Distanz und Kollision

Largo für Ensemble

ca. 16 Min. 30 Sek. - (mit der Möglichkeit, zu verkürzen.)
komponiert 2020

Ensemble-Besetzung: Fl, Ob, Bassklar, Schl, Klav, Vl, Va, Vc

Mit freundlicher Unterstützung der Hessischen Kulturstiftung und des Landes Hessen

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Einführung


Die Covid 19-Pandemie wirft Fragen auf: In welcher Form kann gemeinsames Musizieren in der Zukunft betrieben werden? Wie können Konzerte gestaltet sein?
Mit meiner Komposition Distanz und Kollision habe ich versucht, auf diese Fragen und Umstände eine kompositorische Antwort zu finden. In der Komposition wird mit einer neuen Art des musikalischen und räumlichen Zusammenspiels experimentiert.

Die acht Spieler werden in einem Saal oder im Freien in größerem Abstand um ein Auditorium herum aufgebaut. Die Spieler musizieren in unterschiedlichen Tempi unabhängig voneinander. Jedes Instrument wiederholt seinen Part in acht Abschnitten in jeweils einem anderen Tempo, so dass sich der Zusammenhang zwischen den instrumentalen Teilen stets wandelt. Das Zusammenspiel, das in der traditionellen Musik so eine zentrale Rolle spielt, wird damit vollständig verändert. Es kann nie genau vorhergesagt werden, was exakt zusammenfällt, doch über die qualitativen Merkmale und deren Entwicklung wird auf einer anderen Hörebene ein Zusammenhalt hergestellt, der der Vereinzelung entgegensteht.

Ein Akkord ist der Kern des musikalischen Materials. Er enthält die Intervalle von der kleinen Sekund bis zur Quart und/oder deren Umkehrungen. Der Akkord wird umgekehrt, gestaucht, vergrößert und in verschiedenen Anordnungen zusammengefügt. Außerdem wird er in diesen verschiedenen Formen zu einer rhythmischen Zeitstruktur umgedeutet. Die daraus entstehende Gesamtstruktur ist dann auf die Instrumente aufgeteilt und durch die Zusammensetzung in verschiedenen Tempi wieder aus ihrem Zusammenhang gebracht.

Die Anordnung der verschiedenen Tempi der einzelnen Instrumente zielt auf ganz unterschiedliche Erscheinungsformen und Ordnungen der acht Abschnitte. Die zunächst komponierte Gesamtstruktur ist im letzten Teil der Komposition zu finden. Hier wechseln sehr schnell bewegte Passagen mit lang angehaltenen Akkorden mit Auswechslungen einzelner Töne ab. In den sieben Teilen davor löst sich dieser Zusammenhang auf, so dass hier mit den schnell bewegten Passagen nur einzelne Instrumente oder Gruppen von zwei bis drei Instrumenten hervortreten, während die anderen Instrumente mit den lang gehaltenen Akkorden, bzw. Tönen verharren.
Der Ansatz, den zeitlichen Zusammenhang der einzelnen Stimmen zu lösen und dafür auf einer anderen Hörebene neue Verbindungen herzustellen, führt zu einem komplexen Kontrapunkt, der dem Benjamin’schen Gedanken einer „Dialektik im Stillstand“ entspricht. Das, was Benjamin auf die Dimension der Geschichte, der Vergangenheit und Gegenwart bezieht, ist hier auf das bereits Gehörte und das gegenwärtig Klingende bezogen und bildet damit eine neue Art einer Hörform. Das Stück ist voller Passagen, die wiedererkannt werden können, die aber durch den veränderten Hintergrund und Zusammenhang jedes Mal hinterfragt und so zu etwas Neuem werden. Das Bild von Individualitäten, die sich immer wieder auf einen veränderten Kontext einstellen, entspricht vielleicht der immer wieder neu geforderten Neuorientierung in der gegenwärtigen Krise.