Einführung zum Video-Livestream des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 13. Januar 2022


Francis Poulenc: Sinfonietta

Francis Poulenc
Francis Poulenc (* 1899 in Paris, † 1963 in Paris)

Francis Poulencs Vater führte ein pharmazeutisches Familienunternehmen im südfranzösischen Département Aveyron, seine Mutter, eine talentierte Amateurpianistin aus Paris, unterrichtete ihn ab 1904. Ab 1915 bildete er sich bei Ricardo Viñes weiter, der ihn unter anderem mit Erik Satie, Claude Debussy und Maurice Ravel bekannt machte. Nach dem Besuch des Lycée Condorcet hatte er mit achtzehn Jahren seinen ersten Erfolg bei einem Konzert mit „avantgardistischer“ Musik im Théâtre du Vieux-Colombier. Er besuchte zusammen mit seinem Freund Georges Auric das Maison des amis des livres. Dort lernte er die Dichter der Avantgarde wie Jean Cocteau, Guillaume Apollinaire, Max Jacob und Paul Éluard kennen, von denen er viele Texte vertonte. Ab 1919 entstand auf Betreiben von Jean Cocteau und Erik Satie ein Kollektiv junger Komponisten, das der Kritiker Henri Collet 1920 als „groupe des six“ bezeichnete. Sie bestand neben Francis Poulenc aus Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud und Germaine Tailleferre und verstand sich als Reaktion auf die Romantik und den Wagnerismus, in gewissem Maße aber auch auf die impressionistische Strömung, die insbesondere von Claude Debussy verkörpert wurde. Von 1921 bis 1925 studierte Poulenc Komposition bei Charles Koechlin. Dennoch blieb er Autodidakt: „Meine Richtschnur ist der Instinkt. Ich habe keine Prinzipien und gebe damit an. Gott sei Dank habe ich kein Schreibsystem (System ist für mich gleichbedeutend mit (‚Tricks‘). Inspiration ist etwas so Geheimnisvolles, dass es besser ist, es nicht zu erklären“, schrieb er 1945. Dadaistischer Humor, ein Hang zum Populären, Vulgären und Charmanten zeichnen seine Kompositionen aus. Mit seinem ersten Orchesterwerk, der Ballettmusik Les Biches (1922/23), deren frivol-laszives Sujet die Stimmung der Zeit spiegelte, gelang ihm der Durchbruch.
 Der Tod mehrerer Freunde und des Komponisten und Kritikers Pierre-Octave Ferroud sowie eine Pilgerreise nach Rocamadour im Jahr 1935 führten ihn wieder zum katholischen Glauben zurück. In der Folge komponierte er mehr und mehr geistliche Musik, seine Werke wurden düsterer und strenger.
 Während des Zweiten Weltkriegs schrieb Poulenc Text und Musik für Les Animaux modèles, ein humorvolles Ballett, das 1942 an der Pariser Oper uraufgeführt wurde. Das Werk kann als Akt des Widerstands gesehen werden, da es eine Passage aus Vous n'aurez pas l'Alsace et la Lorraine – das die deutschen Offiziere damals nicht erkannten – zu Gehör bringt. Im selben Jahr komponierte er die Musik für den Film La Duchesse de Langeais von Jacques de Baroncelli. Seine Kantate Figure humaine (1943) auf Texte von Paul Éluard musste hingegen bis 1945 auf ihre Uraufführung (in London) warten, wohl wegen des Gedichts, das sie beschließt: Liberté. Poulenc widmete es seinem damaligen Lebensgefährten, Raymond Destouches. Poulenc wechselte weiterhin zwischen weltlichen Melodien, religiösen Chören, Orchesterstücken, Kammermusik und Klavierstücken.



Sinfonietta (1947)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 2 Hörner, 2 Trompeten – Pauken, Harfe – Streicher
Sätze: 1. Allegro con fuoco
2. Molto vivace
3. Andante cantabile
4. Finale: Très vite et très gai
Spieldauer: ca. 28 Min.
Auftrag der BBC zum ersten Jahrestag ihres Dritten Programms.
Uraufführung: 24. Okt. 1948, Philharmonia Orchestra London, Roger Désormière – Ltg.

Im Juni 1947 schrieb Poulenc aus London an seinen Freund Darius Milhaud: „Ich hatte dieses Jahr einen guten Frühling. Nun stehe ich kurz davor, für das Dritte Programm der BBC eine Sinfonietta für Orchester zu schreiben.“ Achtzehn Monate später schrieb er, diesmal aus Boston: „Die Sinfonietta ist in London gut angekommen“.
 Die Sinfonietta folgt äußerlich dem tradierten Muster einer viersätzigen Symphonie, löst aber den im 19. Jahrhundert so intensiv betriebenen Beziehungsreichtum zwischen den einzelnen Sätzen, den Themen und Motiven nicht ein. Mit leichter Hand verbindet Poulenc verschiedene musikalische Charaktere, die ebenso lose wie organisch aneinandergereiht werden. Eine Musik wie eine milde Sommerbrise. Immer wieder wird es tänzerisch, manchmal satirisch, Mozart und Stravinskij klingen an, auch etwas Čajkovskij.
 Der erste Satz beginnt kraftvoll und wird dann durch verschiedene melodische Elemente kontrastiert. Der zweite Satz hat Scherzo-Charakter. Er erinnert sehr an den letzten Satz des Balletts Les biches, mit eingebetteten kurzen misterioso-Momenten. Der dritte Satz ist ein sangliches Andante mit einem ausgedehnten melodischen Thema. Der Finalsatz schließlich erinnert mit seinen volkstümlichen Themen an Haydn, ein frech-fröhlicher Kehraus, der schließlich mit einem atemlosen Schluss verklingt.
 Vielleicht muss man Poulenc folgen, der gesagt haben soll, man solle Musik nicht analysieren, sondern lieben?


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.