Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 14. Februar 2018


Sergei Prokof'ev: 5. Sinfonie

Sergej Prokof'ev
Sergej Sergeevič Prokof'ev (* 1891 auf Gut Sonzowka, heute Dnjepropetrowsk, Ukraine, † 1953 in Moskau)

Verbunden mit Prokef'evs Lebensstationen wird auch sein Werk in drei große ästhetische Perioden eingeteilt. Nach Klavierunterricht und ersten Kompositionsversuchen im Elternhaus wurde er Anfang 1904 Aleksandr Glazunov vorgestellt, der ihm ein Studium am Sankt Petersburger Konservatorium empfahl. So studierte er von 1904 bis 1914 Komposition, Kontrapunkt, Orchestration, Klavier und Dirigieren. Unterdessen war er mit einigen Kompositionen an die Öffentlichkeit getreten und hatte sich als brillanter Pianist einen Namen gemacht. Bis 1918 blieb er in Russland, reiste viel und gab Konzerte. Die Werke dieser ersten „russischen Periode“ zeichnen sich durch eigenwillige Rhythmen, scharfe Dissonanzen, „sarkastischen“ Humor und große, vitale Kraft aus. Obgleich er eindeutig mit spätromantischen Traditionen bricht, hält er in dieser Periode an der Tonalität fest und löst sich damit noch nicht völlig von der musikalischen Vergangenheit.
 Aufgrund der schwierigen Situation nach der Oktoberrevolution entschloss sich Prokof'ev 1918, Russland zu verlassen, und zog in die USA – im Unterschied zu vielen anderen ging er allerdings nicht als Emigrant. Der sowjetische Volkskommissar für Erziehung, Anatolij Lunačarskij, genehmigte seine Ausreise mit den Worten: „Sie sind Revolutionär in der Musik und wir sind es im Leben – wir müssten zusammenarbeiten. Aber wenn Sie nach Amerika wollen, werde ich Ihnen nichts in den Weg legen.“
 Dort gelang es ihm jedoch nicht, Fuß zu fassen, so dass er sich im April 1920 nach einem finanziellen Fiasko in Frankreich und im bayerischen Ettal niederließ. Seine vielfältigen Konzertreisen als Dirigent und besonders als Pianist führten ihn 1927 erstmals wieder in die Sowjetunion. Nach einigen Jahren des Pendelns zwischen Moskau und Paris ließ er sich 1936 endgültig in Moskau nieder. Seine Tonsprache in der zweiten „Auslandsperiode“ wurde entschieden „moderner“. Häufig setzt sich Prokofjew nun über die Tonalität hinweg. Klangballungen und stürmische Ausbrüche kennzeichnen viele seiner damaligen Werke.
 In der Sowjetunion steigerte Prokof'ev seine Produktivität; zugleich vereinfachte er seine Harmonik, seine Melodien wurden stärker konturiert, die Verbindung zur russischen Volksmusik intensiver. 1941 trennte er sich von seiner Familie und zog zu Mira Mendelson, die er 1948 heiratete.
 Seine noch im Krieg komponierte 5. Sinfonie und die 8. Klaviersonate wurden mit dem Stalinpreis ausgezeichnet. Doch im Sommer 1946 sah sich Prokof'ev – ebenso wie Šostakovič – erneut den Vorwürfen des Formalismus' und der zu großen Nähe zum Westen ausgesetzt.
 Obwohl sich seine Gesundheit, bedingt durch die Folgen eines Unfalls im Jahr 1945 mit einer schweren Gehirnerschütterung, in seinen letzten Lebensjahren zunehmend verschlechterte, blieb Prokof'ev bis zu seinem Tode unermüdlich tätig. Ab 1952 erhielt er eine staatliche Pension. Er verstarb am 5. März 1953 – am gleichen Tag wie Josef Stalin.
 Im Schatten der landesweiten Trauer um den Diktator blieb Prokof'evs Tod ohne Beachtung. Zu zehntem Todestag der beiden jedoch gedachte die Sowjetunion nur noch des Komponisten.



5. Sinfonie B-Dur Opus 100 (1944)

Orchesterbesetzung: Piccoloflöte, 2 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, kleine Klarinette, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 5 Schlagzeuger, Harfe, Klavier – Streicher (16-14-12-10-8)
Sätze: 1. Andante – 2. Allegro marcato – 3. Adagio – 4. Allegro giocoso
Spieldauer: ca. 45 Min.

1944 entstand die Fünfte Sinfonie von Sergej Prokof’ev. Der Komponist war kurz zuvor nach Moskau zurückgekehrt – wie zahlreiche andere Künstler hatte man ihn während der größten Kriegswirren evakuiert. Den Sommer und Herbst 1944 verbrachte er in Iwanow, einem kleinen Ort nördlich von Moskau. Neben Prokof‘ev waren auch Šostakovi? und Cha?aturjan dort. Unter geradezu luxuriösen Arbeits- und Lebensbedingungen schrieb Prokof’ev dort zwei seiner bedeutendsten Werke: die Achte Klaviersonate und die Fünfte Sinfonie. Mit diesen beiden Kompositionen erreichte er den Zenit seiner sowjetischen Karriere.
 Die Sinfonie wurde am 13. Januar 1945 in Moskau uraufgeführt. Sie ist die größtangelegte und klanglich mächtigste der sieben Sinfonien von Sergei Sergejewitsch Prokof’ev. Nach der Klassischen ist sie sein bekanntestes und am meisten aufgenommenes sinfonisches Werk. Von der Fortschrittlichkeit und der Komplexität der Sprache und des Ausdrucks her bleibt sie jedoch hinter der avantgardistischen Zweiten, der dissonanteren Dritten und der strukturell freieren Sechsten Sinfonie zurück.
 Wie auch Šostakovičs Siebente und Chatschaturjans Zweite Sinfonie fungierte Prokof’evs Fünfte als patriotisch-heroische, sowjetische „Kriegssinfonie“. „Mit dieser Sinfonie wollte ich ein Lied auf den freien und glücklichen Menschen anstimmen, seine schöpferischen Kräfte, seinen Adel, seine innere Reinheit. Ich kann nicht sagen, dass ich dieses Thema ausgesucht hätte – es entstand in mir und verlangte nach Ausdruck”, beschrieb Prokofjew im Jahr 1951 seine Fünfte Sinfonie.
 Das Werk besteht aus vier Sätzen.
 Der erste Satz ist ein ausgedehntes Andante in der Haupttonart B-Dur. In der klassischen Sonatenform gehalten, verarbeitet der Satz zwei Hauptthemen, beide von lichtem und freundlichem, durchaus erhebendem Charakter. Diese werden jeweils zuerst von den Holzbläsern (Flöte und Fagott) exponiert und geben dem Werk so einen lyrisch-optimistischen Ton. Im weiteren Verlauf steigert sich die musikalische Dramatik des Satzes, unterstützt durch die Hinzunahme von Schlaginstrumenten und Blechbläsern bis hin zu einem Abschluss von eindrucksvoller Wucht. So entwickelt sich aus dem leichten und freundlichen Anfang ein episch breiter Kopfsatz mächtiger, heroischer Färbung.
 Ein witziges, tänzerisches Scherzo schließt sich an. Im Allegro marcato-Tempo wird es bestimmt von einer lustigen Klarinettenmelodie und flott voranschreitenden staccato-Achteln der Violinen, deren Grundpuls sich fast durch den ganzen Satz zieht. Das tänzerische Hauptthema des Satzes wandert dabei mit viel musikalischem Witz durch die unterschiedlichen Stimmen. Immer wieder tauchen humorvolle klangliche Akzente auf, z.B. beständige Tonwiederholungen in der Trompete kombiniert mit stetig voranstrebenden Achteln des Fagotts. Im Trio erklingt ein Walzer mit markanten, auf- und abwärts geführten Bläserfiguren in ruhigerem Tempo. Dies wird wiederum mit Einsatz des Schlagzeugs gesteigert und endet in einem temperamentvollen wirbelnden Tanz, der zurück in das Scherzo führt, dessen Reprise den ersten Teil variiert. Nach dem Pathos des Kopfsatzes thematisiert dieser zweite Satz mit tiefsinnigem Humor und klanglichem Witz das spielerische, vielleicht auch leichtfertige, auch das manchmal lächerliche und die Narretei der menschlichen Natur.
 Dem leichtfüßigen zweiten folgt ein lyrisch beginnender dritter Satz, der rasch ungeahntes Konfliktpotenzial offenbart. Die Schattenseiten des „menschlichen Geistes“ drängen sich hier beinahe zwanghaft in den Vordergrund. Sanglichkeit und Wehmut stehen in frappierendem Gegensatz zu kämpferischer Gewalt und Bedrohung. Nach wenigen einleitenden Takten entfaltet sich in den Klarinetten eine an Puccini erinnernde, ausdrucksvolle Melodie, deren duolische Achtel sich rhythmisch an den begleitenden Streichertriolen reiben. Aus dem zweiten Thema, das durch punktierte Notenwerte charakterisiert ist, entsteht im Verlauf des Satzes ein quasi barocker Trauermarsch mit kräftigen Akzenten der Blechbläser, des Klaviers und der Pauken. Schnell abwärts gleitende Holzbläser- und Streicherlinien, kurze instrumentale „Schreie“ und immer heftiger werdende Akzente von Blechbläsern und Schlagwerk steigern den Trauermarsch zu einem Danse macabre, der sich möglicherweise auf die bedrohliche Seite des menschlichen Strebens nach Schönheit und Größe bezieht, das so leicht in Gewalt und Grausamkeit umschlagen kann. Zum Abschluss erscheint das lyrische Thema des Anfangs, jetzt in den zartesten Klangfarben, und nur noch vereinzelte Abwärtsläufe in den Streichern und leise Paukenakzente mahnen an die Zerbrechlichkeit des wiederhergestellten Friedens.
 Auch der Finalsatz lässt inmitten optimistischer Feierstimmung Zweifel an der Ungebrochenheit des Programms der Sinfonie anklingen. Nach ruhigen, sehr feierlichen Einleitungstakten zitieren die Celli vierstimmig das Hauptthema des Kopfsatzes. Rasch jedoch wird diese würdevolle Stimmung von ausbrechender Lebensfreude abgelöst. In einer fulminanten Steigerung scheint nun endlich die fröhliche, ausgelassene Feier des „Triumphs des menschlichen Geistes“ zu dominieren, doch in den letzten Takten des Werkes wird die Ernsthaftigkeit dieser Aussage einen Moment lang in Zweifel gezogen: Die nur noch solistisch besetzten Streicher brechen gemeinsam mit Klavier und Harfe in hektische Raserei aus, grob und brutal setzen Trompete und Englischhorn lang gehaltene Töne dagegen. Noch einmal scheint das Makabre und Groteske, das Monströse und Grausame auf, das als realistische Möglichkeit im menschlichen Handeln angelegt ist. Mit einem fast unerwartet kommenden Orchesterschlag wird dieser Gedanke abgeschnitten und die Sinfonie damit abrupt beendet.
 Sein Motto des „Triumphs des menschlichen Geistes“ hinterfragt Prokof’ev also von verschiedenen Seiten. In der triumphalen Oberfläche der Sinfonie zeigen sich im musikalischen Detail immer wieder Brüche und Widersprüche und es wird deutlich, dass Prokof’ev sich trotz der humoristischen Elemente und des insgesamt affirmativen Charakters der Sinfonie nicht unreflektiert einem vaterländisch motivierten Siegerpathos hingab, sondern musikalisch durchaus leisen Vorbehalt zu formulieren wusste.
 Ein Ereignis ist untrennbar mit der Rezeption der Sinfonie verbunden: Kurz vor Beginn ihrer Uraufführung am 13. Januar 1945 war der Sieg der Roten Armee an der Weichsel verkündet worden. Eindrucksvoll beschreibt Svjatoslav Richter das Konzert unter dem Dirigat des Komponisten: „Der Große Saal war wie gewöhnlich erleuchtet, aber als Prokof’ev aufstand, schien das Licht direkt von oben auf ihn herabzufallen. Er stand da wie ein Denkmal auf seinem Postament. Und plötzlich, als Stille eintrat und der Taktstock schon erhoben war, ertönten die Artilleriesalven. Er wartete und begann nicht eher, als bis die Kanonen schwiegen. Wie viel Bedeutsames und Symbolhaftes kam da zu Wort ...“
 Prokof’ev, der lange um die Anerkennung als sowjetischer Künstler gerungen hatte, erhielt für die Sinfonie – ebenso wie für seine Achte Klaviersonate – Anfang 1946 den Stalinpreis 1. Klasse. Weitere Preise und eine große Feier zu seinem Geburtstag im gleichen Jahr markierten den Höhepunkt seiner sowjetischen Karriere.
 Der „Triumph des menschlichen Geistes“ jedoch – im Sinne von innerer und äußerer Freiheit – war für ihn Utopie geblieben.


Aziz Shokhakimov

Leitung: Aziz Shokhakimov

1988 in Taschkent (Usbekistan) geboren. Er lernte als Sechsjähriger Violine und Bratsche und studierte Dirigieren bei Vladimir Neymer. Mit 13 gab er vor dem Nationalen Symphonieorchester Usbekistan sein Dirigentendebüt. Von 2006 bis 2012 war Aziz Shokhakimov Chefdirigent des Nationalen Symphonieorchesters Usbekistan. 2010 gewann er den 2. Preis beim Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb der Bamberger Symphoniker. Seit der Spielzeit 2015/16 ist er als Kapellmeister an der Deutschen Oper am Rhein engagiert. Bei den Salzburger Festspielen 2016 wurde er mit dem „Young Conductors Award“ ausgezeichnet und dirigierte dort 2017 das Preisträgerkonzert. In der Spielzeit 2017/18 dirigiert er an der Komischen Oper Berlin.