Einführung zu den Konzerten und zum Video-Livestream des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 15. und 16. September 2022


Nikolaj Rimskij-Korsakov: Scheherezade op. 35

Nikolaj Rimskij-Korsakov 1890
Nikolaj Andreevič Rimskij-Korsakov (* 1844 in Tichwin, Gouvernement Nowgorod; † 1908 Gut Ljubensk bei Luga, Gouvernement Sankt Petersburg)

Rimskij-Korsakov, der mit 12 Jahren in die Marine-Kadettenschule eintrat, gehörte ab 1861 zum Kreis der Balakirev-Schüler, die man später „das mächtige Häuflein“ nannte. Milij Balakirev, der Mentor dieser Gruppe, war der Überzeugung, dass sich die handwerklichen Grundlagen des Komponierens nicht durch Studieren der Musikgeschichte oder dem Schreiben von Übungsstücken, sondern durch die Komposition konkreter Werke entwickeln würden. So war eine der ersten Arbeiten Rimskij-Korsakovs die es-Moll-Symphonie, an der er bis 1865 arbeitete, als sie unter der Leitung Balakirevs aufgeführt wurde. Diese Symphonie krankt – wie viele Werke des Balakirev-Kreises – an einem Missverhältnis zwischen künstlerischem Anspruch und handwerklichem Können. Beethovens Komplexität wird zum Vorbild erklärt, die Form aber als Schablone behandelt.
 Als Rimskij-Korsakov 1871 eine Professur für Komposition und Instrumentation, sowie die Leitung des Orchesters am Konservatorium Petersburg angetragen wurde, begann er mit großem Eifer und Akribie nachzuholen, was ihm an handwerklicher Ausbildung fehlte. Er ließ sein Schaffen liegen, beschäftigte sich mit Satztechnik und Kontrapunktstudien, eignete sich systematische Kenntnisse der Instrumente an und arbeitete seine frühen Werke um.
 Als 1881 Modest Musorgskij und 1887 Aleksandr Borodin – beides Komponistenfreunde und dem Balakirev-Kreis zugehörig – starben, machte sich Rimskij-Korsakov daran, die unvollendeten Werke der beiden für die Nachwelt einzurichten, zu überarbeiten und zu redigieren. Aus den Materialien zu Borodins Knaiz' Igor' (Fürst Igor), an dem Rimskij-Korsakov schon zu Lebzeiten seines Komponistenkollegen als Instrumentator Anteil hatte, machte er gemeinsam mit Aleksandr Glazunov eine aufführbare Partitur; die Oper wurde 1890 uraufgeführt.
 Diese Arbeit öffnete ihm auch wieder den Weg zu eigenen Kompositionen. Es entstanden neben geistlichen Chorwerken für die Hofsängerkapelle kleine Kammermusikwerke, meist für den Mäzen und Förderer russischer Musiker Mitrofan Belajev und seinen Kreis, und eine Reihe von Orchesterwerken, die alle auf nationales Lokalkolorit Bezug nehmen, wie das Kapriččio na ispanskie temy (Capriccio über spanische Themen), die Suite Šecherazada (Scheherezade), die Malorusskaja fantazija (Kleinrussische Fantasie) und Svetlyi prazdnik (Ouvertüre zum russischen Osterfest), das liturgische Melodien wie Volkslieder verarbeitet. Er orientiert sich an einem Stilideal einer nationalen Musik – definiert über Volksliedanklänge und einem Sujet aus nationaler Mythologie oder Märchenwelt. Hierin folgt er der von Balakirev und Vladimir Stasov propagierten Ausrichtung. Allerdings zeigt sich ein waches Bewußtsein für das Verhältnis zwischen Folklorezitaten bzw. anspielungen und Formgestaltung und seine Werke mit Folklorethemen verknüpfen sich nicht mit national-politischen Forderungen wie etwa bei Balakirev. Rimskij-Korsakovs programmsymphonische Werke verzichten auf direkte Folklore-Zitate, folgen aber insofern der Idee national ausgerichteter Musik, als sie ihre Sujets aus den jeweilig gewählten folkloristischen Kontexten wählen.
 Im Frühjahr 1889 wurde am Petersburger Mariinskij-Theater Wagners Ring des Nibelungen aufgeführt und Rimskij-Korsakov besuchte zusammen mit Glazunov sämtliche Proben. „... wobei wir jeden Takt anhand der Partitur verfolgten. ... Von nun an machten wir uns nach und nach die Methoden seiner Instrumentationskunst zu eigen,“ so berichtete Rimskij-Korsakov und merkte an, dass er diese Besonderheiten sogleich auf die Polonaise aus Musorgskijs Boris Godunov anwandte, die dann konzertant aufgeführt wurde. Welche Bedeutung diese Beschäftigung mit Wagners Musik für Rimskij-Korsakov hatte, zeigte sich in seiner erneuten Hinwendung zur Oper nach knapp zehnjähriger Pause. Er nahm sich den einst als kollektives Projekt geplanten Mlada-Stoff vor, ein Sujet an der Schwelle zwischen heidnischen Kulten und Christentum. Und er überarbeitete nochmals seine älteren Hauptwerke, änderte vor allem die Behandlung der Bläser.
 Strenggenommen hat Rimskij-Korsakov als Komponist erst nach Čajkovskijs Tod 1893 wirklich zu sich selbst gefunden, erst ab da präsentiert er sich als Opernkomponist mit einer eigenen Ästhetik. Alle früheren Werke können, ungeachtet ihrer in mehreren Überarbeitungen errungenen Vollendung, als Stationen auf dem Weg zu einer eigenen künstlerischen Position betrachtet werden.



Scheherezade. Sinfonische Suite op. 35 (1888)

Orchesterbesetzung: Piccolo-Flöte, 2 Flöten (eine auch Piccolo), 2 Oboen (eine auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba - Pauken, 5 Schlagzeuge, Harfe – Streicher
Sätze: I. Largo e maestoso – Allegro non troppo (Das Meer und Sindbads Schiff)
II. Lento – Andantino – Allegro molto – Con moto (Die Geschichte vom Prinzen Kalander)
III. Andantino quasi allegretto – Pochissimo piω mosso – Come prima – Pochissimo piω animato (Der junge Prinz und die junge Prinzessin)
IV. Allegro molto – Vivo – Allegro non troppo maestoso (Feier in Bagdad. Das Meer. Das Schiff zerschellt an einer Klippe unter einem bronzenen Reiter.)
Spieldauer: ca. 45 Min.
Uraufführung: 28. Okt. 1888, Sankt Petersburg, in der Ltg. des Komponisten

Im Winter 1887, als er an der Fertigstellung von Aleksandr Borodins unvollendeter Oper Knaiz' Igor' (Fürst Igor) arbeitete, beschloss Rimskij-Korsakov, ein Orchesterstück zu komponieren, das auf Bildern bzw. einzelnen, nicht miteinander verbundenen Episoden aus Tausendundeiner Nacht basiert. Nachdem er musikalische Skizzen seines geplanten Werks angefertigt hatte, zog er mit seiner Familie auf die Dača Glinki-Mavrinij in Nyezhgovitsij am Čeremeneckij-See bei Luga im Gouvernement Sankt Petersburg. Während des Sommers vollendete er Šecherazada (Scheherezade) und Svetlyi prazdnik (Ouvertüre zum russischen Osterfest). Aus Notizen in seiner autographen Orchesterpartitur geht hervor, dass erstere zwischen dem 4. Juni und dem 7. August 1888 fertiggestellt wurde. Scheherezade bestand aus einer symphonischen Suite mit vier zusammenhängenden Sätzen, die ein einheitliches Thema aufweisen.
 Ursprünglich sollten die einzelnen Sätze mit Präludium, Ballade, Adagio und Finale bezeichnet werden, doch nach Abwägung der Meinungen von Anatolij Ljadov und anderen sowie seiner eigenen Abneigung gegen ein zu festes Programm entschied er sich für thematische Überschriften, die auf den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht beruhten (oben in Klammern angegeben). In einer späteren Ausgabe verzichtete Rimskij-Korsakov ganz auf die Titel und wünschte sich stattdessen, dass der Hörer sein Werk nur als orientalisch angehauchte symphonische Musik hört, die ein Gefühl des märchenhaften Abenteuers hervorruft: „Alles, was ich wollte, war, dass der Hörer, wenn ihm mein Werk als symphonische Musik gefällt, den Eindruck mitnimmt, dass es sich zweifellos um eine orientalische Erzählung von einigen zahlreichen und vielfältigen Märchenwundern handelt und nicht nur um vier nacheinander gespielte Stücke, die auf der Grundlage von Themen komponiert wurden, die allen vier Sätzen gemeinsam sind.“
 Das Bassmotiv, das den ersten Satz eröffnet, stellt den herrschsüchtigen Sultan dar. Nach einigen Akkorden in den Holzbläsern, die an den Beginn von Mendelssohns Sommernachtstraum-Ouvertüre erinnern, erklingt das Leitmotiv, das die Figur der Märchenerzählerin selbst, Scheherezade, darstellt. Dieses Thema ist eine zarte, sinnliche, sich windende Triolen-Melodie für Violine solo, die von der Harfe begleitet wird. Beide Themen beschließen auch den vierten Satz, das Thema der Scheherezade erscheint in allen vier Sätzen.
 Der erste Satz setzt sich aus verschiedenen Melodien zusammen und weist die wiederholte Reihenform: A B C A' B C' auf. Die einzelnen Abschnitte unterscheiden sich deutlich, die melodischen Figuren hängen jedoch zusammen, so dass eine Geschlossenheit des Satzes erreicht wird. Rimskij-Korsakov verwendet häufig Zusammenstellungen von Tonarten, die eine große Terz auseinander liegen, hier E-Dur und C-Dur. Mit der Zusammenstellung der Abschnitte knüpft er an seine Komposition Antar (2. Symphonie) op. 9, in der er allerdings originale arabische Melodien zitiert, während er hier eigene Schöpfungen verwendet. Das orientalische Kolorit erzielt er einerseits durch die Verwendung von übermäßigen Tonschritten und Chromatik, als auch durch den häufigen Einsatz von Rohrblattinstrumenten und Schlagzeug.
 Der zweite Satz lässt sich formal als eine Art dreiteiliges Thema mit Variationen oder auch als rhapsodische Erzählung verstehen. Variiert wird allerdings nur die Begleitung, was den Charakter des Stücks im Sinne einfacher musikalischer Linien hervorhebt und auf orchestrale Klarheit und Helligkeit abzielt. Innerhalb einer durchgehenden melodischen Linie bewirkt ein kurzer schneller Abschnitt eine Dramatisierung sowie Veränderungen in Tonalität und Charakter.
 Der dritte Satz ist ebenfalls dreiteilig. Er weist die einfachste Form der vier Sätze auf. Der erste und dritte Teil verwenden die gleiche liedartige Melodie, die im mittleren Teil abgewandelt erscheint. Der ganze Satz wird durch eine schnelle Coda abgeschlossen, die zum mittleren Motiv zurückkehrt.
 Der letzte Satz knüpft an Aspekte aller vorangegangenen Sätze an und fügt einige neue Ideen hinzu, darunter eine Einführung sowohl des Satzanfangs als auch eines Vivace-Teils auf der Grundlage des Sultan-Themas, eine Wiederholung des Hauptthemas der Scheherezade-Violine und eine Wiederholung des Fanfarenmotivs zur Darstellung des Schiffswracks. Der Zusammenhalt wird durch die geordnete Wiederholung der Melodien gewahrt und schafft Zusammenhalt im Sinne einer symphonischen Suite. Eine letzte widersprüchliche Beziehung eines subdominantischen Moll-Themas zur Tonika-Dur-Kadenz des Scheherezade-Themas löst sich in einem lyrischen Schluss auf. Die friedliche Coda am Ende steht dafür, dass Scheherezade schließlich das Herz des Sultans erobert hat.
 Zur Deutung seiner Suite sagte Rimskij-Korsakov, seine Absichten seien rein musikalischer Natur gewesen, und er warnte die Zuhörer davor, zu viel in sie hineinzuinterpretieren, was den erzählerischen Aspekt betrifft.


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.