszubringen, antwortete er: „Ich habe bis jetzt 5 Symphonien veröffentlicht. – Sie sind bereits alle in Berlin durchgefallen, mit Ausnahme der III., die ich Ihnen gerne zur Verfügung stelle […]. Meine 6. Symphonie […] ist sehr schwer und complicirt.“
  Tatsächlich bereitete die Sechste der Nachwelt aufgrund ihrer komplexen Satzstrukturen und neuartigen Ausdrucksdichte zunächst die größten Schwierigkeiten, besonders das monumental angelegte Finale, dessen abruptes, den bisherigen Verlauf des Satzes infrage stellendes Ende dazu führte, dass der Sechsten bereits zu Lebzeiten Mahlers der Beiname „Die Tragische“ verliehen wurde.
  Das Uraufführungspublikum in Essen begrüßte Mahlers neue Symphonie mit „kräftigem und anhaltendem“ Applaus, die im Herbst folgende Berliner Aufführung hinterließ die Zuhörer gespalten. Die dortigen Pressereaktionen kommentierte Mahler: „Meine 6. scheint wieder eine harte Nuß zu sein, welche von den schwachen Zähnchen unserer Kritik nicht geknackt werden kann“. Auf Unverständnis stieß die heterogene Tonsprache und Komplexität des Werks und seine Klanggewalt; die Uraufführungskritik spricht von der „erdrückende[n] Wucht der Tonwellen, die auf den Hörer zeitweilig mit elementarer Macht einstürmen“.
„Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen“, lautet ein viel zitierter Ausspruch Mahlers. Provokant ist dieser Satz nicht nur aufgrund des Anspruchs, Werke zu schaffen, die „unerschöpflich wie die Welt und das Leben“ seien, sondern auch, weil es den Wunsch ausdrückt, alle bis dahin im Bereich des Symphonischen verwendeten Instrumente, Kompositionstechniken, Formen und Stile zu überschreiten und das als kunstfähig geltende Material zum Zweck der Welterzeugung radikal zu erweitern. Der Wiener Musikkritiker Paul Stefan 1910 dazu: „Das Erlebnis des Weltalls beginnt [in Mahlers Musik] auf der Straße und endet im Unendlichen.“ Auf die Sphäre der Straße verweisen die von Mahler so geliebten Märsche, mit denen er in der mährischen Garnisonsstadt Iglau aufwuchs und die bisweilen sogar in der Waldeinsamkeit von Maiernigg aus der Ferne zu hören waren. In der Sechsten Symphonie verwendet er dieses Material in einer bis dahin nicht gekannten Intensität. So sind die beiden monumentalen Rahmensätze des Werks von Marschcharakteren, -themen und -rhythmen durchzogen.
 Ein Motiv durchzieht alle Sätze mit Ausnahme des Andante in unterschiedlichen Gestaltvarianten. Bei seinem ersten Auftreten im Kopfsatz markiert es den Übergang zwischen dem gewaltgeladenen Marschfeld des Hauptthemas und dem darauf folgenden expressiven Choral in den Holzbläsern. Nach einem abrupten Absturz der Musik ins Bassregister spielen zwei Schlagzeuger über Wirbeln der kleinen Trommel einen appellhaften Rhythmus. Dieser richtet die Aufmerksamkeit auf einen in Trompeten und Oboen einsetzenden A-Dur-Dreiklang, der nach einem Takt überraschend nach a-Moll umschlägt. „In diese kurze harmonische Formel hat Mahler den Reingehalt dessen gepreßt, was ihm hier als Grunderkenntnis vorschwebte“, schreibt Paul Bekker 1920 in seinem einflussreichen Mahler-Buch: „das gewaltsame Niedergedrücktwerden“.
 Das folgende choralartige Thema vertritt die Überleitungspartie, es folgt ein „schwungvolles“ Seitenthema, das als musikalisches Porträt seiner Frau Alma gedacht war.
 Eine Gegenwelt zur Sphäre des Marsches bildet die Herdenglocken-Episode in der Durchführung des Kopfsatzes. Innerhalb weniger Takte führt uns die Musik in einen neuen Klang- und Ausdrucksbereich, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Akustische Chiffre für diese weltenthobene Region sind die ungestimmten Kuhglocken, die von Mahler hier erstmals – hinter der Bühne – ins Symphonieorchester eingeführt werden.
 Dem Andante moderato in Es-Dur liegen zwei kontrastierende Themenkomplexe zugrunde, die rondohaft nach dem Schema ABABA alternieren und jeweils durchgeführt werden. Das erste Thema changiert zwischen Dur und Moll und ähnelt dem vierten der Kindertotenlieder („Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen“). Der zweite Themenkomplex, aus einer „traurigen“ Weise entwickelt, mündet in eine große Steigerung. Die E-Dur-Stelle, an der die Herdenglocken wieder erklingen, weist typische Züge eines Pastorale auf. Der Satz ist nach innen gerichtet, Abkapselung von der Außenwelt, Bild der Seele, Versunkenheit ins Schöne und Traurige. „Zart und ausdrucksvoll“, „misterioso“, „mit bewegter Empfindung“, „morendo“ heißt es in der Partitur. Musik jenseits des Mottos und doch mit ihm verbunden.
 Das Scherzo – wieder in A-Dur - ist ähnlich wie das Andante nach dem Muster Hauptsatz – Trio – Hauptsatz – Trio – Hauptsatz angelegt. Es ist aus wenigen Motiven entwickelt. Die Vortragsbezeichnung „wuchtig“ und die Spielanweisung „wie gepeitscht“ geben eine Vorstellung von dem schauerlichen Charakter des Scherzos. Die Thematik der Trioteile – Mahler überschreibt sie mit „altväterisch“ – mutet dagegen eher volksliedhaft-naiv an. Der deutliche Takt- und Tempowechsel in den Trioteilen ist programmatisch bedingt – Mahler sprach von den „arhythmischen Spielen“ kleiner Kinder, die durch den Sand stapfen. Diese Kinderstimmen werden immer tragischer und zum Schluss wimmert nur noch ein verlöschendes Stimmchen.
 Während der erste Satz triumphal in A-Dur endet, führt das monumentale Finale in Schwärze und Hoffnungslosigkeit. Ein letzter Versuch, in einer klangmächtigen A-Dur Passage Erfüllung zu finden, scheitert mit dem abrupten Einsatz der Coda. Anknüpfend an die Einleitung des Satzes bringt sie ein letztes Mal jenen symbolisch aufgeladenen Dur-Moll-Wechsel, der als harmonische Formel das ganze Werk durchzieht. Anschließend werden die Instrumentalfarben zunehmend dunkler und die musikalischen Linien und Gesten immer fragmentierter und langsamer. Doch bevor die Musik im tiefen Bassregister endgültig erstirbt, kommt es zu einem letzten unerwarteten Ausbruch. Unterlegt von dem appellhaften Marschrhythmus der beiden Schlagzeuger, erklingt im gesamten Orchester eine auf den a-Moll-Akkord verkürzte Version der harmonischen Grundformel.
 Das Finale ist nach dem Muster der Sonatenform gebaut. Exposition, Durchführung, Reprise und Coda werden jeweils mit einer Introduktion eröffnet. Überwältigend ist der Reichtum an Ausdruckscharakteren. Visionäres, Choralartiges, Marschähnliches, Überschwängliches, dramatisch Bewegtes, Musik aus weiter Ferne, Hymnisches - die verschiedensten Charaktere folgen in raschem Wechsel aufeinander. Besondere Bedeutung besitzen die Hammerschläge, die (in der ersten Fassung) an drei Stellen fallen: zu Beginn des zweiten und vierten Durchführungsteiles und in der Coda. Mahler hat bei einer späteren Veränderung der Instrumentation den dritten Hammerschlag gestrichen, denn er hätte, wie Erwin Ratz mutmaßt: „das Gefühl des absoluten Endes zu sehr verstärkt, das in Wahrheit kein Ende ist“.
 Während Mahler in seinen frühen Symphonien mit Programmen gearbeitet hatte, wandte er sich im Falle der Sechsten vehement gegen allzu konkrete „programmatische Ausdeutungen“: „Wenn man musizieren will, darf man nicht malen, dichten, beschreiben wollen“, erklärte er Bruno Walter nach der Vollendung der Partitur, um gleich jedoch hinzuzusetzen: „Aber was man musiziert, ist doch der ganze (also fühlende, denkende, atmende, leidende etc.) Mensch.“ Und einige Jahre später schreibt er an denselben Adressaten: „Sonderbar geht es mir mit allen diesen Werken, wenn ich sie dirigiere. Es kristallisiert sich eine brennend schmerzliche Empfindung: Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Weltbilder auswirft.“


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.