Programmheft zu den Konzerten zum 65. Geburtstag
am 5. März 2020 im Projekttheater Dresden
am 7. März 2020 in der Ausstellungshalle Frankfurt am Main
am 9. März 2020 im Kunstverein Oldenburg


– Programm –
Aposiopesis - Musik für Violoncello (1990)
Morgenlachen - Musik für Violoncello (1997)
– Pause –

Fehlversteck - Fünf Skizzen für einen Cellisten (2007)
Ent-Gegnung - Musik für Violoncello (2019 - Uraufführung)

– Matthias Lorenz, Violoncello –

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Matthias Lorenz schreibt:

Friedemann Schmidt-Mechau und ich haben einander 1995 bei einem Sommerkurs für zeitgenössische Musik in Wien kennengelernt. Da er gar nicht unseren Erwartungen entsprach, verlegten wir zusammen mit der Komponistin Charlotte Seither einen immer größeren Teil des Kurses ins benachbarte Kaffeehaus, wo es dann doch eine sehr interessante Zeit wurde. Während dieses Kurses habe ich auch sein frühes Solostück „Aposiopesis“ gespielt.
 Direkt als ich nach Frankfurt am Main zurückkam, fand ich eine Anfrage vor, ob ich mit dem oh ton-Ensemble in Oldenburg spielen könne. Den Verein „oh ton – Förderung aktueller Musik in der Provinz e.V.“ hatte Friedemann Schmidt-Mechau mitgegründet, von dieser Einladung wusste er aber nichts. Aber natürlich passte es gut, dass wir uns gleich nach Wien wiedersehen konnten, ich habe jeweils bei ihm gewohnt und aus einer Bekanntschaft entwickelte sich sehr schnell eine Freundschaft. Es folgten weitere Einladungen zum oh ton-Ensemble für mich, ab 1996 haben wir gemeinsam verschiedene Projekte im Rahmen von Response an Frankfurter Schulen gemacht. 1997 schrieb Friedemann Schmidt-Mechau ein erstes Solostück für mich, „Morgenlachen“. Auch nach meinem Umzug nach Dresden konnten wir die Schulprojekte in Frankfurt am Main bis 2002 fortsetzen. Die Nähe des Kontaktes ergab eigentlich logisch, dass ich ihn 2001 um eine Komposition für Klaviertrio bat – ein Konzert, das sich später als das Gründungskonzert des elole-Klaviertrios herausstellte, aus dem 2018 das Neue Klaviertrio Dresden entstand.
 2007 habe ich meine jährlichen Konzertreihen begonnen, zunächst „Bach.heute“. Für das Konzert mit der 2. Bach-Suite komponierte Friedemann Schmidt-Mechau „Fehlversteck“ und er veranstaltete alle sechs Konzerte der Bach-Reihe wie auch danach die sechs Konzerte der Reihe „Alte Meister“ in Oldenburg.
 2019 erwähnte er in einem anderen Kontext, dass er 2020 ja 65 wird und Veranstalter das vielleicht als Aufhänger nehmen könnten. Das zerschlug sich leider schnell, genauso schnell wuchs bei mir die Idee, dass ich es dann selber in die Hand nehmen werde. Die Städte waren klar: Mein Wohnort Dresden, Friedemann Schmidt-Mechaus langjähriger Wohnort Oldenburg und Frankfurt am Main, wo ich bis 1999 gewohnt habe und er seit 2014 lebt. Beim gemeinsamen Planen des Programmes schlug Friedemann Schmidt-Mechau vor, ein weiteres Stück für mich zu schreiben – was natürlich sehr schön ist und uns jetzt „Ent-Gegnung“ eingebracht hat.

Friedemann Schmidt-Mechau schreibt:

Ein Rückblick über dreißig Jahre verführt zu der Frage nach dem Zusammenhang, den Gemeinsamkeiten zwischen den vier Kompositionen, nach der „Handschrift“. Zu beurteilen, ob es eine solche gibt, überlasse ich gerne anderen. Heute stelle ich für mich vor allem fest, wie verschieden diese Stücke sind. Die Tatsache, dass ich als Komponist wenig Anerkennung gefunden habe – ein größerer Teil meiner Kompositionen ist bis heute nicht einmal uraufgeführt – hat mir die Chance eröffnet, in jeder Situation frei und ohne Rücksicht auf Erwartungen entscheiden zu können, wie ich auf meine Lebenswelt musikalisch reagiere.
 Gemeinsamkeiten ergeben sich durch bestimmte grundlegende Prägungen und Überlegungen. Intensiv habe ich Musikgeschichte und die verschiedenen Bereiche der Gegenwartsmusik studiert. Die Befassung mit Polyphonie und Kontrapunkt hat sich mit der Dialektik insbesondere in der Philosophie Walter Benjamins verbunden. Dessen Vorstellung einer „Dialektik im Stillstand“, eines Widerspruchs ohne Synthese und der „Gleichzeitigkeit des Verschiedenen“ und die Kultivierung des philosophischen Zweifels prägen mein kompositorisches Denken bis heute. Die Beobachtung, dass sich die Wahrnehmung an Widersprüchen entzündet und auf diese Weise Ausdruck erst entsteht, entspricht dem genau.
 Meine Kindheit – wohlbehütet, in der musizierenden Pfarrersfamilie –, der Umzug vom Dorf in die Stadt, die abgebrochene Schule, die fünfzehn Jahre Berufstätigkeit als Tischler und das anschließende Studium waren mit abrupten Wechseln zwischen sehr unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, Kommunikationsformen und Sprachen verbunden. Das politische Denken, das Denken in Widersprüchen und Brüchen ist also auch ein Widerhall meiner Lebensgeschichte.
 Komponieren ist für mich verbunden mit der Absicht, eine Haltung zu den Zuständen und Entwicklungen der Welt zu erringen, wie ich sie gegenwärtig erlebe. Ein musikalisches Denken, das die Gegenwart flieht, ihre Widrigkeiten übergeht und beschönigt oder harmonikale Ersatzwelten kreiert, ist mir fremd und widersteht mir. Kunst hat für mich die Aufgabe, zur Gewohnheit gewordene Verhaltens- und Denkweisen aufzuzeigen, sie zu unterlaufen und zu hinterfragen. Nur so sehe ich die Möglichkeit, den Widersprüchlichkeiten und Absurditäten unserer Existenz neue Schönheit abzugewinnen.
 Ein solcher Ansatz erfordert ein genaues Bewusstsein der bereits von anderen erarbeiteten Schreib- und Denkweisen, innerhalb derer dann neue Wege gesucht werden können – neben der Schul- und Berufskarriere sicher auch ein Grund, warum ich erst mit 33 Jahren begonnen habe zu komponieren.
 Dass ich auf meine Anfrage an Matthias Lorenz im Vorfeld des Wiener Sommerseminars, ob er zu dem geplanten Vortrag vielleicht meine Komposition „Aposiopesis“ spielen könne, schnell eine interessierte Antwort erhielt und wir uns im Laufe des Sommers leicht amüsiert aus dem Seminar zurückzogen, uns intensiv austauschten und Zukunftspläne entwickelten, hat zu dem großen Glück einer langjährigen Freundschaft mit vielerlei persönlichen, musikalischen, handwerklichen und diskursiven Verbindungen geführt. Und was kann einem Komponisten besseres passieren, als in dem Freund auch noch einen frei denkenden und schaffenden, wunderbar spielenden und genau arbeitenden Cellisten zu finden?
 Mein Dank für diese Konzerte zu meinem Geburtstag gilt daher an erster Stelle ihm.

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Aposiopesis – Musik für Violoncello (1990)

Friedemann Schmidt-Mechau schreibt:

In meinem Studium bei Jens-Peter Ostendorf habe ich verschiedene Instrumentalstudien für Cello angefertigt, die die Möglichkeiten des Instrumentes im Rahmen eng begrenzter Spiel- und Aktionsformen ausloteten. Zwei dieser Studien habe ich in „Aposiopesis“ als Rohmaterial verwendet, sie in Stücke zerteilt und in der Komposition aneinandermontiert. Die Montage ist ein musikalisches Verfahren, das weit in die Musikgeschichte zurückreicht: Man findet sie in der Barockmusik, bei Mozart ganz intensiv, man denke an Schumanns Novelette fis-Moll, Opus 21, Nr. 8 oder im 20.Jahrhundert an Satie, Strawinsky, Cage und viele andere – eine Technik, die Beziehungen in ihren Gegensätzen belässt, ohne sie durch Übergänge oder Vermischungen zu entschärfen, und die damit auf Klarheit abzielt.
 Zu diesen beiden Elementen treten vier weitere hinzu, von denen eines passend zum Titel nur aus Pausen besteht. Die gleichwertige Behandlung von Tönen und Geräuschen, ist keine Erfindung von mir, sondern ehrwürdige Tradition und daher von mir entsprechend selbstverständlich angewandt. Mit einem dieser Elemente habe ich analog zu bestimmten Verfahren, die ich bei Xenakis kennengelernt habe, Neuland beschritten, in dem ich die Verfahren Umkehrung und Krebs ins Räumliche erweitert habe und die zeitliche Dimension mit der Tonhöhendimension zusammengeführt habe. Bei der Umkehrung klingt das, was vorher hoch war, jetzt tief – und umgekehrt; beim Krebs klingt das, was vorher spät war, jetzt früh – und umgekehrt. In meinem Verfahren bleiben die zeitlichen und Tonhöhen-Relationen erhalten, wandern aber durch den Zeit-Ton-Raum. Was zunächst früh und tief war, wird dann vielleicht hoch und verschiebt sich in die Mittellage usw. Dies eröffnet eine große Variationsvielfalt, die ich in „Aposiopesis“ an einem kleinen Modell ausprobiert, in späteren Kompositionen sehr viel größer, in „Nähe und Krümmung“ auch dreidimensional angewendet habe. Das gedrehte Modell in „Aposiopesis“ ist am Anfang und Ende in seiner Urform zu hören, dazwischen zum Teil mehrfach überlagert oder fragmentiert.
 Die Wahl des Titels zeigt ein gewisses Misstrauen gegenüber der Sprache. Dies ist sicher eine biographische Reaktion auf die Verwendung der Sprache an der Universität als Imponier-Instrument bei der Herstellung einer intellektuellen Hackordnung. „Aposiopesis“ bedeutet „Verstummen“, der „Beginn des Schweigens“. Als musikalisch-rhetorische Figur der Kompositionslehren des 17. und 18. Jahrhunderts wird sie als Pause zur Kennzeichnung von Verlust oder Tod verwendet, in der antiken Redekunst dagegen als Redepause vor dem wirksamsten Argument, vor dem Höhepunkt der Rede. Diese Bedeutungsverschiebung hat mich beschäftigt und zu einer Reihe von Entscheidungen in der Komposition gebracht.
 Als durchgehendes, durch alle Elemente erhaltenes Motiv findet sich die Idee eines gregorianischen Tenors, eines zentralen Tons ohne funktionale Eindeutigkeit, um den das Stück gebaut ist. Distanz und Nähe, Entfernung und Wiederkehr von diesem Zentrum und schließlich Wandel des Zentrums selbst bestimmen die Form der Komposition.


Matthias Lorenz schreibt:

„Aposiopesis“ ist eindeutig noch ein Studienstück. Nur in ihm gibt es Aspekte, bei denen ich mir vorstellen kann, dass es eine „Aufgabe“ gab, die dann erfüllt wurde. Es ist auch das einzige Stück, in dem man direkt sehen kann, dass sein Komponieren Einflüsse eines anderen Komponisten (nämlich Iannis Xenakis) aufnimmt. Genauso gibt es aber schon viel Eigenes zu erkennen. Beziehungsweise auch anders herum: An den anderen Stücken kann man im Rückblick erkennen, was von „Aposiopesis“ Friedemann Schmidt-Mechau weiterhin beschäftigt hat.
 Zum einen gibt es eine klare Trennung verschiedener musikalischer Elemente. In „Aposiopesis“ sind das vier (oder fünf, je nachdem, wie man das eine interpretiert). Wobei, das scheint mir wichtig zu sein, es dabei nicht um das Nebeneinanderstellen geht, sondern um das Zueinander-In-Beziehung-Setzen, und Friedemann Schmidt-Mechau davon ausgeht, dass es gerade diese klare Trennung ist, die Beziehungen ermöglicht. Hier sind die Elemente auch ineinander verschachtelt, das taucht so später nicht mehr auf, wird aber durch andere Arten von Beziehungen ersetzt.
 Zum anderen fällt die Unvoreingenommenheit gegenüber allen denkbaren Klängen des Cellos auf. Was heißt: Das Cello ist von oben bis unten („Aposiopesis“ nutzt das Cello von unten auf dem Stachel bis zum obersten Ende der Saiten) ein Gerät, um Klänge hervorzubringen. Natürlich gibt es so etwas wie den „normalen“ Celloklang (der in „Aposiopesis“ vergleichsweise den höchsten Anteil hat). Aber er ist nur eine Variante unter vielen und eher durch unsere Wahrnehmung, als durch seine Notwendigkeit bestimmt. Diese Offenheit führt bereits hier zu einer großen Vielfalt an Celloklängen.

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Morgenlachen – Musik für Violoncello (1997)

Matthias Lorenz schreibt:

„Morgenlachen“ ist das Stück, das die Vervielfachung der Celloklänge auf die Spitze treibt (dafür taucht die Trennung von musikalischen Elementen hier nicht auf). Für dieses Stück hat Friedemann Schmidt-Mechau die Bewegungen des normalen Cellospiels in neun verschiedene Teilbewegungen zerlegt, die er jeweils einzeln komponiert. Wobei zwischen drei Fällen zu unterscheiden ist: Wenn ich links ein Glissando mache und dazu rechts eine horizontale Bewegung mit dem Bogen, klingt das wie ganz normales Cellospiel, nur ist es statt vom Klang her, von der Bewegung her notiert. Dann gibt es Aktionen, die nur sichtbar sind, nicht zu hören. Und schließlich den größten Teil, nämlich Klänge die durch diese Herangehensweise ganz anders entstehen, als man es sonst zu tun, zu hören und zu denken gewöhnt ist.
 Friedemann Schmidt-Mechau hat dem ganzen Stück ein „Korsett“ basierend auf einer Folge aller Zahlen von 1 bis 11 gegeben. Das schafft einen Zusammenhalt über alle 22 Teile. Und damit hat er auch für sich bestimmt, wann welche Art von Aktion vorkommen muss, sich selber also gezwungen, bestimmte Kombinationen klanglich und vom Zusammenhang her sinnvoll auszufüllen.


Friedemann Schmidt-Mechau schreibt:

Musik ist eine Zeitkunst und Zeit kann ich nur als paradoxe Doppelnatur auffassen. Sie erscheint immer als zweierlei: als Punkt (oder Folge von Punkten) und Raum, als Moment und Dauer, als Nu und Weile, als Wandel und Kontinuum, als Kairos und Kronos. Ausgangspunkt meiner kompositorischen Problemstellung war die Überlegung, wie sich diese Doppelnatur auf das musikalische Material und seine Form, auf die instrumentale Behandlung, die Ton-Ordnung und schließlich mit der Notation auch auf das Spiel selbst übertragen lässt; und dies, nicht um die Paradoxie dort aufzulösen, sondern um sie im musikalischen Material zu bewahren und sie dadurch spürbar, hörbar und sichtbar zu machen.
 Meine Methode setzt an den instrumentalen Bewegungen an. Neun elementare Bewegungsdimensionen des Violoncello-Spiels, die im traditionellen Spiel in fester Verbindung stehen, werden ihres Kontextes enthoben, isoliert und als selbständige, gleichberechtigte Kontrapunkte in einen neuen Zusammenhang gebracht.
 Dies hat Folgen: Üblicherweise gibt der Notentext eine Vorstellung, wie etwas klingen soll, und der Spieler entwickelt daraus seine Bewegungen im Spiel. Hier gibt der Notentext an, wie der Spieler sich bewegen soll. Und das Feld der Möglichkeiten, wie es klingen wird, ist ein ganz anderes als der offene Bereich in der üblichen Notation.
 Doch zurück zu den neun Bewegungsdimensionen: Aus einer Intervall-Reihe entstehen quasi vektoriell bestimmte resultierende Bewegungen. Diese fügen sich zu Gesten, die das Paradox von Moment und Dauer in sich bewahren. Aufgrund dieser Widersprüchlichkeit ist der neu gefundene Zusammenhang der instrumentalen Bewegungen etwas dauerhaft Brüchiges geworden, dessen Sinn in jeder folgenden Konstellation schon wieder fraglich wird. Die Reihe der Bewegungsintervalle wird als Tonordnung einfach übertragen, jedes der 22 Stücke bearbeitet ein einziges Intervall, von der kleinen Sekund bis zur großen Septim, auf- und absteigend. Doch mit der Auffassung der Intervalle als etwas Doppeltem, nämlich Zustand und Spanne, gerät diese Tonordnung an den Rand ihres eigenen Begriffs. Wie die instrumentalen Bewegungen sich ineinander verflochten verwandeln, so werden die Tonintervalle jetzt zu einem weiteren Vektor oder geben Grenzpunkte für Bewegungen ab. Dass sie als Töne hörbar werden, ist ein Grenzfall geworden.
 Anders als die Tonhöhe, die in Relation zu den instrumentalen Bewegungen zu einem Akzidens wird, bestimmen und wandeln Tempo und Dichte die entstandenen Gesten. Verknüpft mit der Festlegung der Dauer der einzelnen Stücke, die mit einer Länge zwischen 12 Sekunden und 1 Ύ Minuten schon für sich im Grenzbereich von Nu und Weile changieren, werden alle Tempo- und Dichte-Verteilungen durchdekliniert, um die Möglichkeiten der gestischen Figuren auszudifferenzieren.
 Eine übergeordnete Form gliedert die Stücke in vier Gruppen: 1-7, 8-12, 13-18 und 19-22. So wie die vier Gruppen untereinander beschreiben auch die Stücke der einzelnen Gruppen mit ihrem Tempo, ihrer Dichte und Dauer eine Scherenform - in den beiden ersten Gruppen aus den Extremen in eine Mitte, in den beiden letzten Gruppen aus der Mitte in die Extreme führend. Diese Scherenform ist abgeleitet aus der Bewegungsintervall-Reihe und diese Analogie wird noch verstärkt durch die wechselnden Tempi aller Stücke der beiden mittleren Gruppen. Diese Replikation einer Struktur, die selbst Sinnbild für das Verknüpfen von Extremen, die Erhaltung des Widerspruchs und des Paradoxons ist, auf jede Ebene des Stückes von der Großform bis zum Detail, verschafft ihr selbst die Doppelnatur eines von Punkt zu Punkt sich wandelnden und gleichzeitig kontinuierlichen Wesens. Damit ist die Brüchigkeit des Kontextes instrumentaler Bewegung auf das ganze Stück übergegangen und macht es dadurch vielleicht überhaupt zur Frage.
 Der Titel verknüpft zwei Elemente, die den Grundgedanken der Komposition reflektieren: „Morgen“ - in seiner Doppeldeutigkeit als der herausgehobene Moment des Tagesanbruchs, mit dem alles Beginnen bildlich verknüpft ist, und als endlose Folge von nächsten Tagen, die in ihrer Kontinuität den Horror einer der Gegenwart gleichförmigen Zukunft anzeigt; „Lachen“ - als eine der menschlichen Begabungen, das Paradox der Zeit und den Widerspruch der Morgen menschlicher Existenz anzunehmen, sie in einen Moment zusammenzuziehen und sie lebbar zu machen.
 Dem Stück ist ein Text aus Shakespeares „Macbeth“ als Motto vorangestellt:

Morgen, morgen und morgen
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,
Zur letzten Silb' auf unserm Lebensblatt;
Und alle unsre Gesten führten Narr'n
Den Pfad des stäubigen Tods. - Aus! kleines Licht! -
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild,
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn', und dann nicht mehr
Vernommen wird: ein Märchen ist's, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
das nichts bedeutet.

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Fehlversteck – Fünf Skizzen für einen Cellisten (2007)

Matthias Lorenz schreibt:

„Fehlversteck“ rückt den Aspekt der Trennung von Elementen besonders in den Vordergrund. Das Stück besteht aus fünf Teilen, die jeder für sich ein ganz eigenes Material bearbeiten. Wobei sich der 5. Teil noch einmal in 13 Unterabschnitte aufteilt, die eng miteinander verbunden sind, aber wieder jeweils ein eigenes musikalisches Material als Grundlage haben. Eine weitere Besonderheit von „Fehlversteck“ ist, dass es nicht die eine fertige Version des Stückes gibt: Anhand des Aufführungsdatums ist jeweils eine Reihenfolge von 12 Zahlen festgelegt, die viele Details des Stückes bestimmt.
 Ein Aspekt spielte in den Cellostücken bis hierher keine Rolle, in Friedemann Schmidt-Mechaus sonstigem Schaffen schon: Die Einbeziehung von Sprache. Sei es als direkter Text, sei es auch, um Klänge rhythmisch zu gliedern. Im ersten Abschnitt kommt gleich beides vor: Ein Text wird gesprochen, den anderen Text denke ich mit, spreche ihn aber nicht, sondern spiele stattdessen verschiedene Bogengeräusche.

Friedemann Schmidt-Mechau schreibt:

Die Konzertreihe Bach.heute, in der der Cellist Matthias Lorenz zwischen 2007 und 2013 Bachs Cello-Suiten mit zeitgenössischen Kompositionen kombinierte, basierte auf zwei Grundgedanken: „1. Jede Bach-Suite hat ein eigenes ‚kompositorisches Thema’, eine Herangehensweise, die alle Sätze untereinander verbindet. 2. Wenn man dieses kompositorische Thema allgemeiner formuliert, lassen sich zeitgenössische Stücke finden, die ein ähnliches Thema aufgreifen.“
 Meine Komposition „Fehlversteck“ wurde für diese Konzertreihe geschrieben und der Bachschen Suite Nr. 2, d-Moll, BWV 1008 zugeordnet, für die Matthias Lorenz als kompositorisches Thema die Frage „Wann fängt etwas an - wann hört es auf?“ formuliert hat. Diese Fragestellung resultiert bei der Suite aus Fragen der Phrasierung und der Verknüpfung von Motiven, bei denen das Ende des einen Motivs mit dem eines neuen zusammenfällt.
 Diesen Gedanken in vieler Hinsicht auszuweiten und auf verschiedenste Fragen anzuwenden, lag für mich als Ausgangsgedanke nahe. Und da in unserer Gegenwart die Existenz von Musik, ihre Produktion, Entstehung und Wahrnehmung, aber auch ihre Beurteilung in höchstem Maße infrage gestellt – oder vielleicht besser – fragwürdig geworden sind, wollte ich genau diese Bereiche in die Fragestellung einbeziehen und die in der Frage angelegte Beziehung auf die Zeit („Wann …“), aber auch die Begrenzung auf die rein innermusikalischen Fragen überschreiten.
 In „Fehlversteck“ verknüpfe ich die beiden kompositorischen Methoden der Reihentechnik und der Aleatorik, die die Komponisten meiner Elterngeneration in einen so ausufernden Streit getrieben haben, und produziere daraus mein Grundmaterial, welches das ganze Stück bestimmt. Natürlich werden damit beide Methoden infrage gestellt, gleichzeitig erweisen sie sich als keineswegs so widersprüchlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen.
 Anhand des Datums wird für jede Aufführung eine Zahlenreihe ermittelt und die Formel ist so angelegt, dass über 100 Jahre für jeden Tag ein neue Reihe entsteht. Diese Zahlenreihe bestimmt nun durch die fünf Skizzen je andere Aspekte der Musik und des Musizierens; und der Cellist oder die Cellistin muss das ganze Stück danach einrichten. Damit wird der Prozess der Komposition bis in die einzelne Aufführung hinein verlängert.
 In der ersten Skizze sind zwei Gedichte („experientia“ von F. Eckhard Ulrich und „Literarische Würdigung“ von Erich Fried) miteinander verschränkt, und je nach Ergebnis der Zahlenfolge wird eines davon gesprochen, das andere analog zum gedachten Text mit Strichen längs der Saite gespielt.

Experientia (F. Eckhard Ulrich) Literarische Würdigung (Erich Fried)

ablegen wie die schlange
müsste man
seine haut
oder sich schälen lassen
vom tag
sieben mal

neu sein
ist
ohne stachel im fleisch
fehlversuch

Einige Zeit
nach dem Selbstmord
werden vielleicht
ihre verzweifelten Verse
nicht mehr nur
als besonders geglückte Gedichte
sondern sogar
auch
als Verzweiflung erkannt


Die zweite Skizze besteht aus Klängen, die mit den Fingern auf dem Cello geklopft werden. Die rhythmische Abfolge ist fest definiert, die Verteilung der Klänge hängt von der Zahlenreihe ab.
 Die dritte Skizze besteht aus 12 Cello-typischen Posituren, die stumm eingenommen werden, deren Reihenfolge mit der Zahlenreihe bestimmt werden.
 In der vierten Skizze wird ein Feld von 12 verschiedenen pizzicato-Ereignissen mehrfach durchlaufen. Die Zahlenreihe bestimmt jeweils die Anzahl der gespielten Ereignisse. Mittendrin wird folgender Text von Peter Horst Neumann gesprochen:
„Die Zukunft ist ein sichres Versteck für unsre Vergangenheiten.“
 Die fünfte Skizze schließlich verwendet die Ursprungs-Zahlenreihe als Definition von Pausenlängen. Dazu wird die Reihe als Intervallfolge interpretiert. Diese bestimmt die 13 kleinen Ereignisse, in verschiedener Weise, die ein fester Reihenfolge mit jeweils anderen Spielarten durchlaufen werden.


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Ent-Gegnung – Musik für Violoncello (2019)

Matthias Lorenz schreibt:

Wie es sich für ein „Alterswerk“ gehört, rundet sich das alles in „Ent-Gegnung“, dem quasi zum 65. Geburtstag entstandenen Stück. Nachdem „Aposiopesis“ vieles eher angedeutet hat, „Morgenlachen“ und „Fehlversteck“ zwei wichtige Aspekte jeweils ganz in den Vordergrund gerückt haben, findet sich hier alles zusammen. Es gibt acht klar getrennte Aspekte von Material. Es gibt normales Cellospiel und Klänge, die darüber hinaus gehen. Es gibt – das ist für diese Übersicht die wichtigste Neuerung – dem Spieler noch eine stärkere Bedeutung für Klänge: Bereits in „Fehlversteck“ kam auch Sprache vor, die natürlich auch immer einen Klang hat, ihre Bedeutung aber im Wesentlichen als Sprache hatte. Hier wird es allgemein auf Stimmklänge ausgeweitet. Was genau dem Umgang mit dem Cello entspricht. Wenn ich schon das ganze Cello zur Klangerzeugung nutze, wenn um das Cello zum Klingen zu bringen sowieso ein Spieler auf der Bühne ist, wieso dann nicht auch den Spieler singend und sprechend Klänge produzieren lassen?

Friedemann Schmidt-Mechau schreibt:

Im Laufe der Zeit meiner kompositorischen Arbeit gab es eine Pendelbewegung zwischen komplexeren und einfacheren Formen. Oft gab es kompositorische Fragestellungen, die sich von Stück zu Stück verfeinert und verästelt haben. Die Notwendigkeit, diese Entwicklungsrichtung immer wieder einmal zu brechen und ohne Verlust an Differenzierung zu einfachen Strukturen zu kommen, braucht eine gewisse Radikalität. Bei der Musik von Beethoven ist das immer wieder zu erkennen. Ein solcher Bruch hilft, sich nicht in Manierismus zu verlieren, sondern wieder zu klaren Aussagen zu kommen. Dass ich hierbei keine Komplexitätsreduktion anstrebe, wie sie in unserer Gegenwart so vielfältig beobachtet werden kann, mit der aus Diskurs bloße Meinungsäußerung wird, mit der häufig nur Schubladen bedient und Klischees produziert werden, dürfte klar sein.
 Das Klaviertrio „Sieben kleine Sätze“ ist ein solches Stück. Und auch „Ent-Gegnung“ lässt sich dazurechnen.
 Auf 35 Abschnitte sind acht individuelle Gestalten verteilt, die sich im Tempo, in der Spielweise, in der dynamischen Ausgestaltung, in der Dichte und in der Klanglichkeit deutlich voneinander abheben und unterscheiden. Alle Abschnitte beginnen mit einem kurzen Impuls mit übergroßem Bogendruck auf der C-Saite und die acht Gestalten steigen dabei halbtonweise auf. Siebenmal startet das Stück mit dem ersten der acht Gestalten, immer in der gleichen Reihenfolge folgen die anderen, allerdings folgen nur einmal alle acht. Der Durchlauf wird jedes Mal an einem anderen Punkt angehalten und erneut mit dem ersten begonnen.
 Durch die klaren Unterschiede sind die Gestalten immer eindeutig zu erkennen, sie sind aber bei jedem Wiedererscheinen verändert.
 Bei vieren davon wird die Stimme des Cellisten eingesetzt. Dabei werden sowohl konsonantische Reibe- und Zischlaute, als auch Gesang eingesetzt. Und der Gesang kommt einmal in einem Unisono mit der Cello-Stimme zusammen, zum anderen – in der achten Gestalt, die nur einmal vorkommt, wird kontrapunktisch zu der Cellostimme ein Text von W. G. Sebald gesungen, der Auslöser und Schlüssel für die Komposition ist:

Schwer zu verstehen
ist nämlich die Landschaft,
wenn du im D-Zug von dahin
nach dorthin vorbeifährst,
während sie stumm
dein Verschwinden betrachtet.

In der Entgegensetzung des „Du“ und der Landschaft drückt das Gedicht eine Beziehung aus, in der ich ein elementares Problem unserer Gegenwart wiedererkenne: Der Verständnislosigkeit für die Existenz in anderen Zeit- und Lebensformen als der jeweils eigenen. Die erneute Verschärfung von Klassengegensätzen in der globalisierten Ökonomie, verbunden mit einer Re-Nationalisierung bildet radikal verschiedene Geschwindigkeiten aus, die die Lebenswelt unterschiedlicher Menschen bestimmen und die Begegnungen und gegenseitiges Verstehen immer schwerer machen.

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Matthias Lorenz wurde 1964 in Bensheim/Bergstraße geboren, wo er auch seine Kindheit und Jugend verbrachte. Nach dem Zivildienst in der Nähe von Gießen nahm er 1986 sein Cellostudium in Frankfurt am Main bei Prof. Gerhard Mantel auf. Bereits vor Studienbeginn war die Entscheidung gefallen, den Schwerpunkt auf zeitgenössische Musik zu legen. Obwohl es einen solchen Studienschwerpunkt nicht gab, ließ er sich in den Freiräumen, die die Studienordnung bot, realisieren. Kurse u.a. bei Wolfgang Boettcher und Siegfried Palm ergänzten die cellistische Ausbildung. Zudem bedeutet für Matthias Lorenz die Beschäftigung mit Musikwissenschaft stets auch eine wichtige Unterstützung des Cellospielens.
Seit dem Studien-Ende ist er als freischaffender Cellist tätig, hauptsächlich mit zeitgenössischer Musik. Neben die E-Musik - zu der mittlerweile auch Musik mit Live-Elektronik zu rechnen ist - treten dabei immer wieder andere Genres. Randbereiche der Rock- und Popmusik (zusammen mit Albrecht Kunze und Irmin Schmidt), Bühnenmusiken (u. a. für das Frankfurter Ballett), improvisierte Musik. Zu seinem solistischen Spiel sind im Laufe der Zeit zunächst das elole-Klaviertrios (2001) – seit 2018 Neues Klaviertrio Dresden – 2004 das ensemble courage und 2011 die Ostravská Banda hinzugekommen.
Weitere Informationen: https://matlorenz.de

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Friedemann Schmidt-Mechau wurde 1955 in Frankfurt am Main geboren. Nach vorzeitigem Schulabbruch absolvierte er ab 1971 eine Tischlerlehre und arbeitete bis 1985 in diesem Beruf. Ab 1987 studierte er Musikwissenschaft mit den Nebenfächern Geschichte und Kunst an der Carl von Ossietzky-Universität, Oldenburg, v.a. bei Gustavo Becerra-Schmidt und Gertrud Meyer-Denkmann. Daneben studierte er ab 1988 Komposition und Klavier an der Hochschule für Künste, Bremen, bei Jens-Peter Ostendorf und Luciano Ortis.
1987 bis 1991 und ab dem Jahr 2001 arbeitete er als Chorleiter mit verschiedenen Chören in Oldenburg und seit 2015 in Frankfurt am Main. Für diese Chöre entstand eine große Anzahl von Chorbearbeitungen.
1990 begründete er mit anderen „oh ton - Förderung aktueller Musik in der Provinz e.V.“, organisierte damit zahlreiche Konzerte mit neuer Musik im Bezirk Weser-Ems und es entstand das oh ton-Ensemble, Kammerorchester für neue Musik.
Seit 1992 ist er freischaffender Komponist.
Ab 1997 arbeitete er als Assistent von Gertrud Meyer-Denkmann und arbeitete an ihren verschiedenen Veröffentlichungen mit.
2014 übersiedelte er nach Frankfurt am Main.
Er erhielt eine Reihe von Kompositionspreisen und Stipendien.
Weitere Informationen: http://schmidt-mechau.de