Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 17. Juni 2021


Felix Mendelssohn-Bartholdy: Ouvertüre für Harmoniemusik, C-Dur, Op. 24

Felix Mendelssohn-Bartholdy
Felix Mendelssohn-Bartholdy (* 1809 in Hamburg; † 1847 in Leipzig)

Die umfassende und vielseitige Bildung hatte in der Familie von Felix und seiner Schwester, Fanny, mit dem Großvater, dem Philosophen Moses Mendelssohn, und dem Vater, dem gutsituierten Bankier Abraham Mendelssohn einen hohen Stellenwert. Nach frühem Unterricht bei den Eltern besuchte Felix zwei Jahre lang die Erziehungsanstalt Dr. Messow, danach erhielt er vielfältigen Privatunterricht, der Mathematik, Geschichte, alte und neue Sprachen, Zeichnen, sportliche Aktivitäten ebenso einschloss, wie Klavier-, Violin-, Orgel- und Kompositionsunterricht. Als Neunjähriger wirkte er zum ersten Mal als Pianist bei einer Aufführung eines Klaviertrios von Joseph Wölfl öffentlich mit. Da in seinem Vaterhaus jeden Sonntag Konzerte stattfanden, zu denen eine kleine Kapelle engagiert wurde, hatte der junge Musiker die Möglichkeit, seine ersten Kompositionsversuche aufzuführen. Sein Kompositionslehrer, Carl Friedrich Zelter, unterrichtete ihn im Geist der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts und – wie Mendelssohn selbst schrieb – „nicht in der Steifheit einzwängender Lehrsätze, sondern in der wahren Freiheit d.h. in der Kenntniß der rechten Gränzen“. So entstanden bereits in den 1820er Jahren mehr als 150 Kompositionen, davon etwa ein Drittel Vokalmusik. Bemerkenswert ist, dass von Anfang an neben vielen Klavierstücken, Liedern und einigen Kammermusikwerken auch große Formen einbezogen wurden. Fast alle Kompositionen dieser frühen Schaffensperiode dürften im häuslichen Rahmen aufgeführt worden sein.
 Ein weiterer wichtiger Aspekt der Entwicklung Mendelssohns waren die Reisen der Familie, die oft verbunden waren mit den Begegnungen mit Künstlern, Gelehrten, Schriftstellern. Die Jahre 1829 bis 1832 waren geprägt von mehreren großen Reisen – nun nicht mehr mit der Familie – nach England, Italien, Wien und Paris, Orte, in denen sich Mendelssohn zum mehrere Monate aufhielt, um tiefere Kontakte zu knüpfen, um die Gemäldegalerien und Kunstschätze der Städte intensiv kennenzulernen und das Musikleben, das er oft kritisch beurteilte, eingehend zu studieren und sich aktiv daran zu beteiligen.
 Zwischen 1833 und 1835 nahm er die Stellung des Städtischen Musikdirektors in Düsseldorf an. Zur Konzertsaison 1835/36 übernahm er dann die Leitung des damals rund 40 Musiker zählenden Gewandhausorchesters in Leipzig, die er bis 1841 innehatte. Er führte hier eine Reihe von Neuerungen insbesondere in der Funktion des Dirigenten ein, die diese grundlegend veränderten. So übernahm er fortan die Einstudierung und Leitung der Instrumentalwerke, was vorher vom Konzertmeister vorgenommen wurde. Er engagierte auswärtige Künstler für mehrere Konzerte, manchmal für eine ganze Saison, begann damit, manche Werke mehrfach zu wiederholen, übernahm die gesamte Programmkonzeption des Orchesters, sorgte für eine Reihe von Uraufführungen und führte besondere Konzertformate und –zyklen ein. Zudem hob er die Orchesterkultur an und engagierte sich für Verbesserungen des sozialen Status der Orchestermusiker.



Ouvertüre für Harmoniemusik, C-Dur, Op. 24 (1824 / 1838)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten (1 auch Piccolo, 2 Oboen, 2 Klarinetten in F, 2 Klarinetten in C (2 auch Bassetthorn), 3 Fagotte (1 auch Kontrafagott) – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba (statt Engl. Basshorn) – 4 Schlagzeuge
Spieldauer: ca. 10 Min.
Tempobezeichnungen: Andante con moto - Allegro vivace
Uraufführung: Fassung für 11 Instrumente: 24. Juli 1824, Orchesterfassung: unbekannt

Englisch Basshorn Während des Sommers 1824 verbrachte Mendelssohn den Urlaub mit seinem Vater in der norddeutschen Gemeinde Bad Doberan. Dieser Kurort war bekannt für seine Kureinrichtungen, von denen viele kleine Blasorchester beschäftigten, die täglich Konzerte gaben; diese Orchester wurden als „Harmoniemusik“ bezeichnet. Während seines Aufenthalts in Bad Doberan komponierte Mendelssohn sein Notturno für elf Instrumente – je zwei Oboen, Klarinetten, Hörner und Fagotte, dazu Flöte, Trompete und Englisch Basshorn – das Werk wurde am 24. Juli 1824 uraufgeführt. Das Englisch Basshorn ist eine Art Serpent mit kräftigerem Klang, das 1790 erstmals gebaut und bis ca. 1840 vor allem in englischen Blasorchestern verbreitet und beliebt waren. Später ist es durch die Tuba verdrängt worden. Die Partitur von 1824 ist offensichtlich verloren gegangen, Mendelssohn rekonstruierte sie zwei Jahre später.
 1833 schrieb Mendelssohn eine Fassung für vierhändiges Klavier, die er Militair Ouverture betitelte. Im Jahr 1838 bearbeitete er das Werk für große deutsche Blaskapelle und betitelte es in Ouvertüre für Harmoniemusik op. 24 um. Bei seinem Verleger Simrock bemühte er sich um eine Veröffentlichung des Werkes in allen drei Fassungen. Simrock akzeptierte die Werke, veröffentlichte sie aber erst 1852, fünf Jahre nach dem Tod des Komponisten.
 Das Werk besteht aus zwei sehr gegensätzlichen Teilen. Der erste langsame Teil steht im ¾-Takt und bringt ein erstes Thema mit einem Auftakt aus drei Achtel-Noten und auffällig dissonanten Vorhalten. Der Abschnitt wird variiert und mit unterschiedlicher Instrumentalbesetzung insgesamt viermal gespielt. Ein zweites Thema bringt fallende Achtelketten und ein markantes Signalmotiv: Eine fallende Oktave, die in der Tiefe mit einem Doppelschlag landet. Eine kurze morendo-Coda führt das Andante zum Dominantseptakkord.
 Der schnelle Teil steht in Sonatenform. Das Kopfthema besteht aus einer Figur mit dreifachen Tonwiederholungsketten, die durch einen Akkord eingeleitet und in kurze auf- und absteigende Bogenläufe mündet. Es folgen gegenbetonte Achtel und immer wieder rasante Läufe. Das zweite Thema beginnt leise, ist deutlich melodiöser, zuerst geprägt von aufsteigenden Linien und schnell fallenden Akkordbrechungen. Das Thema steigert sich, um plötzlich wieder in dem Anfangsmotiv des Kopfthemas zu landen, das hier eine Schlussgruppe bildet. Die Exposition wird wiederholt. Die Durchführung beginnt mit dem jetzt schnelleren Signalmotiv aus dem langsamen Teil, das immer wieder gespielt wird. Dazwischen wird das zweite Thema polyphon verarbeitet, alsbald erscheint zunächst im pianissimo auch das Kopfthema wieder. Die drei Elemente vermischen sich in einer großen Steigerung bis zu Reprise, der nach den beiden Themen eine ausgedehnte Coda mit einigen neuen Elementen angehängt ist.
 Der Allegro-Abschnitt wirft die Frage auf, an welche nächtlichen Aktivitäten Mendelssohn in dem ursprünglich Notturno betitelten Stück wohl gedacht haben mag. Er ist wohl eher dazu gedacht, den Spielern die Möglichkeit zu geben, ihr Können zu zeigen, als etwas Tiefgründigeres als gute Laune auszudrücken.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.