Einführung zu den Konzerten des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 4. und 5. November 2021


Jean Sibelius: Symphonie Nr. 1, e-Moll, Op. 39

Jean Sibelius
Jean Sibelius (* 1865 in Hämeenlinna; † 1957 in Tuusula)

Die Eltern, der Arzt Christian Gustaf Sibelius und Maria Charlotta Borg, stammten aus Familien von finnischen und schwedischen Offizieren, Beamten und Pfarrern. In der Familie wurde überwiegend Schwedisch gesprochen. Vom neunten Lebensjahr an erhielt Jean Sibelius methodischen Klavier-Unterricht, mit fünfzehn Jahren beim Militärkapellmeister Gustav Levander Violin-Unterricht. In der Familie wurde fleißig musiziert; mit seiner Schwester und seinem Bruder hat Sibelius die klassische und romantische Literatur für Klaviertrio erprobt. In der Schulbiblothek hatte er die Kompositionslehre von Adolph Bernhard Marx entdeckt, die er fortan studierte. Nach der Reifeprüfung ließ sich Sibelius im Herbst 1885 als Student der Rechts an der Universität Helsinki und am Musikinstitut einschreiben. Nach dem ersten Universitäts-Jahr wandte er sich ausschließlich der Musik zu, er studierte Violine bei Hermann Czillag und Musiktheorie bei Martin Wegelius. Mit einer Suite für Streichtrio und einem Streichquartett schloß er seine Studien am Musikinstitut ab. Ihre Originalität überraschte die führenden Männer des Musiklebens in Helsinki, u.a. Ferruccio Busoni, der als Klavier-Lehrer am Musikinstitut wirkte. Vom Herbst 1889 studierte Sibelius in Berlin, u.a. Kontrapunkt bei Albert Becker. Das Musikleben der Weltstadt, insbesondere die Orchester- und Kammermusik, beeindruckten ihn stärker als der nach seiner Ansicht veraltete Unterricht.
 Nach seiner Rückkehr im Sommer 1890 nahm Sibelius den bereits früher bestehenden Verkehr mit der Familie Järnefelt wieder auf, der von großer Bedeutung für seine Zukunft werden sollte. Hier kam er mit einem starken finnischen Nationalbewußtsein in Berührung und im Herbst 1890 verlobte er sich mit der jüngsten Tochter des Hauses, Aino Järnefelt. In demselben Herbst reiste er, von Busoni an Johannes Brahms empfohlen, nach Wien; Brahms empfing ihn jedoch nicht. Sibelius betrieb Instrumentationsstudien bei Robert Fuchs und ließ sich auch von Karel Goldmark beraten. Seinen ersten Versuch als Orchesterkomponist, eine Ouvertüre, verurteilte Goldmark „in Bausch und Bogen“. Bald danach schrieb Sibelius eine zweite Ouvertüre in E, die mehr Anerkennung fand. Mit seiner Rückkehr nach Finnland 1891 waren seine Lehrjahre zu Ende.
 Die bedrängte politische Lage im Finnland der 1890er Jahre erweckte in Sibelius das Gefühl für das Vaterländische und Finnische. Er schrieb 1892 eine große Chorsymphonie, Kullerwo, ein für seine Zeit sehr kühnes, jedoch mit größter patriotischer Begeisterung aufgenommenes Werk, das ihm die Anerkennung als finnischer Nationalkomponist einbrachte. Im Juni desselben Jahres heiratete er Aino Järnefelt, die ihm bis zu seinem Tod treu zur Seite stand. Vom Herbst an wurde Sibelius als Lehrer für Musiktheorie am Musikinstitut zu Helsinki und als zweiter Geiger in dessen Streichquartett angestellt. Daneben versah er das Lehramt für Musiktheorie an der Orchesterschule des Philharmonischen Orchesters, eines Klangkörpers, den der Dirigent Robert Kajanus dem jungen Komponisten auch jederzeit zur Verfügung stellte, wenn dieser die Wirkung seiner instrumentalen Kombinationen versuchen wollte. Kurz nach Beendigung der Tondichtung Eine Sage, deren erste Fassung 1893 uraufgeführt wurde, fing Sibelius an, aus einem Motiv des „Kalewala“ – ein auf der Grundlage von mündlich überlieferter finnischer Mythologie zusammengestelltes Epos – eine Oper zu schreiben, die zwar nie vollendet wurde, ihm aber die Anregung zur großen Lemminkäinen-Suite schenkte. Mit dem Vorspiel zu der Oper lag eine der vier Tondichtungen der Suite Der Schwan von Tuonela schon vor. Um die Jahreswende 1895/96 war die Tetralogie beendet. Im selben Zeitraum beschäftigte er sich mit der Suche nach archaisch-finnischer Volksmusik. Er betrieb dies vor allem in den Dörfern Savo-Kareliens, im Nordosten Finnlands. Obwohl seiner Musik immer wieder bescheinigt wurde, sie treffe den Charakter der finnischen Musik, betonte er: „Es herrscht die irrige Ansicht, dass meine Themen oft Volksmelodien seien. Aber bis jetzt habe ich nie ein Thema verarbeitet, das nicht meine eigene Erfindung gewesen wäre.“
 Im Sommer 1894 traf sich Sibelius mit seinem Schwager Armas Järnefelt in Bayreuth. Für Wagners Werk konnte er sich jedoch nicht begeistern. Am Ende des Jahres wurde ihm ein jährliches Staatsstipendium gewährt, das beträchtlich, aber nicht groß genug war, um ihn ganz von der Arbeit für den Broterwerb zu befreien. Seine Lehrerstelle am Musikinstitut konnte er erst später aufgeben.
 Zu den wichtigsten politischen Ereignissen in Finnland, die seine Arbeit beeinflussten, zählte die Russifizierungswelle des Großfürstentums Finnland um 1899. Der Finalsatz zu einem in diesem Zusammenhang entstandenen tableau historique wurde später bekannt als Finlandia.
 In dem Entwicklungsprozeß, der den Komponisten immer weiter von der Behandlung mythischer oder historischer Stoffe entfernte, bildet die 1. Symphonie, die 1899 zum ersten Mal gespielt und begeistert aufgenommen wurde, einen Abschluß und einen Anfang zugleich. Sein gewandeltes symphonisches Verständnis formulierte er: „Seit Beethovens Zeit sind alle die sogenannten Symphonien, mit Ausnahme die von Johannes Brahms, symphonische Gedichte gewesen. In manchen Fällen haben uns die Komponisten ein Programm gegeben oder wenigstens angedeutet, was sie gedacht haben; aus anderen Fällen geht klar hervor, was sie sich vorgenommen haben zu schildern oder zu illustrieren, sei es eine Landschaft oder Bildreihe. Das ist nicht mein Ideal einer Symphonie. Meine Symphonien sind Musik, erdacht und ausgearbeitet als Ausdruck der Musik, ohne irgendwelche literarische Grundlage. Ich bin kein literarischer Musiker, für mich beginnt die Musik da, wo das Wort aufhört. Eine Symphonie soll zuerst und zuletzt Musik sein. Natürlich kommt es vor, daß ein seelisches Bild unfreiwillig bei einem musikalischen Satz, den ich geschrieben habe, haftengeblieben ist; aber meine Symphonien sind bei ihrer Entstehung immer rein musikalisch gewesen.“



Symphonie Nr. 1, e-Moll, Op. 39 (1898/99, rev. 1900)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten (beide auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 2 Schlagzeuge, Harfe – Streicher
Sätze: 1. Andante ma non troppo / Allegro energico
2. Andante (ma non troppo lento)
3. Scherzo: Allegro / Trio: Lento.
4. Quasi una fantasia: Andante / Allegro molto
Spieldauer: ca. 40 Min.
Uraufführung: 26. April 1899 in Helsinki, Philharmonisches Orchester Helsinki unter der Leitung des Komponisten;
revidierte Fassung: 18. Juli 1900 in Berlin, Philharmonisches Orchester Helsinki unter der Leitung von Robert Kajanus.

Im Frühjahr 1898 begann Sibelius in Berlin mit der Planung seiner ersten Symphonie. Am Anfang stand ein programmatisches Konzept: „ein musikalischer Dialog“. Erster Satz: „Ein kalter, kalter Wind weht vom Meer her“, zweiter Satz, von Heine inspiriert: „Die Kiefer des Nordens träumt von der Palme des Südens“, dritter Satz „A Winter's Tale“ und vierter Satz, in Anspielung auf Juhani Ahos Roman Panu, der 1897 erschien, „Jorma's heaven“. Dieser Plan spielte in der tatsächlichen Arbeit an der Komposition der ersten Symphonie keine Rolle mehr.
 Im Frühjahr 1899, inmitten einer politisch brisanten Situation gab Sibelius seiner Symphonie den letzten Schliff. Das vom russischen Kaiser erlassene „Februar-Manifest“ zielte darauf ab, die Autonomie des Großherzogtums Finnland einzuschränken, und Sibelius reagierte mit mehreren Protestkompositionen. Mit der ersten Symphonie wurde auch im selben Konzert das Lied der Athener uraufgeführt. Es riss das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin, doch die Kritiker schenkten auch der Symphonie ihre Aufmerksamkeit. „Die größte Schöpfung, die der Feder von Sibelius entsprungen ist“, schrieb Oskar Merikanto in Päivälehti.
 Sibelius selbst war mit seiner Symphonie, deren ursprüngliche Fassung verloren ist, nicht ganz zufrieden. Er überarbeitete das Werk im Frühjahr und Sommer 1900 für die Europatournee des Orchesters seines Freundes Robert Kajanus.
 Der Beginn des Werkes ist einer der originellsten in der Geschichte der Symphonie. Ein einsames Klarinettensolo atmet ein Gefühl der Trostlosigkeit, das im ersten Teil, Andante, ma non troppo, durch das ferne Grollen der Pauken unterstrichen wird. Das Orchester schreitet dann im zügigen Tempo des Allegro energico voran, zunächst mit einer großen Terz in den Violinen, dann mit einem Eintauchen in das Hauptthema. Die Musik schwankt zwischen G-Dur und e-Moll vorwärts. Ein melancholisches Motiv bildet das Seitenthema, es ruht auf einem langen fis-Pedalpunkt und ist erstaunlich eng mit dem Hauptthema verwandt. Die scheinbar unverbundenen Elemente des Satzes gehen auf die Klarinetteneinleitung des Anfangs zurück. Die Entwicklung des ersten Satzes zeigt eine brillante Orchestrierung. Doch Sibelius strebt auch nach größerer formaler Prägnanz: Das Ende der Durchführung ist mit dem Ende der Wiederholung verschmolzen. Der Satz endet mit zwei rätselhaften pizzicato-Akkorden der Streicher.
 Sowohl der langsame Satz als auch das Scherzo sind freie Bearbeitungen der dreiteiligen ABA-Form. Anstelle von neuem Material entwickelt der B-Teil des Andante das Hauptthema von A und wiederholt dann nur dieses Thema. Der Satz beginnt mit einer ruhigen Melodie über einem langen Pedalpunkt in Es. Nun schwebt die Musik aufreizend zwischen Es-Dur und c-Moll. Sobald sie erklingt, wird ein zweites Thema den Fagotten anvertraut, das aus der Einleitung des ersten Satzes entstammt und bald von den anderen Holzbläsern übernommen wird. Die Überleitung mit den Waldhörnern ist aus dem Seitenthema des ersten Satzes abgeleitet, und bald trällern die Flöten in einer Weise, die dem „Vogel-Trällermotiv“ des ersten Satzes ähnelt. In der Entwicklung dieses Materials beschwört der Komponist einen regelrechten Orchestersturm herauf – und das in der Mitte des langsamen Satzes! Wenn sich der Sturm gelegt hat, kehrt das Hauptthema zurück, und der Satz findet seinen Abschluss.
 Das stampfende, rasende Scherzo mit einem A-Teil in C-, Des- und G-Dur beginnt mit einer gezupften Streicherbegleitung. Die Pauke bringt das Kernmotiv, die Geigen imitieren. Die Holzbläser leiten zu einem Geigenthema über, das einen überraschend tänzerischen Charakter hat, und schon bald tauchen wir in ein fugatoartiges Spiel ein. Der Mittelteil ist jedoch langsam, Lento und sostenuto, in E-Dur, bis zu einem Übergang zurück zum Liedteil in C-Dur, wo das vorherige Material in Des-Dur vor einer sich beschleunigenden Coda in Ges-Dur wieder aufgenommen wird.
 Das Finale beginnt in e-Moll mit demselben Thema, das die Symphonie eröffnete, hier pulsierend gespielt von Violinen, Bratschen und Celli, bevor es von Bläserpaaren oder -gruppen fragmentarisch entwickelt wird. Dies ist jedoch nur die Einleitung zu einem Finale in Sonatenform. Nach der Hauptthemengruppe aus schnellen, volkstümlich anmutenden, fragmentarischen Abschnitten setzt ein lyrisches zweites Thema ein, das von den Unisono-Violinen auf der G-Saite gespielt wird. Danach wird die Hauptthemengruppe melodramatisch entwickelt, bis das Thema der G-Saite zurückkehrt. Auch dies wird zu einem leidenschaftlichen Höhepunkt entwickelt. Es folgt ein Fugato-Abschnitt, über den die Holz- und Blechbläser Splitter des Allegro molto schleudern. Diese dominieren das letzte Kapitel der Symphonie und münden schließlich in eine Art nachdrücklicher Hymne, die ein bewegendes Gefühl von finnischem Patriotismus gepaart mit religiöser Hingabe vermitteln soll. Nach einer gewaltigen Steigerung folgen schließlich den drei schroffen Akkorden der Bläser – das Ende des ersten Satzes zitierend – zwei ruhige Pizzicato-Akkorde der Streicher: ein Schluss, der das große Pathos des vorangegangenen sanft infrage stellt.


Tarmo Peltokoski

Leitung: Tarmo Peltokoski

wurde 2000 geboren. Er begann sein Studium im Alter von 14 Jahren bei dem emeritierten Professor Jorma Panula. Derzeit studiert er bei Sakari Oramo an der Sibelius-Akademie und nimmt außerdem Unterricht bei Hannu Lintu und Jukka-Pekka Saraste. Neben seiner Dirigiertätigkeit ist er ein gefeierter Pianist, er studierte Klavier an der Sibelius-Akademie bei Antti Hotti. Zu seinen Mentoren zählen außerdem Matti Raekallio, Antti Siirala, Henri Sigfridsson und Konstantin Bogino. Als Solist trat er mit allen bedeutenden finnischen Orchestern auf. Bei den Festspielen in Turku und Mikkeli ist er mit solistischen und kammermusikalischen Werken aufgetreten. 2018 wurde Tarmo Peltokoski von der Stiftung Pro Musica als „Junger Musiker des Jahres“ ausgezeichnet. Parallel zum Dirigier- und Klavierstudium hat er Komposition und Arrangieren studiert. Im Juni gab er sein deutsches Debüt mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, jetzt mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin, dem hr-Sinfonieorchester und dem Kammerorchester Basel.