Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 23. Mai 2018


Bohuslav Martinů: La Bagarre

Bohuslav Martinů
Bohuslav Martinů (* 1890 in Polička, Ostböhmen, † 1959 in Liestal, Schweiz)

Martinů wurde musikalisch früh gefördert. Mit sieben Jahren erhielt er den ersten Geigenunterricht, wenig später begann er mit eigenen Kompositionsversuchen. Ab 1906 studierte am Prager Konservatorium Violine und Orgel, wurde aber 1910 wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ vom Konservatorium ausgeschlossen. Trotzdem legte er 1912 sein Violinlehrer-Diplom ab. 1913 bis 1923 spielte er Violine in der Tschechischen Philharmonie.
 Als Komponist war Martinů in dieser Zeit ungeheuer produktiv. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges schrieb er etwa 120 Werke unterschiedlicher Gattungen. Insbesondere die Musik des französischen Impressionismus beinflusste Martinůs kompositorisches Schaffen stark, aber auch die tschechische Volksmusik blieb für ihn stets eine wichtige Quelle der Inspiration.
 1923 zog er nach Paris und studierte bei Albert Roussel. Die Begegnung mit der modernsten Musik ändert seinen Musikstil durchgreifend. Jetzt stehen Futurismus, Technik- und Geschwindigkeitsbegeisterung im Vordergrund seines Interesses. Zu seinen ersten vollgültigen Werken zählen Half-Time für Orchester, das 2. Streichquartett und das Orchester-Allegro La Bagarre. Diese Kompositionen zeichnen sich vor allem durch polytonale Harmonik, polyphone Satzweise und rhythmische Vitalität aus.
 Nach der Besetzung Frankreichs 1940 emigrierte Martinů in die USA. Dort unterrichtete er an verschiedenen Hochschulen Komposition. La Bagarre hatte er dem Dirigenten Serge Kusevickij bereits 1926 in Paris vorgelegt und diesen so begeistert, dass er sie 1927 in Boston uraufführte. Danach gab es immer wieder Berührungspunkte, so dass die Bekanntschaft Martinů den Anfang in den USA sehr erleichterte. Kusevickij beauftragte ihn mit der Komposition seiner 1. Sinfonie. Kusevickij wollte die Potenziale der Emigranten für sein Orchester mobilisieren. In Martinů, dem Tschechen, sah er wohl einen musikalischen Enkel von Antonín Dvořák, den man in den 1890er-Jahren in die USA geholt hatte, damit er eine nationale Musik schaffe.



La Bagarre (1926)

Orchesterbesetzung: 3 Flöten (1 auch Piccolo), 3 Oboen (1 auch Englischhorn), 3 Klarinetten (1 auch Es-Klarinette), 2 Fagotte – 4 Hörner , 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 3 Schlagzeuger, Klavier – Streicher (16-14-12-10-8 Violinen, Violen und Celli auch geteilt)
Spieldauer: ca. 9 Min.
Uraufführung: 18. Nov. 1927, Boston Symphony Orchestra, Serge Kusevickij, Ltg.

La Bagarre (= Der Tumult) oder tschechisch Vřava – von dem schottischen Komponisten, Joseph Stevenson, als „klangliches Knockout“ bezeichnet – ist das zweite von insgesamt drei Allegros für Orchester, die alle die Einflüsse, die Martinů in Paris aufgenommen hat, – den hartkantigen Klang von Milhauds und Stravinskys Polytonalität und Polyrhythmik, die treibenden Maschinen-Rhythmen der Futuristen und den durchdringenden Klang sehr hoher Piccolo-Flöten, Streicher oder Trompeten bei Prokof'ev – zusammen mit seinen böhmischen Wurzeln zu einem persönlichen Stil vereinigen. Alle drei Orchester-Allegros (Half-Time von 1924, eben La Bagarre und La Rhapsody von 1928) verbindet, dass sie völlig antiromantisch daherkommen und auf keinerlei subjektiv-gefühlshaftes Bekenntnis mit weltanschaulicher Bedeutung abheben, sondern eher ein Spiel mit Tönen sind. Martinů selbst bezeichnete diese vielleicht experimentellste Phase seines Schaffens, die bis 1929 andauerte, als „Dynamismus“.
 Die Komposition ist inspiriert von der Geschwindigkeit der menschlichen Entwicklung in Technik und Sport, von der Dynamik von Menschenmassen und ihrer Energie. Sie besteht aus einem Bewegungswirbel mit einer Textur von melodiösen Schichten, die häufig auch kontrapunktisch gegeneinander geführt werden, basiert von einem synkopierten rhythmischen Unterbau. Ein Mittelteil in der Art eines Trios bringt eine lange, sangliche Melodie in einem langsameren Tempo.
 Martinů fügte am Ende der Partitur die Anmerkung hinzu: „In Erinnerung an Le Bourget.“ Dies machte die Arbeit zu einer Art Hommage an Charles Lindbergh und seinen berühmten Transatlantikflug, der am Flughafen Le Bourget endete. Aber die Arbeit, die ein Jahr vor dem Flug abgeschlossen wurde, hat nichts mit diesem historischen Ereignis zu tun.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.