Einführung zu den Konzerten des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 31. März und 1. April 2022


Béla Bartók: Konzert für Orchester

Béla Bartók
Béla Bartók (* 1881 in Groß-Sankt-Nikolaus / Nagyszentmiklós, Österreich-Ungarn; † 1945 in New York)

Zu der Zeit, als er sein Konzert für Orchester schrieb, war Bartók körperlich, seelisch und beruflich in schlechter Verfassung. Aus Verzweiflung über die Kapitulation seines geliebten Landes vor den Nazis war er 1940 nach New York emigriert und hatte die Tantiemen und Kollegen, die ihn finanziell und beruflich unterstützt hatten, zurückgelassen. Seine Originalmanuskripte schickte er zur Aufbewahrung in die Schweiz. Seine Tätigkeit als Gelehrter, Interpret und Komponist schien vorbei zu sein – eine kurze Tätigkeit als Arrangeur von Archivaufnahmen an der Columbia University endete ohne Hoffnung auf eine Verlängerung, seine wenigen Liederabende waren bei Kritikern auf Ablehnung und beim Publikum auf Gleichgültigkeit gestoßen, und er hatte vier Jahre lang keine neue Musik geschrieben. Schon immer von schwacher Gesundheit, jetzt an Leukämie erkrankt, wurde er mit einem Gewicht von nur 87 Pfund ins Krankenhaus eingeliefert. Obwohl er mittellos war, lebte er sehr zurückgezogen und lehnte es ab, für sich Wohltätigkeit zu beanspruchen. Er betrachtete sich selbst als Exilanten in einem fremden Land und sehnte sich nach seiner Heimat zurück.
 An diesem Tiefpunkt seines Lebens fanden zwei Landsleute, der Geiger Josef Szigeti und der Dirigent Fritz Reiner, das ideale Mittel, um Bartók wieder auf die Beine zu bringen: Sie vermittelten ihm einen Auftrag für ein großes Werk an das Boston Symphony Orchestra. Als dessen Dirigent Serge Koussevitzky mit einer beträchtlichen Anzahlung im Krankenhaus eintraf, war die Wirkung verblüffend. Bartók erholte sich und vollendete das Werk innerhalb von sieben Wochen.



Konzert für Orchester (1943)

Orchesterbesetzung: 3 Flöten (eine auch Piccolo), 3 Oboen (eine auch Englischhorn), 3 Klarinetten (eine auch Bassklarinette) 3 Fagotte (eines auch Kontrafagott) – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 2 Schlagzeuge, 2 Harfen – Streicher
Sätze: 1. Introduzione: Andante non troppo – Allegro – Allegro vivace
2. Giuoco delle coppie (Spiel der Paare): Allegretto scherzando (lt. gedruckter Partitur) bzw. Presentando le coppie (Vorstellung der Paare): Allegro scherzando (lt. Manuskript)
3. Elegia: Andante non troppo
4. Intermezzo interrotto (unterbrochenes Zwischenspiel): Allegretto
5. Finale: Presto
Spieldauer: ca. 38 Min.
Uraufführung: 1. Dezember 1944, Boston Symphony Orchestra, Serge Koussevitzky – Ltg.

Bartóks Konzert für Orchester vereinigt alle Elemente, die Bartóks musikalisches Denken und Schaffen geprägt haben: Melodien, Harmonik und Rhythmik, die der unverfälschten Leichtigkeit der Volksmusik des Balkans entsprungen sind und durch die souveräne Beherrschung avancierter kontrapunktischer, harmonischer und formaler Mittel einem hohen Anspruch gerecht werden. Dabei wird die Musik niemals zu einem trockenen intellektuellen Kompendium von Einflüssen, sie pulsiert, klingt spontan, ist lebendig und fröhlich und gipfelt in explosiven Ausbrüchen trotziger Vitalität.
 Die ruhige Introduktion des ersten Satzes etabliert ein Thema aus aufsteigenden Quarten, das von zwei chromatischen Strukturen der tremolierenden Streicher und der Flöten beantwortet wird, sich immer weiter aufbaut und im Tempo gesteigert wird. Mit Erreichen des Allegro-Tempos setzt eine kontrapunktische Verdichtung des Themas ein. Aus der Flöten-Antwort entwickeln sich zwei Motive: chromatische oder diatonische Läufe sowie ein Wechselnotenspiel. Mit diesen Motiven, die nach und nach immer weiter variiert werden, setzt der Satz ein komplexes kontrapunktisches Spiel fort. Zwischen heftigen dramatischen Steigerungen findet der Satz immer wieder in ruhige Passagen zurück.
 Der zweite Satz macht den Sinn des Titels Konzert für Orchester deutlich: In der grundlegend symphonischen Textur behandelt Bartók einzelne Orchesterinstrumente solistisch. Mit einem aus der Volksmusik das Balkans abgeleiteten Klang spielen zwei Fagotte, Oboen, Klarinetten, Flöten und Trompeten abwechselnd eine schlitzohrige, fröhliche Melodie in parallelen Sexten, Terzen, Septimen, Quinten und Sekunden und wiederholen dann den Vorgang, verstärkt durch weitere Instrumente. Nach einem choralartigen Mittelteil der Blechbläser vervielfachen sich die Paare zu Trios, Quartetten usw.
 Der dritte Satz verwendet die Motive des ersten zu kleinen kanonischen Strukturen und Verflechtungen, immer wieder gegliedert durch einzelne hohe Töne der Piccolo-Flöte. Am Ende steht eine choralartige Passage der Streicher mit den hohen Holzbläsern. Die Piccolo-Flöte beschließt schließlich den Satz.
 Verspielt-ironisch kommt das Intermezzo daher. Nach einer kurzen dramatischen Introduktion exponiert zunächst die Oboe eine kleine schnelle Melodie, die von einem Taktwechsel 4/8 – 5/8 lebt. Die Melodie wandert durch verschiedene Lagen und instrumentale Klangfarben. Etwas langsamer beginnen die Bratschen eine zweite Melodie mit dem Taktwechsel 5/8 – 6/8, bevor die Oboe kurz zum ersten Tempo und zu der ersten Melodie zurückkehrt. Eine kurze Passage akkordischer Begleitung der Streicher führt plötzlich in einen Marschrhythmus und die Klarinette zitiert das „Invasoren“-Thema aus Šostakovičs 7. Symphonie, allerdings durch Umspielungen und Beschleunigung ins Parodistische verzerrt – bissige Persiflage auf den Militarismus oder Demonstration des Vulgären, Trivialen? Schließlich erscheinen die ersten beiden Melodien wieder – zuerst die zweite, dann die erste durch eine kleine Flöten-Kadenz unterbrochen, um dann überraschend schnell zu enden.
 Das Finale beginnt mit einem markanten „Motto“ der Hörner, um dann im Presto-Tempo eine diffuse Klangfläche aus einer rasenden Verfolgungsjagd der Violinen darzubieten, nur durch die Bässe zusammen mit der Pauke und den Flöten gegliedert, bevor sie unvermittelt in eine akkordische Struktur ausbricht. Ähnlich aber verkürzt entwickeln sich mehrfach solche Strukturen, bevor die Klangfläche in Wiederholungen steckenbleibt und versiegt. Das Fagott eröffnet mit einem (noch schnellen) Kanon der Holzbläser einen weitgespannten, ruhigeren Mittelteil aus verschiedensten Elementen, aus dem sich mehrere markante Themen herausschälen, bevor die anfängliche Klangfläche wieder erscheint, die nochmals verändert und mit weiteren Motiven aus dem Mittelteil und aus dem ersten Satz angereichert furios ausklingt.


Karina Canellakis

Leitung: Karina Canellakis

Die US-amerikanische Dirigentin wurde 1981 in New York geboren und wuchs dort in einer musikalischen Familie mit griechisch-russischen Wurzeln auf. Bis 2004 studierte sie Violine am Curtis Institute of Music. 2005 bis 2007 spielte sie in der Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker. 2011 bis 2013 studierte sie Dirigieren an der Juilliard School. 2014 bis 2016 arbeitete sie als Assistentin beim Dallas Symphony Orchestra, mit dem sie im Oktober 2014 auch ihr erstes Konzert dirigierte. Sie dirigierte das Chamber Orchestra of Europe, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin. 2016 gewann sie den Sir Georg Solti Conducting Award. Im Herbst 2019 wurde sie Chefdirigentin des Radio Filharmonisch Orkest der Niederlande. Im April 2020 ernannte sie das London Philharmonic Orchestra zu seiner neuen Ersten Gastdirigentin. Ihr Vertrag als Chefdirigentin des Radio Filharmonisch Orkest wurde bis Juli 2027 verlängert.