Einführung zum Video-Livestream des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 24. Februar 2022


Fazıl Say: Konzert für Schlagzeug und Orchester

Fazıl Say
Fazıl Say (* 1970 in Ankara, Türkei)

Früh als Wunderkind erkannt erhielt Fazıl Say Klavierunterricht bei dem Pianisten Mithat Fenmen. Dieser forderte ihn auf, jeden Tag über Themen aus seinem täglichen Leben zu improvisieren, bevor er seine grundlegenden Klavierübungen und Studien absolvierte. Noch als Kind studierte er am Konservatorium Ankara. Dort entdeckte ihn 1986 der Komponist Aribert Reimann, als er den Sechzehnjährigen in Ankara hörte. Dem amerikanischen Pianisten David Levine sagte er: „Sie müssen ihn unbedingt hören, dieser Junge spielt wie der Teufel“. Ab 1987 vervollkommnete Fazıl Say seine Fähigkeiten als klassischer Pianist bei David Levine, zunächst an der Musikhochschule „Robert Schumann“ in Düsseldorf und später in Berlin. Darüber hinaus besuchte er regelmäßig Meisterkurse bei Menahem Pressler. 1994 gewann er den internationalen Wettbewerb Young Concert Artists in New York. Seitdem hat er mit allen renommierten amerikanischen und europäischen Orchestern und zahlreichen führenden Dirigenten gespielt und sich ein vielseitiges Repertoire erarbeitet, das von Bach über die Wiener Klassik – Haydn, Mozart und Beethoven – und die Romantik bis hin zur zeitgenössischen Musik, einschließlich eigener Klavierkompositionen, reicht.
 Seine erste eigene Komposition – eine Klaviersonate – schrieb Say 1984, im Alter von vierzehn Jahren. Es folgten in dieser frühen Phase seiner Entwicklung mehrere Kammermusikwerke ohne Opuszahl, darunter Schwarze Hymnen für Violine und Klavier und ein Gitarrenkonzert. Später bezeichnete er die Vier Tänze von Nasreddin Hodja (1990) als sein Opus 1. Dieses Werk zeigt bereits die wesentlichen Merkmale seines persönlichen Stils: eine rhapsodische, fantasievolle Grundstruktur, einen variablen, oft tänzerischen, immer wieder durch Synkopen geprägten Rhythmus, einen kontinuierlichen, vitalen, treibenden Puls und eine Fülle von melodischen Einfällen, die oft auf Themen aus der Volksmusik der Türkei und ihrer Nachbarländer zurückgehen. In dieser Hinsicht steht Fazıl Say in gewisser Weise in der Tradition von Komponisten wie Béla Bartók, George Enescu und György Ligeti, die ebenfalls aus der reichen musikalischen Folklore ihrer Länder schöpften. Internationale Aufmerksamkeit erregte er mit dem Klavierstück Black Earth, Op. 8 (1997), in dem er Techniken anwendet, die durch John Cages Werke für präpariertes Klavier populär geworden sind.
 Danach wandte sich Say zunehmend den großen Orchesterformen zu. Inspiriert von der Poesie und den Biografien der Schriftsteller Nâzım Hikmet und Metin Altıok komponierte er Werke für Solisten, Chor und Orchester, die, etwa im Fall des Oratoriums Nâzim op. 9 (2001), deutlich an die Tradition von Komponisten wie Carl Orff anknüpfen. Neben dem modernen europäischen Instrumentarium setzt Say in diesen Kompositionen auch häufig und bewusst Instrumente aus seiner türkischen Heimat ein, darunter Kudüm- und Darbuka-Trommeln und die Ney-Rohrflöte. Dies verleiht der Musik eine Färbung, die sie von vielen vergleichbaren Werken dieses Genres abhebt.
 In seinen Werken Gezi Park 1,2 und 3 (op. 48, op. 52, op. 54) von 2013/14 verarbeitete er musikalisch die gewaltsame Niederschlagung der Proteste im Istanbuler Gezi-Park. Der Text für sein Lied Insan Insan stammt aus einem jahrhundertealten Gedicht des alevitischen Dichters Muhyiddin Abdal.
 Nach einem Bekenntnis zum Atheismus und einer Äußerung, die die islamische Vorstellung vom Paradies ins lächerliche zog, erhob ein Istanbuler Gericht im Juni 2012 Anklage gegen Say wegen „öffentlicher Beleidigung religiöser Werte“. 2013 wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt, die wegen guter Führung vor Gericht von zwölf auf zehn Monate reduziert wurde. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, d. h. er durfte sich frei bewegen, sofern er die Straftat in den nächsten fünf Jahren nicht wiederholte. In einer Berufungsverhandlung hob das Oberste Berufungsgericht der Türkei die Verurteilung auf und entschied, dass Says Twitter-Posts in den Rahmen der Gedanken- und Meinungsfreiheit fielen.
 In der Saison 2012/13 war Fazıl Say Artist in Residence beim hr-Sinfonieorchester Frankfurt und beim Rheingau Musik Festival 2013, wo er mit dem Rheingau Musik Preis ausgezeichnet wurde.



Konzert für Schlagzeug und Orchester, op. 77 (2018)

Orchesterbesetzung: Solo-Schlagzeug – Piccolo, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott – 4 Hörner, 2 Trompeten, 2 Bassposaunen – Harfe – Streicher
Sätze: I Waterphone (Extremely rhythmical)
II Rototoms – Timpani (Allegro)
III Vibraphone – Campana (Fließend – Andantino – Adagio tranquillo – Tempo I)
IV Marimba – Boobams (Largo drammatico – Presto, köçekçe – Meno mosso/Slow Belly Dance – Presto, tempo köçekçe/Energico – Largo drammatico – Extremely rhythmical)
Spieldauer: ca. 25 Min.
Widmung: Martin Grubinger
Auftrag: Dresdner Philharmonie, Sinfonieorchester Basel und Musikfest Bremen
Uraufführung: 29. März 2019 Dresden, Martin Grubinger – Schlagzeug, Dresdner Philharmonie, Andris Poga – Ltg.

Die vier Sätze des Werke konzentrieren sich jeweils auf eine oder zwei Schlaginstrumenten-Gruppen, nach denen die Sätze dann auch benannt sind. Die Charaktere der Instrumente bestimmen auch jeweils den Charakter der einzelnen Sätze und das Orchester folgt in seiner Struktur, seinen Motiven und dem Klangcharakter durchweg diesem Charakter. Nur gelegentlich setzt es Kontrapunkte.
Aquaphon  Der erste Satz wird dominiert von dem „waterphone“. Dieses Instrument besteht aus einem mit Wasser gefüllten Edelstahl-Resonator von 16 bis 36 cm Durchmesser, an dem in der Mitte ein Griff und am Rand 25 bis 35 senkrechte unterschiedlich gestimmte Bronzestäbe angebracht sind. Diese werden mit Fingern oder Schlegeln geschlagen, gezupft oder mit dem Bogen gestrichen. Der Boden des Resonators lässt sich wie eine Trommel bespielen. Durch die Bewegung des Wassers im Resonator lassen sich die Klangfarben und Tonhöhen beeinflussen. Es wird in schnellen Sechzehntelgruppen angeschlagen, denen ein Streichklang oder ein Anschlag des Resonators folgt. Das Orchester folgt zunächst in tiefster Lage verwendet die selben rhythmischen Figuren.
 Der zweite Satz beginnt mit einer virtuosen Solopassage auf den Rototoms, denen später vom Orchester ein „walking bass“ und mit dem Bogen geschlagene Streicherfiguren hinzugefügt sind. Die Orchesterbesetzung wird immer dichter, bis der Schlagzeuger zu den Pauken wechselt, ein neues Motiv spielt und hierbei zunächst nur mit einem metrisch gleichmäßigen Harfenton begleitet wird. Das Orchester übernimmt dann die rhythmischen Figuren der Pauken, bevor die Pauken in ein Glissando-Spiel übergehen. Wieder wechselt die Struktur des Orchesters. Es folgt eine Kadenz auf den Pauken. Mit dem Einsatz des Orchesters wechselt der Schlagzeuger erneut zu den Rototoms. Es folgt eine Steigerung bis zum Schluss des Satzes.
 Der dritte – etwas langsamere – Satz beginnt mit einer Vibraphon-Kadenz. Mit dem Einsatz des Orchesters wechselt der Solist zu den glockenähnlichen Campana, flächig gespielt und mit sich nach und nach verdichtender Orchesterbegleitung. Eine kurze Solopassage beendet den Glockenteil, der Schlagzeuger wechselt erneut zum Vibraphon. Es wechseln solistische und von den Streichern begleitete Abschnitte, bevor die Bläser gegen Ende in das verklingende Vibraphon führen.
 Den vierten Satzes eröffnet das Orchester im fortissimo mit lombardischen Rhythmen. Das Schlagzeug setzt mit dem Marimbaphon ein, dazu erfolgt ein Tempowechsel ins presto, „köçekçe“ (ein schneller Tanz) und ein Taktwechsel vom 3/4- zum 9/8-Takt, wie schon im ersten Satz 2+2+2+3 eingeteilt. Spielerisch begleitet das Orchester. Dann wechselt der Solist zu den Boobams, mit Membranen bespannte Rohre, die einen hohlen, weichen Klang ergeben. Jetzt geht es zwischen diesen Instrumenten schnell hin und her. Mit dem Wechsel zum 8/4-Takt wird das Tempo wieder langsamer, die Passage ist mit „Slow Belly Dance“, also langsamer Bauchtanz bezeichnet. Verschiedenste Traditionen mischen sich hier: Ungerade Taktarten, wie sie im orientalischen Raum und im Balkan häufig verwendet werden, „Istanbul gypsy style“, antolische Skalen, Taksim-Improvisationen werden zu ostinaten Motiven geformt und nach und nach verändert.
 Fazıl Say sagt über seine Musik: „Als ich in Deutschland studierte, habe ich viele Einflüsse aus der türkischen Folklore in meiner Musik entdeckt; und heute habe ich einen Stil gefunden, der mich widerspiegelt, der individuell ist und mich sehr zufrieden macht. Dazu gehören auch die tonalen und folkloristischen Elemente. Das steckt so in meinem Blut.“



Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.

Martin Grubinger

Schlagzeug: Martin Grubinger

Bereits sein Vater war Schlagzeuger und unterrichtete am Salzburger Mozarteum. Vonihm erhielt Martin Grubinger den ersten Unterricht. Schon als Jugendlicher beteiligte er sich an Wettbewerben, so etwa am Marimba-Weltwettbewerb in Okaya in Japan oder am EBU-Wettbewerb in Norwegen. In diesen beiden Wettbewerben gehörte er zu den Finalisten.
 Er studierte zunächst am Bruckner-Konservatorium in Linz und ab 2000 am Mozarteum in Salzburg. Dort ist Grubinger seit 2018 Professor für klassisches Schlagwerk und Multipercussion.
 Neben einer umfangreichen Konzerttätigkeit moderiert Grubinger seit 2010 das Musikmagazin KlickKlack im BR Fernsehen im Wechsel mit der Cellistin Sol Gabetta.