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Ent-Gegnung

Musik für Violoncello

für Matthias Lorenz

ca. 14 Min.
komponiert 2019

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→ Video 2020 Frankfurt am Main, Matthias Lorenz - Vc.

Einführung


Im Laufe der Zeit meiner kompositorischen Arbeit gab es eine mehrfache Pendelbewegung zwischen komplexeren und einfacheren Formen. Oft gab es kompositorische Fragestellungen, die sich von Stück zu Stück verfeinert und verästelt haben. Die Notwendigkeit, diese Entwicklungsrichtung immer wieder einmal zu brechen und ohne Verlust an Differenzierung zu einfachen Strukturen zu kommen, braucht eine gewisse Radikalität. Bei der Musik von Beethoven ist das immer wieder zu erkennen. Ein solcher Bruch hilft, sich nicht in Manierismus zu verlieren, sondern wieder zu klaren Aussagen zu kommen. Dass ich hierbei keine Komplexitätsreduktion anstrebe, wie sie in unserer Gegenwart so vielfältig beobachtet werden kann, mit der aus Diskurs bloße Meinungsäußerung wird, mit der häufig nur Schubladen bedient und Klischees produziert werden, dürfte klar sein.
Das Klaviertrio „Sieben kleine Sätze“ ist ein solches Stück. Und auch „Ent-Gegnung“ lässt sich dazurechnen.
Auf 35 Abschnitte sind acht Materialien oder Strukturen verteilt, die sich im Tempo, in der Spielweise, in der dynamischen Ausgestaltung, in der Dichte und in der Klanglichkeit deutlich voneinander abheben und unterscheiden. Alle Abschnitte beginnen mit einem kurzen Impuls mit übergroßem Bogendruck auf der C-Saite und die acht Strukturen steigen dabei halbtonweise auf. Siebenmal startet das Stück mit dem ersten der acht Strukturen, immer in der gleichen Reihenfolge folgen die anderen, allerdings folgen nur einmal alle acht. Der Durchlauf wird jedes Mal an einem anderen Punkt angehalten und erneut mit dem ersten begonnen.
Durch die klaren Unterschiede sind die Strukturen immer eindeutig zu erkennen, sie sind aber bei jedem Wiedererscheinen verändert.
Bei vieren davon wird die Stimme des Cellisten eingesetzt. Dabei werden sowohl konsonantische Reibe- und Zischlaute, als auch Gesang eingesetzt. Und der Gesang kommt einmal in einem Unisono mit der Cello-Stimme zusammen, zum anderen – in der achten Struktur, die nur einmal vorkommt, wird kontrapunktisch zu der Cellostimme ein Text von → W. G. Sebald gesungen, der Auslöser und Schlüssel für die Komposition ist.
In der Entgegensetzung des „Du“ und der Landschaft drückt das Gedicht eine Beziehung aus, in der ich ein elementares Problem unserer gegenwärtigen Kultur wiedererkenne: Der Verständnislosigkeit für die Existenz in anderen Zeitformen als der jeweils eigenen. Die erneute Verschärfung von Klassengegensätzen in der globalisierten Ökonomie, verbunden mit einer Re-Nationalisierung bildet radikal verschiedene Geschwindigkeiten aus, die die Lebenswelt unterschiedlicher Menschen bestimmen und die Begegnungen und gegenseitiges Verstehen erschweren.


Text


Schwer zu verstehen
ist nämlich die Landschaft,
wenn du im D-Zug von dahin
nach dorthin vorbeifährst,
während sie stumm
dein Verschwinden betrachtet.

→ W. G. Sebald (mit frdl. Genehmigung des Hanser-Verlages)


Aufführungen


Uraufführung:
5. März 2020: Dresden, Projekttheater, → Matthias Lorenz - Vc

weitere Aufführungen:
7. März 2020: Frankfurt am Main, Ausstellungshalle
9. März 2020: Oldenburg, Oldenburger Kunstverein
9. April 2020: → Youtube-Livestream, Programm: Gilberto Agostinho: „Jamais Vu D“ (bei 2:50), „Ent-Gegnung“ (bei 11:17), Gilberto Agostinho: „and thereafter they shape us“ (bei 31:05) and Petr Bakla: „Something with something else III“ (bei 50:20)


Kritik


Nordwest-Zeitung vom 11. März 2020 zum Konzert am 9. März 2020

KONZERT IN OLDENBURG
Packender Cello-Abend im Kunstverein
von → Horst Hollmann

Oldenburg. Auf gute 170 Zentimeter Höhe bringt es ein Violoncello, Stachel herausgezogen und hoch bis zur Schnecke gemessen. Als reine Spielfläche reichen 70 Zentimeter Griffbrett und Saiten zwischen Obersattel und Steg. Summa summarum: Da bleibt viel ungenutzter Raum für die Herstellung von Tönen.
Einer wie Friedemann Schmidt-Mechau muss das ähnlich gesehen haben. Und der gerade 65 Jahre alt gewordene Komponist hat gehandelt. Seine Cellowerke gestaltet er als Gesamtkunstwerke für das Instrument, bis hin zu pantomimischen Körperhaltungen des Spielers. Der schlägt den Stachel col legno mit dem Bogenholz an, streicht über Saitenhalter und Wirbel. Geburtstag feiert der Komponist beim Oldenburger Kunstverein und mit einem zunehmend gepackten Publikum. Vier Solowerke zelebriert der Neue-Musik-Spezialist Matthias Lorenz aus Dresden.
Erst mit 33 Jahren hat Schmidt-Mechau begonnen zu komponieren. Oldenburg mit der Universität, mit dem Ensemble oh-ton und verschiedenen Chorleitungen war sein Lebensmittelpunkt, ehe er 2014 in seine Geburtsstadt Frankfurt übersiedelte. Das Oldenburger Programm, an den Tagen vorher schon in Dresden und Frankfurt umgesetzt, gibt einen informativen Überblick über seine kompositorische Entwicklung: „Aposiopesis“ von 1990, „Morgenlachen“ von 1997, „Fehlversteck“ von 2007 und „Ent-Gegnung“ von 2019 als Uraufführung.
Lorenz verrät, „dass der Komponist das Cello erst einmal als Gegenstand sieht, mit dem man Klänge produzieren kann.“ Nach den noch vorhandenen Kantilenen im ersten Werk wird die Musik zunehmend dichter und karger, oft auch inniger. Glissandi sind ein besonderes Stilmittel Schmidt-Mechaus. Ansonsten herrscht ein gewaltiges Reiben, Rutschen, Zischen, Knispeln, Knarzen, Knurpseln, Knistern, Klopfen, Hauchen und auch mal Singen. Die Vielfalt scheint unbegrenzt, und der Cellist ist ihr glänzender Regisseur und Arrangeur.
Der Cellist muss sein Instrument strapazieren. Da reißt er die Saiten hoch und lässt sie zu knallenden Pizzicati zurückschnappen. Dann ächzen die Saiten, wenn er den Bogen wie einen Planierpflug nach oben über sie zieht. Und der Corpus muss allerhand Klapse einstecken. Doch es gibt auch Erholung. In einem Satz stellt Lorenz lautlos und ohne Belästigung des Instruments zwölf Haltungen nach, die ein Cellist im Spiel einnehmen kann. Darf man das sagen: Es ist faszinierend?
Doch unentrinnbar zieht die Musik die Hörer in ihren Bann. Sie baut auf oft durch veränderliche Zahlenreihen festgelegte Abläufe. Man muss sie beim Hören nicht begreifen, man ahnt jedoch, dass jede Aufführung andere Abfolgen bringt. Ihre große Kraft liegt darin, selbst kleinteilige Gestaltungen und verwürfelt scheinende Abläufe zu einer spürbar logischen Einheit zusammenzuführen. Das ist in der Tat ein starkes Stück Neuer Musik.