Einführung zu den Konzerten des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 16. und 17. Dezember 2021


Bohuslav Martinů: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1

Bohuslav Martinů
Bohuslav Martinů (* 1890 in Polička, Ostböhmen, † 1959 in Liestal, Schweiz)

Martinů wurde musikalisch früh gefördert. Mit sieben Jahren erhielt er den ersten Geigenunterricht, wenig später begann er mit eigenen Kompositionsversuchen. Ab 1906 studierte am Prager Konservatorium Violine und Orgel, wurde aber 1910 wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ vom Konservatorium ausgeschlossen. Trotzdem legte er 1912 sein Violinlehrer-Diplom ab. 1913 bis 1923 spielte er Violine in der Tschechischen Philharmonie.
 Als Komponist war Martinů in dieser Zeit ungeheuer produktiv. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges schrieb er etwa 120 Werke unterschiedlicher Gattungen. Insbesondere die Musik des französischen Impressionismus beinflusste Martinůs kompositorisches Schaffen stark, aber auch die tschechische Volksmusik blieb für ihn stets eine wichtige Quelle der Inspiration.
 1923 zog er nach Paris und studierte bei Albert Roussel. Die Begegnung mit der modernsten Musik ändert seinen Musikstil durchgreifend. Jetzt standen Futurismus, Technik- und Geschwindigkeitsbegeisterung im Vordergrund seines Interesses. Zu seinen ersten vollgültigen Werken zählten Half-Time für Orchester, das 2. Streichquartett und das Orchester-Allegro La Bagarre. Diese Kompositionen zeichnen sich vor allem durch polytonale Harmonik, polyphone Satzweise und rhythmische Vitalität aus. Trotz fortdauernder finanzieller Schwierigkeiten erfuhr er ab 1928 zunehmend breitere Anerkennung. Er hatte mittlerweile die Französin Charlotte Quennehen geheiratet, war entschlossen, in Paris zu bleiben, und schlug mehrfach das ehrenvolle Angebot aus, die Nachfolge Leoš Janáčeks am Brünner Konservatorium zu übernehmen.
 Bei Kriegsausbruch meldete er sich als Freiwilliger für den Militärdienst tschechoslowakischer Staatsangehöriger in Frankreich, wurde aber für untauglich befunden. Mit der finanziellen Unterstützung von Paul Sacher und Ernest Ansermet gelang Martinů, der wegen seiner Verbindungen zur Tschechoslowakischen Exilregierung in London auf der Schwarzen Liste der Nationalsozialisten stand, im Winter 1941 eine beschwerliche Flucht über Spanien und Portugal in die USA.
 Dort unterrichtete er an verschiedenen Hochschulen Komposition. La Bagarre hatte er dem Dirigenten Serge Kusevickij bereits 1926 in Paris vorgelegt und diesen so begeistert, dass er sie 1927 in Boston uraufführte. Danach gab es immer wieder Berührungspunkte, so dass die Bekanntschaft Martinů den Anfang in den USA sehr erleichterte. Kusevickij beauftragte ihn mit der Komposition seiner 1. Sinfonie. Kusevickij wollte die Potenziale der Emigranten für sein Orchester mobilisieren. In Martinů, dem Tschechen, sah er wohl einen musikalischen Enkel von Antonín Dvořák, den man in den 1890er Jahren in die USA geholt hatte, damit er dort eine amerikanisch-nationale Musik schaffe.



Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 (1932/33)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten (1 auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken, 2 Schlagzeuger – Streicher
Sätze: 1. Allegro moderato, 2. Andante, 3. Allegro
Spieldauer: ca. 23 ½ Min.
Uraufführung: 25. Okt. 1973, Josef Suk - Violine, Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti - Ltg.

Sein erstes Violinkonzert komponierte Bohuslav Martinů 1932-33 in Paris im Auftrag des amerikanischen Violinvirtuosen, Samuel Dushkin, dessen Bekanntschaft Martinů in Paris machte. Zwischen den beiden gab es häufige Diskussionen über verschiedene Details des Konzerts, was offenbar der Grund dafür war, dass der Martinů es zunächst nicht fertigstellte. Im September 1933 schrieb Martinů nach Hause, dass er Paris nicht verlassen könne, da Dushkin aus den Staaten zurückgekehrt sei und er „das Konzert“ vollenden müsse. Offensichtlich ist aber die Partitur bereits zu diesem Zeitpunkt auf mysteriöse Weise verschwunden. Als Ersatz für dieses verlorene Werk schrieb Martinů für Duschkin in Paris vor Kriegsausbruch eine Suite Concertante für Violine und Orchester, die er Ende 1942 in Amerika überarbeitete und erweiterte. Milos Safránek erwähnte in seinem Werk Leben und Werk von Bohuslav Martinů (1962) das erste Violinkonzert, von dem er annahm, dass es unvollendet geblieben war.
 Erst 1961 fand der Musikwissenschaftler und Sammler Hans Moldenhauer das Manuskript des Violinkonzerts in der Sammlung von Boaz Piller, des Kontrafagottisten des Boston Symphony Orchestra, und erwarb es. Entgegen seiner Gewohnheit hatte Martinů die autographe Partitur nicht datiert, doch es gilt als sicher, dass die Komposition in den Jahren 1932-33 entstanden ist, als der Komponist in Paris lebte. Nach Rücksprache mit der Witwe Martinůs, Charlotte Martinů-Quennehen, wandte sich Moldenhauer an den tschechischen Geiger Josef Suk, der das Werk mit dem Chicago Symphony Orchestra unter der Leitung von Georg Solti im Oktober 1973 uraufführte.
 Es ist offensichtlich, dass Martinů aus persönlichen Gründen beschloss, das Violinkonzert zu vollenden, dass er es aber nicht zur Aufführung bringen wollte. Das Werk ist im Halbreich-Katalog der Werke von Martinů (1968) aufgeführt, wo es mit dem Moldenhauer-Archiv identifiziert wird. Das Originalmanuskript wird heute an der Northwestern University, Enaston, aufbewahrt, wo sich auch große Teile des Moldenhauer-Archivs befinden.

 Das Violinkonzert Nr. 1 besteht aus drei Sätzen, wobei der zweite mit dem dritten durch einen gehaltenen Ton der Solo-Violine verbunden ist. Die drei Sätze wurden vom Komponisten nicht mit Tempobezeichnungen versehen; die Zeitangaben wurden vom Solisten und Dirigenten der Uraufführung nach den musikalischen Gegebenheiten bestimmt.

 Der erste Satz ist ein schnelles Stück, dessen Vitalität von den rhythmischen Figurationen des Hauptthemas ausgeht. Dieses Thema besteht aus drei Motiven, die im weiteren im Zusammenhang, aber auch einzeln wiederholt, vielfach variiert und immer wieder neu zusammengesetzt werden. Das erste Motiv besteht aus zwei synkopisch angeordneten, aufwärts gerichteten Oktavsprüngen, das zweite ist die gleich anschließende Wechselnote, als drittes schließen sich Sechzehntel-Ketten mit jeweils zwei abwärts gerichteten Quarten an, die solange immer weiter versetzt werden, bis die Ausgangsstufe wieder erreicht ist. Die Solo-Violine setzt nach der kurzen Orchestereinleitung im Wesentlichen mit der gleichen Idee ein. Zusammen mit dem Orchester beginnt ein quasi durchführender Abschnitt, in dem die Bestandteile des Hauptthemas immer wieder verändert erscheinen. Ein in punktierten Rhythmen vorgetragenes Akkordmuster beendet diesen Teil. Der zweite Themenabschnitt ist deutlich melodiöser, vor allem von der Solo-Violine ausdrucksvoll vorgetragen. Auch dieser Abschnitt wird wieder mit dem punktierten Rhythmus beschlossen, bevor wie in einer Reprise das Anfangsthema in der Solo-Violine zurückkehrt und nochmals mit dem gesamten Orchester zusammen fortentwickelt und erweitert wird. Gegen Ende wird auch die punktierte Akkordkette ausgedehnt, es entwickelt sich ein sich steigerndes Gegeneinander mit kurzen Orchesterpassagen und etwas längeren virtuosen Abschnitten der Solo-Violine, bevor alles in eine schwungvolle Coda mündet.

 Der zweite Satz ist ein ruhiges Instrumentallied in langsamem 3/8-Takt. Nach einem Streicherakkord beginnt die Klarinette allein mit einer Figur im Anapäst-Rhythmus, die bald von der Oboe übernommen und sich dann polyphon im ganzen Holzbläser-Satz verzweigt. Dagegen stehen langsame Achtel-Figuren der Streicher. Die Solo-Violine kombiniert die beiden Bewegungsformen und führt die Melodie nach und nach in höhere Register, während die Begleitung des Orchesters immer aktiver und lebhafter wird. Schließlich führt die Verdichtung im Orchester zu einer Klimax, nach der die schnelle Bewegung abbricht, um dann in ein molto dolce mit Motiven aus der Anfangsphrase zu verfallen. Die Solo-Violine hält den Schlusston bis zum Beginn des dritten Satzes aufrecht. Aus dem Manuskript geht hervor, dass der Komponist hier zunächst eine kurze Kadenz für die Solo-Violine vorgesehen hatte, um die letzten beiden Sätze zu verbinden, diese Passage aber wieder strich, so dass nur ein einziger anhaltender Ton – ein tiefes a – übrig blieb.
 Der schnelle dritte Satz, der auf dem Schema eines siebenteiligen Rondos basiert, beginnt mit einem tänzerischen Abschnitt im 4/8-Takt, mit schnellen rhythmischen Motiven der Streicher und langsameren mit Vorschlägen gespielten Vierteln der Holzbläser, die sich antiphonal abwechseln. Der Einsatz der Solo-Violine folgt zunächst ohne Begleitung dem Motiv der Holzbläser, doch bald mischt das Orchester wieder mit und vollzieht eine große Steigerung. Im ersten kontrastierenden Abschnitt wechselt der Takt zu einem schnellen 3/8, Melodie und Begleitung gewinnen an Schwung und verdichten sich zunehmend. Eine kurze Solo-Kadenz führt die Musik zurück zum ersten Refrain-Abschnitt, der nun verkürzt und variiert wird – wieder im 4/8-Takt. Hier wird die technische Virtuosität der Solo-Violine zu einem lebendigen Merkmal der Musik. Der zweite kontrastierende Abschnitt präsentiert eine treibende „Perpetuum mobile“-Figuration für die Solo-Violine mit kurzen Einwürfen der Streicher, später der kleinen Trommel. Daraus entwickelt sich ein rasanter Tanz im Zweiertakt mit Kreuzrhythmen und der Wiederkehr des synkopischen Anfangsrefrains. Der erste kontrastierende Abschnitt im Dreiertakt und mit Dreiklangskonturen kehrt wieder – deutlich vergrößert in der Besetzung und variiert. Sowohl dieser Teil als auch der letzte Refrain sind sehr stark von solistischen Passagen der Violine durchsetzt, die überaus virtuos die Bewegung bestimmt und dabei immer weiter an Spannung und Brillanz gewinnt. Am Ende steht noch einmal eine große Steigerung.


Petr Popelka

Leitung: Petr Popelka

wurde 1986 in Prag geboren. Er erhielt seine musikalische Ausbildung als Kontrabassist am Prager Konservatorium und an der Hochschule für Musik Freiburg. Er spielte im Prager Rundfunk-Symphonieorchester, im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und in der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Seit 2016 widmet sich Popelka vermehrt dem Dirigieren und erhielt Impulse von Vladimir Kiradjiev, Péter Eötvös, Alan Gilbert, Jaap van Zweden und Johannes Schlaefli. Er dirigierte das NDR Elbphilharmonie Orchester, das Danish National Symphony Orchestra, das Bergen Philharmonic Orchestra, die Janáček Philharmonie Ostrava und weitere tschechische Orchester. Operndirigate führten ihn an Den Norske Opera Oslo, an die Semperoper Dresden, an das Prager Nationaltheater sowie an die Ungarische Staatsoper Budapest. Petr Popelka ist auch als Komponist tätig. 2015 leitete er in Mödling die Uraufführung seines Auftragswerks Labyrinth des Herzens. Seine Szenen für Klavierquartett wurden in Wien uraufgeführt.

Josef Špaček

Violine: Josef Špaček

wurde 1986 in Třebíč in der Tschechei geboren. Er studierte bei Itzhak Perlman an der Juilliard School in New York, bei Ida Kavafian und Jaime Laredo am Curtis Institute of Music in Philadelphia sowie bei Jaroslav Foltýn am Prager Konservatorium. Er war Preisträger des Internationalen Königin-Elisabeth-Wettbewerbs in Brüssel und gewann Spitzenpreise beim Internationalen Michael Hill Violinwettbewerb in Neuseeland, beim Internationalen Carl Nielsen Violinwettbewerb in Dänemark und bei den Young Concert Artists International Auditions in New York. Im Jahr 2015 veröffentlichte Supraphon seine Aufnahme der Konzerte von Antonin Dvořák, Leoš Janáček und der Fantasie von Josef Suk mit der Tschechischen Philharmonie. Ehemals jüngster Konzertmeister der Tschechischen Philharmonie widmet er sich seit 2020 ausschließlich seiner Solokarriere. Josef Špaček spielt auf der Violine „LeBrun; Bouthillard“ (ca. 1732) von Guarneri del Gesù, einer großzügigen Leihgabe von Ingles & Hayday.