Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 21. Februar 2023


Dmitrij Šostakovič: Symphonie Nr. 1, op. 10

Dmitrij Šostakovič
Dmitrij Šostakovič (* 1906 in St. Petersburg; † 1975 in Moskau)

Šostakovič stammt väterlicherseits von polnischen Revolutionären ab. Sein Großvater wurde 1866 nach Sibirien verbannt, der Vater wurde Chemiker und kam nach St. Petersburg; er spielte Klavier, Gitarre und sang. Seine Mutter war eine talentierte Pianistin, die am Petersburger Konservatorium studiert hatte und Dmitrij und seinen beiden Schwestern Zoja und Marija den ersten Klavierunterricht erteilte. Ab 1916 wurde er in der Klavierschule von Ignatij Al'bertovič Glasser, seit 1917 bei Aleksandra Rozanova unterrichtet. Rozanova vermittelte ihm den Improvisationslehrer G. Ju. Bruni, der ihn dem Rektor Aleksandr Glazunov vorstellte, welcher zu systematischem Kompositionsstudium riet: 1919 trat Šostakovič in die Klasse von Maksimilian Štejnberg ein, auch in den Fächern Harmonielehre, Instrumentation, Fuge und Formenlehre; daneben belegte er bei Nikolaj Sokolov Kontrapunkt und Fuge.
 Mit dem Tod des Vaters 1922 geriet die Familie in soziale Not. Dmitrij erkrankte an Tuberkulose, mußte zu teuren Kuren auf die Krim und wurde, trotz seines Studienabschlusses in Klavier 1923, 1924 vom Konservatorium „wegen Jugend und Unreife“ relegiert. Als Ausweg blieb die Erwerbstätigkeit als Stummfilmbegleiter, die er seit 1923 betrieb und die zu ersten Kontakten mit dem Theater Vsevolod Mejerchol'ds führte. Stipendien der Borodin-Stiftung auf Fürsprache des Rektors Glazunov, dem Šostakovičs Musik nicht gefiel, der aber ihre zukunftsweisende Bedeutung erkannte, verhalfen ihm zum Studienabschluß in Komposition mit seiner 1. Symphonie, die nach ihrer Uraufführung augenblicklich internationale Beachtung errang.
 In der Assoziation für zeitgenössische Musik pflegte Šostakovič lebhaften Austausch mit der westlichen Avantgarde, hörte die Werke Arnold Schönbergs, Alban Bergs, Ernst Křeneks, Franz Schrekers und anderer, lernte Alban Berg, Darius Milhaud und Arthur Honegger persönlich kennen und diskutierte in den Montagabendzirkeln von Anna Ivanovna Fogt mit den führenden russischen Komponisten wie Vladimir Sčerbačëv, Vladimir DeŠevov, Gavriil Popov, Jurgis Karnavičius oder den ihm dann lebenslang in Freundschaft verbundenen Vissarion Sebalin. Unter diesen Einflüssen begann Šostakovičs experimentelle, atonale Schaffensphase. Ab etwa 1930 bezog er Elemente des Jazz und der amerikanischen und westeuropäischen Salonmusik ein. Mit der Oper Lady Macbeth von Mzensk konsolidierte sich sein Stil, er kehrte zu klassischen Formen und zur Tonalität zurück. Neben seiner überragenden Bedeutung als Symphoniker schuf Šostakovič eine große Menge an Kammermusik – hier sind vor allem seine 15 Streichquartette zu erwähnen –, Konzerte, Lieder, Film- und Gebrauchsmusik.



Symphonie Nr. 1 f-Moll, op. 10 (1923-25)

Orchesterbesetzung: 3 Flöten (eine auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 4 Schlagzeuge – Streicher
Spieldauer: ca. 30-35 Min.
Sätze: 1. Allegretto – Allegro non troppo
2. Allegro
3. Lento – Largo
4. Lento – Allegro molto – Largo – Presto
Uraufführung: 12. Mai 1926, Leningrad, Nikolaj Andreevič Mal'ko – Ltg.

Šostakovič komponierte mit seiner Abschlussarbeit für das Kompositionsstudium gleich ein fulminantes, originelles und gut durchdachtes Meisterwerk. Er folgt in dieser 1. Symphonie im Groben der überlieferten Form mit Sonatensatz, Scherzo, langsamem Satz und Finale. Diese Formen füllt er mit seiner individuellen Ausdruckspalette, mit überraschenden Wendungen, Zitaten, skurrilen Einfällen und plastischer Überzeichnung.
 Die langsame Einleitung des ersten Satzes exponiert eine kleine markante Figur der Trompeten, die von einem punktierten Motiv in den Fagotten kontrapunktiert wird. Beide Motive werden – kaum, dass sie erschienen sind – schon verarbeitet, in ihre Bestandteile zerlegt und klanglich, rhythmisch und in ihrer Tonhöhengestalt variiert. Mit beschleunigtem Tempo folgt ein einmalig gespieltes Motiv der Violinen, chromatisch aufsteigend mit einzelnen Sprüngen durchsetzt. Von regelmäßigen staccato-Vierteln in den tiefen Streichern begleitet beginnt die Klarinette ein marschartiges zweites Thema, das in seiner punktierten Gestalt von dem Fagott-Kontrapunkt des Anfangs abgeleitet und erweitert ist. Dieses Thema breitet sich auf verschiedene Instrumente aus, bis unvermittelt das Anfangsmotiv der Trompete dem Marsch ein Ende setzt. Stattdessen beginnt mit dem dritten Thema ein zarter Walzer, von der Flöte exponiert und einer Begleitung, die die „eins“ ausspart. Mit dem einzelnen Violinmotiv wird die Durchführung eröffnet, die alsbald in dichter Folge alle Themenbestandteile der Exposition durchmischt, dabei zunächst fast kammermusikalisch sparsam bleibt, bevor einige kurze tutti-Ausbrüche Höhepunkte setzen. Die Reprise beginnt zunächst mit dem zarten Walzer. Wieder bildet das einzelne Violinmotiv, jetzt in den Bässen den Übergang zum zweiten Thema, dem Marsch. Die Klarinette bringt gegen Ende das erste Thema mit Kontrapunkt im Fagott, später noch einmal wiederholt mit dem Kontrapunkt in den Celli, bevor der Satz im pianissimo verklingt.
 Der zweite Satz nimmt den Platz und das Tempo eines Scherzos ein, ohne als solches bezeichnet zu sein. Šostakovič löst sich hier von der Tradition: statt eines tänzerischen 3/4-Taktes schreibt er einen durch Klavier und Schlagzeug gehärteten hektischen Galopp à la Prokof'ev. Das Trio bringt eine ganz andere Athmosphäre: zwei Flöten klagen ganz archaisch, polymetrisch als Quartolen gegen den Dreiertakt gesetzt. Die Reprise ist keine bloße Wiederholung, sie wächst aus dem langsamen Trio-Tempo heraus und verbindet sich mit dessen Thema zu lärmenden Höhepunkten. Brutale Schläge des Klaviers am Ende stehen gegen ätherische Flageolett-Passagen.
 Den langsamen Satz setzt Šostakovič in Des-Dur, sein lyrischer Charakter strahlt Wärme und Fülle aus. Die Streicher begleiten, darüber entfalten die Holzbläser expressive Melodik. Immer dichter wird der Satz, spielt mit Mahler'scher Harmonik, da erscheint in den Trompeten eine bedrohliche Fanfare, die in das tiefe Blech wandert und dann im Largo zum Trauermarsch-Motiv wird. Auch hier findet Šostakovič in der Reprise noch einmal ganz neue Farben und Emotionen. Der Satz verklingt mit einem großen leisen Akkord der in sechzehn Stimmen aufgeteilten Streicher.
 Die langsame Einleitung des Finales bringt eine Melodie in Flöten und Oboen, später Oboen und Klarinetten, die von Streicher-tremoli begleitet werden. Die Motive werden in immer kürzere, sparsamere Figuren zerlegt, bis plötzlich noch mit denselben Farben das Allegro molto beginnt. Mit dem Einsatz des Klaviers und kurze Zeit später des Schlagzeugs entwickelt sich eine große dynamische Steigerung mit schnellen Aufwärts- und Abwärtsläufen, in die bald das ganze Orchester einstimmt. Ein zweites Thema beginnt sehr zart mit einer Solo-Violine, die nur von den Bratschen und einer Klarinette begleitet wird. Flöten-Triller, die vom Klavier übernommen werden, und kurze Läufe im Glockenspiel schaffen eine verträumte, fast unwirkliche Szene. Dann kehrt das Tempo des ersten Teil zurück, Flöte und Klarinette bringen das schnelle Thema, es beginnt eine schnelle große Steigerung, die mit einem wiederholten Bewegungsmuster des ganzen Orchesters endet, zu dem die Hörner, Posaunen und die Tuba eine langsame Melodie beitragen. Dann zerfasert das Ganze, rasend schnelle Wechsel, kurze Einwürfe und rasante Gegenschnitte münden in ein Orchester-tremolo, das immer wieder unterbrochen wird durch kurze Figuren, aus den vorherigen Themen. Im Adagio-Tempo erscheint ein dreimal wiederholtes Pauken-Motiv auf. Ein Solo-Cello, begleitet von den tiefen Streichern singt einen Choral, zu dem das Pauken-Motiv jetzt auch in den Holzbläsern immer wieder auftaucht. Dann übernimmt die Trompete den Choral, er wird immer mächtiger. Das Paukenmotiv wird zur beherrschenden Figur, im letzten Presto exzessiv wiederholt.


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.