Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 23. Mai 2018


Sergej Rachmaninov: Klavierkonzert Nr. 2

Sergej Rachmaninov
Sergej Vasil'evič Rachmaninov (* 1873 Semënovo im Gouv. Nowgorod, † 1943 in Beverly Hills)

Durch einen verschwenderischen Lebensstil und fehlenden Geschäftssinn brachte Rachmaninovs Vater die fünf Landgüter, die die Mutter mit in die Ehe gebracht hatte, innerhalb von zehn Jahren durch. 1881 zog die Familie schließlich verarmt nach Petersburg, wo das Elternpaar sich trennte. Der Verlust der familiären Geborgenheit und der ländlichen Idylle löste bei Rachmaninov ein dauerhaftes Trauma aus, das er im Leben wie im Schaffen zu kompensieren versuchte. Nach anfänglichem Musikunterricht bei der Mutter und einer Studentin konnte er ab 1883 am Petersburger Konservatorium studieren, musste dies aber 1885 wegen schlechter Leistungen in den allgemeinen Fächern verlassen. Als Zwölfjähriger verließ er daher Petersburg und damit seine Familie, um im Hause des Klavierpädagogen Nikolaj Zverev in Moskau zu leben und zu studieren.
 Über diese Ausbildungszeit notierte er später: „Zverev verwandelte sein Haus, das ein musikalisches Gefängnis hätte werden können, in ein musikalisches Paradies. Sonntags wurde aus dem strengen Lehrer ein völlig anderer. Den Nachmittag und Abend pflegte er ein offenes Haus für die bedeutendsten Figuren der Moskauer Musikwelt. Čajkovskij, Taneev, Arenskij, Safonov und Ziloti schauten ebenso bei ihm vorbei wie Professoren der Universität, Juristen, Schauspieler, und die Stunden vergingen mit Gesprächen und Musik. […] Unsere Stegreif-Auftritte waren Zverevs größtes Vergnügen. Egal, was wir spielten, sein Urteil lautete stets: Ausgezeichnet! Gut gemacht! Hervorragend! Er ließ uns das spielen, wozu wir aufgelegt waren, und forderte die Gäste auf, sich seiner Meinung über uns anzuschließen.“
 1891 legte Rachmaninov im Moskauer Konservatorium seine Klavier- und Kompositionsprüfung ab und erhielt dafür die „Große Goldmedaille“ – die dritte in der Geschichte des Konservatoriums überhaupt. Seine Abschluss-Komposition, die Oper Aleko wurde im Bolschoi-Theater uraufgeführt und brachte ihm große Presseresonanz und diverse auswärtige Einladungen. Schon vorher hatte er großen Erfolg mit seinem Klavierkonzert Nr. 1, seinem Opus 1.
 Sein aufwendiger Lebensstil, seine Unfähigkeit zu unterrichten, sein Unwille zu reisen – er brach einige Konzerttourneen ab –, erschwerten seine Situation. Als 1897 seine 1. Symphonie unter der Leitung von Aleksandr Glazunov durchfiel – Zesar Kjui (Cui) fühlte sich beim Hören gar an eine Programmsymphonie zum Thema „Sieben ägyptische Plagen“ erinnert –, stürzte Rachmaninov in eine tiefe Schaffenskrise und in schwere Depressionen. Er komponierte nicht mehr. Die Familie seiner Tante überredete ihn schließlich, sich in ärztliche Behandlung zu begeben.
 Hilfe fand Rachmaninov bei einem der russischen Pioniere auf dem Gebiet der Psychiatrie, Dr. Nikolaj Dal', dem es gelang, ihm sein Selbstvertrauen zurückzugeben. Dal' behandelte seinen berühmten Patienten mittels Hypnose. Rachmaninov schrieb hierüber später: „Ich hörte die gleichen hypnotischen Formeln Tag für Tag wiederholt, während ich schlafend in Dal's Behandlungszimmer lag. ‚Du wirst dein Konzert schreiben … Du wirst mit großer Leichtigkeit arbeiten … Das Konzert wird von exzellenter Qualität sein …‘ Es waren immer dieselben Worte, ohne Unterbrechung. Auch wenn es unglaublich erscheint, diese Therapie half mir wirklich. Im Sommer begann ich zu komponieren. Das Material wuchs, und neue musikalische Ideen begannen sich in mir zu regen.“
 Rachmaninov begann mit der Arbeit an seinem 2. Klavierkonzert op. 18 in c-Moll, das heute zu den bekanntesten Konzerten der Romantik zählt, und widmete es aus Dankbarkeit seinem Arzt. Fertiggestellt waren zunächst der 2. und der 3. Satz, Rachmaninov spielte sie im Herbst 1900 vor Publikum. Den Kopfsatz komponierte er anschließend zügig. Am 27. Oktober 1901 wurde das gesamte Werk unter der Leitung von Alexandr Ziloti und mit Rachmaninov am Klavier uraufgeführt.



Klavierkonzert Nr. 2, c-Moll, op. 18 (1901)

Orchesterbesetzung: Solo-Klavier – 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen Tuba – Pauken, 4 Schlagzeuger, Harfe – Streicher (14-12-10-8-6, auch geteilt)
Sätze:1. Moderato
2. Adagio sostenuto
3. Allegro scherzando
Spieldauer: ca. 38 Min.
Widmung: Nikolaj Dal' (russ. Neurologe – siehe oben)
Uraufführung: 27. Oktober 1901, Moskau, Klavier: Rachmaninov, Alexandr Ziloti, Ltg.

Das Klavier beginnt solistisch mit acht großgriffigen Akkorden, die gleichsam Glockenschlägen wie aus der Ferne tönen und sich in der Lautstärke allmählich steigern.
 Danach setzt das erste Thema, eine schwermütige Melodie in c-Moll, im Orchester ein und wird von wirbelnden Läufen im Klavierpart begleitet. Anschließend wird das Thema von den Celli bzw. später allen Streichern weitergesponnen. Das Klavier übernimmt und geht in Fortsetzung in eine Art Kadenz über. Arhythmische Akkorde leiten das zweite, lyrische Thema in Es-Dur ein. Dies wird zunächst vom Klavier vorgestellt und schließlich vom Solisten wie dem Orchester weitergesponnen.
  Die Durchführung beginnt mit dem ersten Motiv des ersten Themas, dem die Querflöte mit dem Zuruf as² - b²- g² - as² - c² antwortet. Dieser Zuruf gewinnt im Folgenden an Bedeutung, wird moduliert und vom Klavier aufgegriffen. In Tonrepetitionen und markanten Akkorden bestimmt es schließlich das Wesen der Durchführung. Es wird von einer Tonart in die nächste geführt, die Modulationen reichen bis Gis-Dur. Motive des zweiten Themas scheinen in der Durchführung ebenfalls auf, bleiben aber im Hintergrund, weil das Klavier sie überlagert. Die Reprise beginnt im Orchester, dem das Klavier in massiver Bestimmtheit das Zuruf-Motiv akkordisch entgegensetzt. Das zweite Thema in As-Dur folgt rasch in den Hörnern und kurz danach wird die Schlussphase des ersten Satzes eingeleitet.
 Das Adagio sostenuto steht in E-Dur. Nach vier einleitenden Takten beginnt das Klavier mit einer ruhigen Sequenz von Arpeggien, welche in ihrer Wiederholung zur Begleitung des ersten Themas wird. Dieses stellt zuerst die Querflöte vor, die Klarinette übernimmt. Die Arpeggien zu je vier aufsteigenden Noten stehen gegen die Dreigliedrigkeit der Melodiestimme und bilden einen polyrhythmischen Effekt 4:3. Anschließend tauschen Solist und Orchester die Rollen. Im weiteren tritt ein zweites, leidenschaftlicheres Thema in Moll hinzu, das Orchester und Klavier durchführen. Abgerundet wird der Satz durch das Aufgreifen des ersten Themas, mit dem er auch beschlossen wird.
 Der 3. Satz in c-Moll beginnt mit einem Dialog zwischen Orchester und Klavier, das sich in virtuosen Läufen präsentiert bevor das eigentliche Thema beginnt, welches sprunghafte Kadenzen mit Läufen kombiniert. Ein Zwischenmotiv leitet den Übergang zu einem zweiten Thema ein. Die Durchführung mündet in einem erneuten Aufgreifen des Themas sowie in einem an die Virtuosität eines Pianisten hohe Ansprüche stellenden Schlusspart.
 Schon die Präsentation der zunächst fertiggestellten Sätze 2 und 3, die am 2. Dezember 1900 unter der Leitung von Alexandr Ziloti, mit Rachmaninov am Klavier der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, stieß trotz des fehlenden Kopfsatzes auf Begeisterung und einmütiges Lob. Der Musikkritiker Nikolaj Kaschkin schrieb: „Sein großes Talent hat schon seit langem nicht nur die Aufmerksamkeit in Russland auf sich gezogen, sondern auch im Ausland. Erst jetzt aber scheint es, als sei dieses Talent sich seiner inneren Kraft völlig bewusst und deshalb frei von dem früheren Zwang, außergewöhnlichen Effekten der Harmonik und Instrumentierung hinterherzulaufen. Die klassische Klarheit der Form, die Weite der Melodien, die Üppigkeit und Kraft der Harmonik zwingen uns, das Werk im echten Sinne des Wortes als bemerkenswert anzusehen.“
 Das Konzert genießt bis heute eine große Popularität wegen seiner ganz der Romantik geschuldeten, liedhaft-melodiösen Themen. Selbst Rachmaninovs 3. Klavierkonzert von 1909, das ähnlich angelegt ist, konnte ihm trotz großer Anerkennung nicht den Rang ablaufen.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.

Seong-Jin Cho

Klavier: Seong-Jin Cho

wurde 1994 in Seoul geboren und begann mit sechs Jahren Klavier zu spielen. 2012 zog er nach Paris, um bei Michel Béroff am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique zu studieren, an dem er im Jahr 2015 graduierte. Heute lebt er in Berlin. Er gewann zahlreiche Wettbewerbe, u.a. 2015 als erster koreanischer Pianist den ersten Preis beim renommierten Chopin International Piano Competition in Warschau. Er spielte mit zahlreichen Orchestern, etwa den Mόnchner Philharmonikern, der Tschechischen Philharmonie, dem Concertgebouw Orchester und dem Nippon Hōsō Kyōkai Orchestra. Seit 2016 ist er unter Vertrag der Deutschen Grammophon und spielte zwei Alben mit Werken von Chopin und Debussy ein.