Einführung zu den Konzerten und zum Video-Livestream des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 15. und 16. September 2022


Sergej Rachmaninov: Klavierkonzert Nr. 3, d-Moll, op. 30

Sergej Rachmaninov 1917
Sergej Vasil'evič Rachmaninov (* 1873 Semjonowo bei Staraja Russa im Gouvernement Nowgorod, Russisches Kaiserreich; † 1943 Beverly Hills, Kalifornien)

Durch einen verschwenderischen Lebensstil und fehlenden Geschäftssinn brachte Rachmaninovs Vater die fünf Landgüter, die die Mutter mit in die Ehe gebracht hatte, innerhalb von zehn Jahren durch. 1881 zog die Familie schließlich verarmt nach Petersburg, wo das Elternpaar sich trennte. Der Verlust der familiären Geborgenheit und der ländlichen Idylle löste bei Rachmaninov ein dauerhaftes Trauma aus, das er im Leben wie im Schaffen zu kompensieren versuchte. Nach anfänglichem Musikunterricht bei der Mutter und einer Studentin konnte er ab 1883 am Petersburger Konservatorium studieren, musste dies aber 1885 wegen schlechter Leistungen in den allgemeinen Fächern verlassen. Als Zwölfjähriger verließ er daher Petersburg und damit seine Familie, um im Hause des Klavierpädagogen Nikolaj Zverev in Moskau zu leben und zu studieren. Die Ausbildungszeit dort bezeichnete er später als „musikalisches Paradies“.
 1891 legte Rachmaninov im Moskauer Konservatorium seine Klavier- und Kompositionsprüfung ab und erhielt dafür die „Große Goldmedaille“ – die dritte in der Geschichte des Konservatoriums überhaupt. Seine Abschluss-Komposition, die Oper Aleko wurde im Bol'šoj-Theater uraufgeführt und brachte ihm große Presseresonanz und diverse auswärtige Einladungen. Schon vorher hatte er großen Erfolg mit seinem Klavierkonzert Nr. 1, seinem Opus 1.
 Ein aufwendiger Lebensstil, die Unfähigkeit zu unterrichten, sein Unwille zu reisen sowie Misserfolge insbesondere seiner 1. Symphonie d-Moll von 1897 stürzten Rachmaninov in eine tiefe Schaffenskrise und in schwere Depressionen. Erst die Behandlung durch einen der russischen Pioniere auf dem Gebiet der Psychiatrie, Nikolaj Dal', mittels Hypnose gab ihm sein Selbstvertrauen zurück. Rachmaninov begann mit der Arbeit an seinem 2. Klavierkonzert op. 18 in c-Moll, das heute zu den bekanntesten Konzerten der Romantik zählt, und widmete es aus Dankbarkeit diesem Arzt.
 Rachmaninovs Erfolge als Pianist waren so exzeptionell, daß sie sein Wirken als Komponist und Dirigent fast verdeckten. Seine Spitzenstellung verdankte er seiner makellosen virtuosen Technik, deren unaufdringlichem und rationellem Einsatz sowie einer aristokratisch reservierten Eleganz, transparenter Klarheit, geschmackvoller Phrasierung und der künstlerischen Autorität seines Spiels. Mit dem nachschöpferischen Verständnis des Komponisten kalkulierte er planvoll die Architektonik der Werke, ohne dabei trocken analytisch zu werden. Seine Interpretationen waren perfekt durchdachte und unverrückbare Deutungen, jedoch ohne unbedingte Werktreue und geprägt von einem körperhaften Ton. Sein Klavierspiel verband eine ebenso delikate wie nüchterne, rhythmisch straffe, ja beinahe scharfkantige Werkauffassung, die insbesondere emotional aufgeladener Musik zugute kam. Hierin und nicht nur in seinem asketisch-starren Erscheinungsbild war er ein Interpret mehr des mittleren als des frühen 20. Jh., neben Józef Hofmann, dem Widmungsträger seines dritten Klavierkonzertes, wohl der größte Pianist seiner Generation überhaupt.
 1902 heiratete Rachmaninov seine Cousine Natalja Aleksandrovna Satina. 1904 wurde er für zwei Jahre Dirigent am Bol'šoj-Theater. Unter seiner Leitung wurden gleich neue Regeln eingeführt: Das Dirigentenpult, das seine Vorgänger neben den Souffleurkasten platziert hatten, verfrachtete er zurück in den Orchestergraben. Außerdem verfügte er, dass Musiker während einer Aufführung nicht einfach den Orchestergraben verließen. Mit seinem harten Durchgreifen war Rachmaninov erfolgreich und die Besprechungen seiner Aufführungen waren in der Presse sehr positiv.
 Die Wintermonate der Jahre 1906 bis 1908 verbrachte Rachmaninov mit seiner Familie in Dresden, dort komponierte er die 2. Sinfonie op. 27, die 1. Klaviersonate op. 28 und die sinfonische Dichtung Die Toteninsel op. 29. 1909 kehrte er nach Russland zurück und bereitete sich dort auf eine Konzerttournee durch die Vereinigten Staaten vor. Dafür komponierte er sein 3. Klavierkonzert in d-Moll. Die exorbitante Virtuosität dieses Konzerts war selbst Rachmaninow nicht geheuer; noch auf der Überfahrt nach Amerika übte er daran mit Hilfe einer stummen Klaviatur. Die Auftritte in den USA konnte er als Erfolg verbuchen, auch wenn er persönlich vom amerikanischen Publikum enttäuscht war und nicht verstehen konnte, dass sie ihn auf den Komponisten des berühmten cis-Moll-Präludiums reduzierten.



Klavierkonzert Nr. 3, d-Moll, op. 30 (1909)

Orchesterbesetzung: Solo-Klavier – 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 2 Schlagzeuge – Streicher
Sätze: 1. Allegro ma non tanto
2. Intermezzo (Adagio)
3. Finale (Alla breve)
Spieldauer: ca. 40-45 Min.
Widmung:: Józef Hofmann
Uraufführung: 28. Nov. 1909, New York, New York Symphony Orchestra, Sergej Rachmaninov – Klavier, Walter Damrosch – Ltg.

Rachmaninov legte sein Konzert – wie in der Romantik üblich – dreisätzig an. Die Wahl der Tonart d-Moll, in der bereits eine unvollendete Jugendsymphonie, die 1. und 2. Symphonie sowie Die Toteninsel op. 29 stehen, hat zu diesem Zeitpunkt längst eine emblematische, selbstreferenzielle Bedeutung, die in der oft isoliert exponierten Quinte d-a chiffriert scheint: re – la – (chmaninov). Der Pianist Józef Hofmann, dem Rachmaninov das Konzert gewidmet hatte, hat es nie gespielt. Er lehnte es als „formlos“ ab, was nachvollziehbar ist, wird doch die motivisch-thematische Organisation des Materials und die Qualität seiner Melodien bisweilen erstickt von den ausufernden Girlanden, halsbrecherischen Läufen und dröhnenden Akkordpassagen des Solisten. Vielleicht hat die Ablehnung aber auch mit den vielen großen Griffen zu tun, denn Hofmann hatte relativ kleine Hände.
 Der erste Satz kann als Sonatensatzform verstanden werden. Nach zweitaktiger Orchestereinleitung spielt das Solo-Klavier in Oktaven das berühmt gewordene erste Thema, das von vielen aufgrund seiner Schlichtheit und seines wehmütigen Charakters für die Bearbeitung eines russischen Volks- oder Kirchenliedes gehalten wurde; Rachmaninov widersprach dem entschieden. Während Horn und Viola das Thema wiederholen, startet das Soloklavier Arpeggio-Girlanden, die schließlich in eine erste kurze Kadenz münden. Nach einem kurzen Resümee des Orchesters beginnt im Wechsel zwischen Streichern und Klavier ein zweites kurzes und prägnantes Thema, aus dem sich geführt vom Solo-Instrument eine freie Durchführung entspinnt. Eine kurze Schein-Reprise unterbricht nur kurz, bevor das freie Spiel fortgesetzt wird, das in große Steigerungen und schließlich in eine große Solo-Kadenz mündet, in deren Mitte die Holzbläser und das Horn nacheinander Variationen des ersten Themas einbringen. Die Reprise beschränkt sich auf das erste Thema, das zweite wird nur kurz als Fragment angedeutet, bevor der Satz kurz und knapp endet. Zunächst schrieb Rachmaninov eine andere, noch klanggewaltigere Kadenz. Doch er ersetzte sie noch vor der Uraufführung durch die heute übliche, welche er auch selbst ausschließlich spielte.
 Der zweite Satz beginnt liedartig mit einem schwermütigen, typisch russischen Thema, das in seinen chromatischen Abwärtsgängen an Grieg'sche Harmonik erinnert. Bereits mit dem ersten Einsatz des Soloinstruments verschwindet der Adagio-Charakter, das Klavier treibt, geht vorwärts mit virtuosen Akkord- und Arpeggio-Passagen, während das Orchester das Anfangsthema immer weiter verändert. Am Ende des Intermezzos ist ein schneller Scherzo-Teil in fis-moll (Poco più mosso) eingearbeitet. Damit knüpft Rachmaninov an die Viersätzigkeit an und er schafft mit diesem Abschnitt gleichzeitig einen Übergang in den dritten Satz, der ohne Pause folgt.
 Der Taktwechsel vom ¾-Takt zum Alla breve und die veränderte Atmosphäre machen deutlich, dass hier ein neuer Satz angefangen hat. Das Finale kann wieder als Sonatenhauptsatzform verstanden werden. Die Exposition weist drei klar unterschiedene Themen auf: Das erste ist angereichert mit vielen Tonwiederholungen und lebt von dem Gegensatz eines einfachen Aufschwungs, der um einen Ton tiefer versetzt wiederholt wird, um dann in einen chromatisch angereicherten Abwärtsgang zu münden. Das zweite synkopierte Thema in Bogenform wird zunächst vom Klavier eingeführt, mehrfach wiederholt, um dann direkt in das dritte Thema zu münden, das einen aufsteigenden Dreiklang mit stufenweise absteigender Linie aufweist. Mit großer Geste eröffnet das Orchester die Durchführung, nimmt aber die Energie sofort wieder zurück und führt in die Ruhe, bevor der Solist das Heft wieder in die Hand nimmt und sein freies Spiel mal nervös und schnell, dann wieder überaus ruhig weiterführt. Die Reprise startet mit dem ersten Thema aber jetzt in den Streichern. Die beiden anderen Themen erscheinen ganz regulär. Eine martialische Coda schließt sich an, die in großer Steigerung zunächst nach Dur und dann in eine Solo-Kadenz führt. Zum Schluß erklingt mit einer Siegeshymne, die sich aus den Seitenthemen des ersten und dritten Satzes zusammensetzt, der Höhepunkt des gesamten Konzerts, das im Klangrausch eines strahlenden D-Dur endet.
 In mehrfacher Hinsicht ist dieses Konzert ein Endpunkt in Rachmaninovs Schaffen – nach außen im pianistischen Aufwand, nach innen als Krise der Dur-Apotheose, die schon immer an gewaltsame Kraftanstrengung gekoppelt war.


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.


Aleksandr Malofeev

Solist: Aleksandr Malofeev

Der russische Pianist wurde 2001 in Moskau geboren. Er erhielt seit seinem fünften Lebensjahr Klavierunterricht. Er war Schüler am Gnessin-Institut Moskau bei Elena Beryozkina und Stipendiat u. a. der Mstislav-Rostropovich-Stiftung. Seine Mentoren waren Waleri Giergijev und Denis Matzujew. Seit 2019 studiert er am Moskauer Konservatorium bei Sergei Dorensky. Malofeev gewann bei internationalen Wettbewerben zahlreiche Preise, so etwa 2014 den Grand Prix des „International Rachmaninoff Young Pianists Competition“ in Novgorod und den Sonderpreis für die beste Interpretation von Werken Johann Sebastian Bachs. In Moskau gewann er 2014 den ersten Preis und die Goldmedaille beim 8. „International Tchaikovsky Competition for Young Musicians“ und 2016 den Grand Prix beim Internationalen Klavier-Wettbewerb „Grand Piano Competition“. Er konzertierte bereits in Europa, China, Japan, Australien und in den USA.
Er lebt heute in Berlin und sprang hier kurzfristig als Ersatz für den erkrankten Evgeny Kissin ein.