Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 8. Juni 2022


Maurice Ravel: Sonate pour violon et piano,
Version fόr Violine und Orchester

Maurice Ravel
Maurice Ravel (* 1875 in Ciboure, frz. Baskenland; † 1937 in Paris)

1889 bis 1895 studierte Ravel Klavier am Pariser Konservatorium, musste aber wegen mangelnden Engagements die Meisterklasse verlassen. In späteren Jahren sollte er sich nur noch ans Klavier setzen, um eigene Kompositionen zu Gehör zu bringen – und selbst das nur widerwillig. 1897 trat er in die Kompositionsklasse von Gabriel Fauré ein, daneben studierte er Kontrapunkt, Fuge und Orchestration bei André Gedalge. Fauré war es auch, der Ravel Zutritt zu den mondänen Salons des damaligen Paris ermöglichte. Über die dortigen Erlebnisse spottete Ravel und amüsierte sich mit kultiviert blasierten, zynischen Auftritten mit plissiertem Hemd und Monokel. Wurde er gefragt, welcher Schule oder Strömung er angehöre, pflegte er zu antworten: „Überhaupt keiner, ich bin Anarchist.“
 Zwischen 1900 und dem 1. Weltkrieg war seine produktivste Zeit. Hatte er bis dahin fast ausschließlich Klavierstücke und Lieder geschaffen, erschloss er sich mit der Orchester-Ouvertüre Shéhérazade (1898), dem F-Dur-Streichquartett (1903), der Rhapsodie espagnole (1908), die Manuel de Falla auffiel, der Oper L’Heure espagnole (1909) und der im Auftrag Sergej Djagilevs komponierten Ballettmusik Daphnis et Chloé (1912) jetzt auch größere musikalische Formen.
 Der erste Weltkrieg und der Tod seiner Mutter 1917 warfen ihn aus der Bahn. Erst mit der Uraufführung von La Valse – Poème choréographique pour orchestre Ende 1920 kehrte er in das öffentliche Musikleben zurück. Im Laufe der 1920er Jahre avancierte er durch zahlreiche Konzerttourneen im Ausland zum führenden Repräsentanten zeitgenössischer französischer Musik. Gleichzeitig entstanden – trotz zunehmender körperlicher Beschwerden – Kompositionen, die zu Ravels bedeutendsten gehören. Sämtliche Gattungen – Lied, Oper, Kammer- und Orchestermusik – waren vertreten. Es fehlte nur die Klaviermusik, die bis zum Krieg – nicht nur als Experimentierfeld – eine bedeutsame Rolle gespielt hatte.
 Ravels Absicht, Ausdruck durch kompositorische Verfahren der Indirektheit und Brechung möglich zu machen, das seiner Musik eigene Paradox, klangliche Opulenz aus einer Reduktion der Mittel hervorgehen zu lassen, und die satztechnisch-harmonische, nicht thematische Fundierung seines Tonsatzes fand nur bei wenigen seiner Hörer Gefallen.



Sonate pour violon et piano (1923-1927)
Version für Violine und Orchester (2016) arrangiert von Yan Maresz (* 1966)

Orchesterbesetzung: Solo-Violine – 2 Flöten (eine auch Piccolo), 2 Oboen (eine auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte (eines auch Kontrafagott) – 2 Hörner, 2 Trompeten – Harfe, Celesta – Streicher
Sätze: 1. Allegretto
2. Blues: Moderato
3. Perpetuum mobile: Allegro
Spieldauer: ca. 19 Min.
Auftrag des Orchestre National de Lyon
Uraufführung: 9. April 2016, Lyon, Orchestre National de Lyon, Renaud Capuçon – Violine, Leonard Slatkin – Ltg.

Die Sonate pour violon et piano ist das letzte Kammermusikwerk Ravels. Es ist der Geigerin Hélène Jourdan-Morhange gewidmet und wurde am 30. Mai 1927 von Ravel selbst am Klavier und dem Geiger Georges Enesco uraufgeführt.
 Für das klanglich reduzierte und streng komponierte Duo Ravels forderte Hélène Jourdan-Morhange, die Interpreten müssten in der Lage sein, der Musik eine weiße Farbe zu geben, sie sollten den Klang mit immaterieller Klarheit prägen und dürften die figurative Beweglichkeit nicht durch expressive Aufladung von Details zerstören.
 Die Orchestrierung des französischen Komponisten Yan Maresz löst sich von der Strenge, der rhythmischen Härte und der klaren Polarität der beiden Duo-Instrumente und überführt die Komposition in ein abwechslungsreiches buntes Spiel.
 Der erste Satz der Sonate beginnt mit einem ab- und wieder aufsteigenden Thema, das die Violine in der oberen Quinte übernimmt. Die Exposition enthält vier verschiedene Themen, die ausgeschöpft, weiterentwickelt und verändert werden. Der Satz strahlt Eleganz und Sinnlichkeit aus; das Legato-Spiel der Violine schwirrt durch das Orchester, vereint in einem reichhaltigen Tanz. Die Spuren der strukturellen Gestaltung sind in diesem Satz verwischt, er ist wie ein Trompel'oeil aufgebaut, kontrastiert mit vielen Farben und Verknüpfungen und entfaltet einen zweideutigen Dialog durch seine Kunst der Ähnlichkeit des Verschiedenen.
 Der mittlere Satz „Blues“ greift auf einige Elemente des Jazz zurück. Der pizzicato-Beginn verweist auf das Banjo oder das „pumpende“ Spiel der Gitarre, die alle Taktzeiten markiert. Der G-Dur-Tonart der Geige setzt die Begleitung ein As-Dur entgegen. Die Melodie à la Blues erinnert an das verschleifende Spiel eines Saxophons.
 Das Finale „Perpetuum mobile“ beginnt mit einem bewusst zögerlichen Rhythmus, der das kurze, staccato-artige Motiv des ersten Satzes wieder aufgreift, um dann plötzlich einen ununterbrochenen Lauf mit einer geölten Mechanik und den sich wiederholenden, obsessiven und schwindelerregend rotierenden Motiven durchzusetzen. Wie eine Lokomotive rast der Bogen des Geigers durch atemberaubende Sechzehntelnoten, die er in Tonleitern, Arpeggien, gebrochenen Akkorden usw. abwandelt. Das Orchester greift das schnelle Tempo auf und fügt in perfekter Synchronisation als Begleiter mit Nachdruck mal diskrete, mal stärkere Punktierungen und gegenläufige Akzente hinzu, fragmentierte Reminiszenzen an die beiden vorangegangenen Sätze, für ein perfektes Amalgam, das zum Glühen gebracht und in weniger als vier Minuten auf den Punkt gekocht ist!


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.

Renaud Capuçon

Solist: Renaud Capuçon

Der französische Violinist wurde 1976 in Chambéry geboren. Mit 14 Jahren begann er sein Violin- und Kammermusik-Studium am Pariser Konservatorium bei Gérard Poulet und konnte dies drei Jahre später erfolgreich abschließen. Weiter studierte er bei Thomas Brandis und Isaac Stern. Mit seinem jüngeren Bruder, dem Cellisten Gautier Capuçon, spielte er das Doppelkonzert op. 102 von Johannes Brahms ein. Mit seinem Bruder und dem Pianisten Frank Braley konzertiert er regelmäßig in Kammermusikprojekten. Von 2006 bis 2010 war er Exklusivkünstler am Konzerthaus Dortmund. Seit 2014 hat er eine Professur für Violine an der Haute École de Musique in Lausanne. Seit 2013 ist er künstlerischer Leiter des von ihm gegründeten Osterfestivals in Aix-en-Provence, seit 2016 auch der Sommets Musicaux de Gstaad. Ab der Saison 2021/22 ist Capuçon künstlerischer Leiter des Orchestre de Chambre de Lausanne; seine erste Einspielung mit dem Ensemble, die im September 2021 erschien, war der Musik von Arvo Pärt gewidmet.