Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 19. Februar 2020


Jean Philippe Rameau: Suite aus „Les Boréades“ (Fassung Riccardo Minasi 2020)

Jean Philippe Rameau
Jean Philippe Rameau (* 1683 in Dijon, † 1764 in Paris)

Rameaus Vater war Organist, Jean-Philippe kam als achtes von elf Kindern zur Welt, er wurde am Jesuiten-Collège in Godran ausgebildet und assistierte ab 1699 dem Vater als Organist. Achtzehnjährig unternahm er eine Italienreise, die aber nur bis Mailand führte. Er wirkte dann in verschiedenen Städten, als Orchestergeiger und Organist. 1706 veröffentlichte er seine erste Sammlung Pièces de clavecin. Bis 1709 war er Titularorganist mehrerer Pariser Kirchen, jedoch sind keine Orgelwerke von seiner Hand bekannt. 1709 übernahm er die Stelle seines Vaters als Organist an der Kirche Notre-Dame de Dijon. 1713 wechselte er nach Lyon, 1715 nach Clermont-Ferrand. 1722 ließ er sich endgültig in Paris nieder.
 Wenig später erschien sein erstes musiktheoretisches Werk: Traité de l'harmonie réduite ΰ ses principes naturels (Abhandlung über Harmonie reduziert auf ihre natürlichen Prinzipien). Vier Jahre später erschien auch das ergänzende Werk Nouveau Système de musique theorique (Neues System der Musiktheorie). Damit begründete er die moderne Musiktheorie für Akkord- und Harmonielehre und erwarb sich einen Ruf als Theoretiker. Anders als seine Vorgänger Johannes Kepler, Christiaan Huygens und Leonhard Euler versuchte Rameau im Stile René Descartes', dessen Discours de la méthode er gelesen hatte, sich von den Lehrmeinungen der Autoritäten zu befreien und seine Harmonielehre streng deduktiv zu begründen, basierend auf dem Prinzip la corde est ΰ la corde ce que le son est au son („die Saite verhält sich zur Saite wie der Ton zum Ton“). Er prägte mit „l'accord tonique“ den Begriff Tonika für einen Dreiklang. Auch die Bezeichnungen Subdominante und Dominante gehen auf Rameau zurück, in dessen System sie allerdings einen anderen Sinn als heute hatten. Seine Harmonielehre wird oft auch als Fundamentalbasstheorie bezeichnet.
 Bis zum Alter von fünfzig Jahren beschränkte sich sein kompositorisches Schaffen auf einige Kantaten, Motetten, Bühnenmusiken und drei Sammlungen von Cembalostücken. Die beiden letzten dieser Sammlungen wiesen eine große Originalität auf und platzierten Rameau unter die Besten seiner Zunft in Frankreich. 1723 begann die Zusammenarbeit Rameaus mit dem Schriftsteller Alexis Piron. Er schrieb seine ersten Bühnenmusiken zu vier von dessen Komödien. Allerdings sind keine dieser Kompositionen erhalten geblieben.
 Nach mehreren Misserfolgen gelang es Rameau 1733, sein erstes szenisches Werk aufzuführen, das Operndrama Hippolyte et Aricie nach Jean Racines Tragödie Phèdre. Dieses Werk steht in der Tradition von Jean-Baptiste Lully, aber es übertrifft bei weitem den bisher gewohnten musikalischen Reichtum. Ein Zeitgenosse meinte, „diese Oper enthält genügend Musik, um daraus zehn zu schaffen“.
 Rameau erntete den höchsten Ruhm und wurde von Ludwig XV. in den Adelsstand erhoben, zum „compositeur de la musique du Cabinet“, zum Kabinettskomponisten ernannt und erhielt eine Pension von 2.000 Livres. Opern, heroische Werke, Ballettmusiken folgten Werk auf Werk bis zu seinem Tode. Rameau wechselte sehr häufig seine Librettisten, fand jedoch keinen, der seinen Ansprüchen genügte und einen der Qualität seiner Musik entsprechenden Text schreiben konnte. Gleichzeitig war er unermüdlich mit theoretischen Arbeiten beschäftigt und bestrebt, seinen Prinzipien, die später die Grundlage der Harmonielehre bilden sollten, Geltung zu verschaffen.
 Seine letzten Lebensjahre widmete Rameau der Komposition neuer Bühnenwerke – Les Paladins (1760) und Les Boréades (1763) – und der Bearbeitung früherer Werke – Zoroastre (1756) und Les Surprises de l'amour (1757).
 Intensiv beschäftigte sich Rameau mit der Dramaturgie der Oper. In seinen großen dramatischen Szenen zeigt sich sein Bemühen um Kohärenz und Vereinheitlichung. Eine der ausgereiftesten Szenen findet sich in Les Fκtes de l'Hymen et de l'Amour (1739), die ein Air, ein Quintett, einen Chor und ein Quartett mit Chor vereint. Dieses Streben nach einer einheitlicheren Konzeption der Oper manifestiert sich darüber hinaus nicht nur in der musikalischen Charakteristik – etwa durch die Verwendung dunkler Tonarten und repetierten Noten für düstere Figuren oder durch Verwendung zarter pastoraler Klangfarben, fast systematischem Einsatz von Flöten mit Streichern und zwanglosen Rhythmen für Liebespaare oder auch die Art der Orchestrierung und die Verwendung skandierender Rhythmen für unheilbringende Mächte (Borée in Les Boréades) handeln kann –, sondern Rameau bereitete auch den Weg für die Verwendung wiederkehrender Motive (Pigmalion - 1748).
 Nach Rameaus Tod geriet sein musikalisches Werk in Vergessenheit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde erstmals wieder die Ballettmusik La Guirlande aufgeführt. Ein Meilenstein war auch Nikolaus Harnoncourts Aufführung und Einspielung von Castor et Pollux mit dem Concentus musicus Wien 1976. Nach und nach erscheinen seine Werke wieder auf den Spielplänen der Opernhäuser. Die Mehrzahl seiner Werke, ehemals für unspielbar gehalten, ist heutzutage in den Repertoires der berühmtesten Barockensembles zu finden, verständlicherweise besonders in Frankreich.



Suite aus „Les Boréades“ (1763 / 1982); Fassung Riccardo Minasi (2020) (1872)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten (beide auch Picc.), 2 Oboen, 2 Fagotte – 2 Naturhörner – 2 Schlagzeuger – Streicher (10-8-6-4-2) – Continuo mit Cembalo
Spieldauer: ca. 25 Min.
Uraufführung der Oper: konzertant am 14. April 1975 in London, Ltg.: John Eliot Gardiner;
szenisch am 21. Juli 1982 in Aix-en-Provence, Ltg.: John Eliot Gardiner, Regie: Jean-Louis Martinoty.

Die Oper komponierte Rameau im Auftrag der Pariser Oper, sie wurde im Sommer 1764 geprobt. Rameau starb am 12. September an einem „fauligen Fieber“ und konnte nicht mehr für die Aufführung sorgen. Sie wurde vor der Premiere aufgegeben und zu seiner Zeit weder aufgeführt noch veröffentlicht.
 Eine handgeschriebene Orchesterpartitur, die in der Nationalbibliothek aufbewahrt wird, trägt auf dem Schutzblatt eine Notiz, die Jacques Joseph Marie Decroix, einem Liebhaber der Musik Rameaus (1746-1826), zugeschrieben wird: „Diese Tragödie ist Rameaus letztes musikalisches Werk. Die Königliche Musikakademie war gerade dabei, sie einzustudieren, als der Autor im September 1764 starb. Die Aufführung fand nicht statt. Der Text und die Musik wurden weder gestochen noch gedruckt.“
 Der Autor des Librettos ist nicht sicher, oft wird dies Louis de Cahusac zugeschrieben, einem Librettisten weiterer Werke Rameaus. Dieser ist allerdings bereits 1759 gestorben, so bleibt das zweifelhaft.
 Im Mittelpunkt der Oper steht die Liebe zwischen Alphise, der Königin von Baktrien, und Abaris, einem untergeordneten Gehilfen des Apollon-Priesters. Diese Liebe ist so tiefgehend, dass Gesellschaftsunterschiede und gesellschaftlichen Konventionen daneben bedeutungslos werden. Alphise gibt sogar den Thron auf, um mit ihrem Geliebten zusammen zu sein. Das Libretto trägt freimaurerische Elemente und beinhaltet egalitäre Gedanken der französischen Revolution.

 Die heute zu hörende Suite hat Riccardo Minasi aus den instrumentalen Ouvertüren und Tänzen der Oper zusammengestellt. Wahrscheinlich klingt diese Suite in dieser Form zum ersten Mal.
 Sie besteht aus folgenden Teilen:

Ouvertüre. Vif – Menuet – Allegro
Entrée der Polyhymnia, der Musen, Zéphire, der Jahreszeiten, Stunden und Künste
Entrée der baktrischen Völker (aus der Suite von Borilée und Calisis)
Contredanse (aus der Suite von Borilée und Calisis)
Suite der Winde
1ere Gavotte für die Stunden und den Zephir – 2eme Gavotte – 1ere Gavotte
1ere Menuet (aus den Suiten der Liebe und des Vergnügens) – 2eme Menuet
1ere Contredanse (aus den Suiten der Liebe und des Vergnügens) – 2eme Contredanse –
   1ere Contredanse


Riccardo Minasi

Leitung: Riccardo Minasi

Der ialienische Geiger und Dirigent wurde 1978 in Rom geboren. Als Geiger spielte er in zahlreichen Ensembles, wie dem: „Le Concert des Nations“ unter Jordi Savall, der „Accademia Bizantina“, dem „Concerto Italiano“, mit „Il Giardino Armonico“, dem „Concerto Vocale Gent“ unter Renι Jacobs, dem „Collegium 1704“ und dem „Ensemble 415“ unter Chiara Banchini. Als Dirigent arbeitete er mit der „Kammerakademie Potsdam“, dem „Ensemble Resonanz“, dem „Zürcher Kammerorchester“, dem „Balthasar-Neumann-Ensemble“ und dem „Helsinki Baroque Orchestra“, dessen 1. Kapellmeister er seit 2008 ist. 2007 gründete er das Kammer-musikensemble „Musica Antiqua Roma“. Als Chefdirigent des Ensembles „Il pomo d’oro“ gastierte er in wichti-gen Häusern ganz Europas. Im Dezember 2016 wurde er als Nachfolger von Ivor Bolton zum Chefdirigenten des Mozarteumorchesters Salzburg bestellt. Im September 2018 begann er für 2 Spielzeiten als „Artist in Residence“ des „Ensemble Resonanz“ an der Hamburger Elbphilharmonie.