Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 26. Februar 2021


Jukka Tiensuu: Teoton für Sheng und Orchester

Jukka Tiensuu
Jukka Tiensuu (* 1948 in Helsinki)

Tiensuu studierte von 1967 bis 1972 Klavier, Cembalo, Dirigieren, Komposition, historische Aufführungspraxis, elektroakustische und Computermusik an der Sibelius-Akademie in Helsinki, danach an der Juilliard School in New York, der Hochschule für Musik Freiburg und am IRCAM in Paris. Danach begann er eine solistische Karriere als Klavier- und Cembalosolist und gab zahlreiche Konzerte mit einem Repertoire von der Renaissance bis zur neuesten Avantgarde, außerdem wurde er als freier Improvisator bekannt. Er erhielt zahlreiche Preise für seine kompositorische Arbeit sowie für seine Aufnahmen und Aufführungen.
 Neben über hundert Werken im traditionellen Instrumental-, Vokal- und Orchesterbereich – in verschiedenen Stilen, oft mikrotonal und mit elektronischen oder computertechnischen Anteilen – umfasst Tiensuus kompositorisches Schaffen auch viele Werke mit unüblichen Besetzungen und Instrumenten, wie etwa Werke für chinesisches Orchester, Akkordeonensemble, Klarinettenchor, Instrumentaltheater, Barockorchester, Jazzorchester, Kantele (Kastenzither), Sheng und Werke für beliebige Ensembles.
 In den späten 70er Jahren eröffnete Tiensuu als Präsident der finnischen Sektion der ISCM die allererste regelmäßige Konzertreihe für zeitgenössische Musik in Helsinki. Danach war er Mitbegründer und erster künstlerischer Leiter der „Helsinki Biennale“ (heute „Musica nova Helsinki“) sowie Gründer und langjähriger künstlerischer Leiter des „Time of Music Festivals“ für zeitgenössische Musik und der „Sommerakademie in Viitasaari“. Zu seinen weiteren Aktivitäten gehören das Unterrichten, das Schreiben für Bücher und Zeitschriften und die Gestaltung von stimmungsvollen Radiosendungen sowohl über Barockmusik als auch über Musik unserer Zeit.
 Sein Interesse als Komponist gilt der Grenzüberschreitung und stilistischen Synthese, der Ästhetik der „Offenheit“ und Neugierde sowie der formalen Analyse von Musik. 1982 setzte er sich in einem Aufsatz Valinnan valinnasta akustisessa taiteessa („Über die Wahl der Wahl in der akustischen Kunst“) mit der spezifisch musikalischer Kreativität auseinander. Er setzt hohe Maßstäbe für Originalität in seinen eigenen Kompositionen. Obwohl er unterschiedliche Bereiche der Tonkunst synthetisch behandelt, vermeidet er die äußerliche Nähe zur Postmoderne, indem er offensiv um die technische Perfektion und die konsequente Weiterentwicklung der Ausdrucksmöglichkeiten bemüht ist.



Teoton für Sheng und Orchester (2015)

Orchesterbesetzung: Solo-Sheng – 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 2 Hörner, 2 Trompeten, 2 Posaunen – 2 Schlagzeuge – Streicher (8-6-5-4-3)
Spieldauer: ca. 24 Min.
Sätze: 1. Fever
2. Adrift
3. Game
4. Bliss
Auftrag: Seoul Philharmonic Orchestra, Niederländischer Rundfunk ntr: Zaterdag-Matinee Amsterdam, Norwegian Radio Orchestra, Orchestre Philharmonique de Strasbourg und National Taiwan Symphony Orchestra
Uraufführung: 30. Oktober 2015, Seoul, Wu Wei – Sheng und Seoul Philharmonic Orchestra, Ilan Volkov, Ltg.

Tiensuu verzichtet systematisch darauf, den Hörern mit Einführungen oder Programmhinweisen seine Werke nahezubringen. Er schreibt: „Wichtig bei einer Komposition sind nicht die Gedanken des Komponisten, sondern die Gedanken, die die Musik im Hörer auslöst und die kleinen Erleuchtungen, zu denen sie den Hörer führen können. Lieber lasse ich alle Assoziationen frei fliegen und lasse die Musik für sich selbst sprechen - was sie nur besser tut, wenn der Schöpfer aus dem Weg geht.“ Fühlen Sie sich also nicht begrenzt durch die folgende Beschreibung!
 Der erste Satz ist fervente (= hitzig) überschrieben, beginnt aber eher zurückhaltend und leise mit einem kleinen imitatorischen Wechselspiel der Sheng mit den Holzbläsern, in das sich kurz auch die Streicher, dann das Blech mit leisen Akkordstößen einmischen. Ein kurzes Sheng-Solo entwickelt ein neues Motiv: anhaltende, zum Teil Cluster-ähnliche Repetitionen, die sich verdichten, sich blockhaft ablösen, bis sie wieder in ein Sheng-Solo münden, aus dem sich eine neue kurze Geste entwickelt, eine schnelle Aufwärtsbewegung aus drei oder vier Tönen. Auch dies wird zu einem imitatorischen Spiel, ehe es in einer Rückkehr der vorherigen Motive zu manchen heftigen Orchesterausbrüchen kommt. Langgezogene Glissandi – immer langsamer – beenden den Satz.
 Ohne Satzpause beginnt der zweite Satz „Adrift“ mit einem großen aufwärtsgerichteten Streicherglissando mit Beteiligung der Klarinetten und Flöten, aus dem ein Sheng-Solo hervorgeht, begleitet von Blöcken von Orchester-Repetitionen. Einzelne arpeggioartige Figuren werden von der Sheng vorgetragen und vom Orchester imitiert, dazwischen stehen Repetions-Blöcke. Ein frei improvisierte Kadenz beendet den Satz.
 Wiederum ohne Satzpause startet der dritte Satz mit Akkordschlägen der Sheng und abwechselnd des Orchester-Tutti. Ein Duo von Sheng und Vibraphon schließt sich an, bevor die Klarinetten ein schnelles Motiv etablieren, das alsbald durch alle Instrumente wandert, sich dann aber zersetzt zu einem durchsichtigen Spiel einzelner Ereignisse. Sheng und Streicher entwickeln ein neues Motiv: Abwechselnde Akkorde und kurze Glissandi in schneller, rhythmisch regelmäßiger Folge. Doch auch dies verdünnt sich. Aus diesen Elementen entwickelt sich ein kleinteiliges Wechselspiel. Eine kurze Verdichtung mündet in eine weitere Solokadenz der Sheng. Der letzte Abschnitt bringt die Motive des ersten Teils, jetzt aber kräftig und sehr verdichtet. Das Vibraphon und die Glocken beenden den Satz ...
 und beginnen den vierten ohne Pause. Mit akzuentierten aber leisen Liegeklängen kommen Klarinetten und Flöten hinzu. Die Sheng gibt motivisches vor, das zuerst von den Holzbläsern, später auch von den hohen Streichern übernommen wird, abwärts gerichtete, immer am Anfang akzuentierte Läufe und Arpeggien. Dann gibt die Sheng eine kurze akkordische Passage in extrem langsamen Tempo vor. Das Orchester antwortet mit an- und abschwellenden Repetitionsblöcken. Über dem letzten Liegeklang spielt die Sheng einige zweistimmige Glissandi, woraufhin, wie in einer Reprise die Anfangsmotive wieder erscheinen.


Dima Slobodeniouk

Leitung: Dima Slobodeniouk

der 1975 in Moskau geborene Dirigent studierte zunächst Violine in Moskau und Helsinki, anschließend Dirigieren. Nach vielen Gastdirigaten wurde er 2013 Leiter des Orquesta Sinfónica de Galicia, ab 2016 Chefdirigent des Sinfonia Lahti, Helsinki.








Wu Wei

Sheng: Wu Wei

Der 1970 in der chinesischen Provinz Jiangsu geborene Sheng- und Erhu-Spieler studierte zunächst in Shanghai, ab 1995 mit einem DAAD-Stidendium in Berlin. Seit 2013 ist er Professor in Shanghai. Neben der traditionellen chinesischen Musik hat er inzwischen über 280 neue Werke, darunter zahlreiche Werke für Sheng und Orchester uraufgeführt.




Sheng

Sheng

Das Instrument ist die traditionelle Mundorgel der Han-Chinesen, sie stammt aus Zentral- und Nordchina. Prototypen sind bereits auf bildlichen Darstellungen der Shang-Dynastie (1766-1122 v. Chr.) zu finden. Sie besteht aus einer kugelförmigen Windkammer aus Holz oder Metall mit einem kurzen Blasrohr, das an der Seite herausragt, und Bambuspfeifen, die durch Löcher in der Oberseite der Windkammer befestigt sind. Der Legende nach stellt ihre Anordnung die gefalteten Flügel des mythischen Phönix dar. Die Resonanzlänge jeder Pfeife wird durch die Position eines Entlüftungslochs definiert, das durch den oberen Teil auf der Innenseite jeder Pfeife geschnitten wurde. Am unteren Ende jeder Pfeife, in der Windkammer, ist ein freischlagendes Rohrblatt aus Kupfer oder einer Legierung mit Wachs befestigt. Wenn das Fingerloch, das sich an der Außenseite der Pfeife befindet, geschlossen ist, wirkt die Länge des Bambusrohrs darüber als akustischer Koppler und lässt die Zunge des Rohrblattes schwingen. Das Instrument kann einatmend und ausatmend gespielt werden.
Die traditionellen Instrumente weisen 17 oder 21 Pfeifen auf. Das Instrument von Wu Wei hat 37 Pfeifen und damit einen Tonumfang mit allen chromatischen Tönen von g bis g³.
Ein Einführung in das Instrument und seine Spieltechniken führt Wu Wei auf → Youtube vor.