Einführung zum Konzert des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 9. September 2021


Alban Berg: Konzert für Violine und Orchester

Alban Berg
Alban Maria Johannes Berg (* 1885 in Wien; † 1935 in Wien)

Alban Bergs Vater betrieb in Wien eine Kunst-, Buch- und Devotionalienhandlung. Sein Elternhaus war den künstlerischen Neigungen der vier Kinder aufgeschlossen. Alban, als drittes Kind, erhielt Musik- und Klavierunterricht von der Gouvernante der Familie. Mit seiner älteren Schwester Smaragda spielte er passioniert vierhändig und legte ein umfangreiches kommentiertes Verzeichnis der gemeinsam studierten Werke an. Ab 1900 begann er, autodidaktisch zu komponieren, vor allem Klavier-Lieder und -Duette. Etwa ein Jahr nach dem Tod des Vaters (1900) erlitt Berg einen ersten Asthmaanfall, ein erstes Anzeichen für seine lebenslang labile Gesundheit. Ein Liebeserlebnis und die Vaterschaft Ende 1902 brachte Berg in eine schwere Krise, er musste die beiden letzten Schulklassen jeweils wiederholen. 1904 bestand er die Matura. Die Stelle als Rechnungspraktikant bei der Niederösterreichischen Statthalterei in Wien konnte er 1905 nach einer Erbschaft, die der Mutter zufiel, aufgeben. 1904 bis 1910 war er Schüler Schönbergs, dem er zeitlebens eng verbunden blieb. 1911 heiratete er die Gesangsstudentin Helene Nahowski. Die Uraufführung der Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg (1912) in Wien führte 1913 zu einem der denkwürdigen Konzertskandale der Neuen Musik. 1915 bis Kriegsende war Berg im Militärdienst. In seinen Drei Orchesterstücken für großes Orchester op. 6 (1914) sah er das Desaster des Kriegsendes schon vorher. 1918 bis 1921 war Berg „Vortragsmeister“ in Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. 1920 arbeitete er kurze Zeit in der Redaktion des „Anbruch“; auch seine sonstige, publizistische Tätigkeit galt vorwiegend der Verteidigung der Neuen Musik.
 Bereits im Mai 1914 hatte sich Berg entschlossen, Georg Büchners „Woyzeck“ zu komponieren, er setzte diesen Plan 1916/17 und 1921/22 um. Sein Wozzeck wurde 1925 an der Berliner Staatsoper überaus erfolgreich uraufgeführt und danach national und international als zentrale zeitgenössische Oper gefeiert. 1928 begann er mit der Arbeit an der Oper Lulu nach Frank Wedekinds Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“. 1932 gründete er die kurzlebige Musikzeitschrift „23“. Der Nazismus im Deutschen Reich und der Klerikalfaschismus in Österreich seit 1933/34 schränkten Bergs Lebens- und Wirkungsmöglichkeiten emp?ndlich ein. Das „Dem Andenken eines Engels“ gewidmete Violinkonzert schrieb er nach Beendigung des Lulu-Particells relativ rasch zwischen April und August 1935.
 Infolge unzulänglicher Behandlung starb Berg in der Nacht vom 23. zum 24. Dezember 1935 an einer Sepsis in Wien.
 Berg zählt zusammen mit Arnold Schönberg und Anton von Webern zur sogenannten Zweiten Wiener Schule. Seine überragende Bedeutung für die Musik des 20. Jahrhunderts, im Ausland bereits in den letzten Jahren seines Lebens vielfach erkannt, wurde nach dem 2. Weltkrieg weltweit und schließlich auch in seiner Heimat gewürdigt.



Konzert für Violine und Orchester (1935)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten (auch Piccolo), 2 Oboen (eine auch Englischhorn), Altsaxophon, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott – 4 Hörner, 2 Trompeten, 2 Posaunen, Tuba – Pauken, 2 Schlagzeuge, Harfe – Streicher
Sätze: I. Andante – Allegretto, II. Allegro – Adagio
Spieldauer: ca. 25 Min.
Widmung: „Dem Andenken eines Engels“ (Manon Gropius)
Uraufführung: 19. April 1936, Barcelona. Louis Krasner –Violine, Hermann Scherchen – Leitung.

Das Violinkonzert ist Bergs populärstes Werk geworden, sicher nicht zuletzt wegen der offenkundigen programmatischen Züge. Das Stück gilt „dem Andenken eines Engels“, Manon Gropius, Tochter der mit Berg befreundeten Alma Mahler und dem Bauhaus-Architekten, Walter Gropius, die im April 1935 als Achtzehnjährige an Kinderlähmung gestorben war, zwei Wochen nach Bergs 50. Geburtstag und acht Monate vor seinem eigenen Tod. Die Bestimmung als Tongedicht um Manons Schicksal hat Berg durch musikalische Zitate deutlich gemacht.
 Eine Zwölftonreihe liegt dem ganzen Werk zugrunde. Dies ist aber keine abstrakte Reihe, sondern eine nach genauen Vorstellungen so konzipiert, dass sie neben einer Beziehung zu dem Solo-Instrument auch die verwendeten musikalischen Zitate in sich vereint.
Die Töne der Serie A zeigen die Quintstimmung der vier leeren Saiten der Violine g-d-a-e. Auf jedem dieser Töne ist ein Dreiklang aufgebaut, abwechselnd Dur und Moll: g-Moll, D-Dur, a-Moll, E-Dur.
 Mit den leeren Quinten der Geigen-Stimmung beginnt und endet das Konzert, zuerst um einen Tritonus transponiert in Harfe und Klarinette, dann mit den leeren Saiten in der Solo-Violine. Bereits im dritten Takt verwendet Berg die vier Dreiklangs-Terzen zu einer Variation, die jetzt nicht mehr aus Quinten, sondern abwechselnd aus kleinen Sexten und dem Tritonus besteht. Aus diesen Motiven besteht die Introduktion der ersten zehn Takte. Der nächste Abschnitt wird eingeleitet von dem Solo-Kontrabass, begleitet von Bratschen- und Fagott-Akkorden, bevor die Solo-Violine nunmehr die gesamte Reihe zunächst aufwärts, dann abwärts in der Umkehrung durchläuft. In sich „entwickelnden Variationen“ gestaltet Berg vielfältige Abwandlungen rhythmischer, tonaler, klangfarblicher Art, bis sich der Abschnitt zurückentwickelt zu dem Quintmotiv des Anfangs. Es schließt sich ein zweiter Teil, jetzt im 6/8-Takt und Allegretto-Tempo an, der wie ein Reigen wirkt. Drei selbständige Motive, bezeichnet mit „scherzando“, vorgetragen von den Klarinetten und wiederholt von der Solo-Violine, wenig später „wienerisch“, vorgetragen von den Orchester-Violinen, und schließlich „rustico“ vorgetragen von der Solo-Violine folgen in kurzem Abstand voneinander und bestimmen die Thematik des Abschnitts. Die Motive und Charaktere werden vertauscht, das „rustico“ verwandelt sich in eine Kärntner Volksweise, deren komprimierte um einen Ton verkürzte Form bereits als Serie B in der Zwölftonreihe vorhanden ist. Diese wird zuerst vom Horn vorgetragen. Sie ist der Quasi-Höhepunkt des ersten Satzes. Die Quasi-Stretta mündet in einen Vierklang auf g, der den Mollanfang des Andante in die Erinnerung ruft.
 Der erste Allegro-Abschnitt des zweiten Satzes bringt eine kadenzartige Passage der Solovioline, in der die Quint- und Dreiklangsanteile der Zwölftonreihe umspielt werden. Von vier Hörnern eingeführt dominiert dann der „Hauptrhythmus“ „molto ritmico“, für den Berg ein eigenes Partiturzeichen (RH¯) eingeführt hat. Die anschließende große Solokadenz bringt Reminiszenzen an den Mittelteil des Allegrettos, einen leise Choralanklang – hier erstmals in der Umkehrung der Ganztonfolge – und einen Kanon, bgleitet von dissonanten Pianoschauern. Eine Quasi-Reprise führt über einen langen Orgelpunkt auf F zur ersten Klimax (diesmal einer realen), die in der Partitur expressis verbis hervorgehoben ist.
 Das Adagio, der letzte Abschnitt des Konzerts ist wesentlich auf einen Bach-Ahleschen Sterbechoral gestellt: Die Sologeige bringt zunächst die Choralmelodie – in der Zwölftonreihe als Serie C markiert –, worauf der Satz Bachs tongetreu ausgeführt wird, in der Partitur von Berg mit seinem Text versehen: „Es ist genug! Herr, wenn es Dir gefällt, so spanne mich doch aus!“ Inmitten der beiden folgenden Choralvariationen entfaltet sich ein von Berg als solcher apostrophierter „Klagegesang“, der auf eigene Weise den Bereich des absolut-musikalischen überschreitet: Diejenigen Streicher, welche nach und nach seinen Vortrag klanglich verstärken, sollen vom Solisten nicht nur hörbar, sondern ebenso augenfällig, „mit sichtbarer Gebärde“, so die Anweisung der Partitur, angeführt werden, um sich nach dem Höhepunkt des Adagios ebenso ostentativ aus dem „Kollektiv“ des Streicherkörpers wieder zu lösen - ein szenischer Vorgang, dessen Bezug zum programmatischen Vorhaben einigermaßen rätselhaft ist. Der Choral steht in B-Dur, als gehorche er einer latenten Kadenzfunktion des vorherigen Orgelpunkt-F. In den Bläserpartien, die hier mit der Solovioline in kurzen Abständen alternieren, ist er übrigens genau nach der Vorlage im Satz Bachs ausharmonisiert. Die zweite Variation führt die zweite Klimax herbei: die Stimmen der höheren Bläser und Streicher heben sich in wogenden Sechzehntel-Bewegungen himmelwärts, in den Bässen dröhnt der Choral in der Umkehrung seiner Melodiegestalt. Verwandlung: „wie aus weiter Ferne“ die Kärntnerweise, zu?n Abschluss in Es-Dur. Die Coda nimmt den lydisch gefärbten Kirchenton wieder auf und schmilzt ihn einem diffusen Ensembleklang ein. In einem dissonant schwebenden g-Moll-Akkord klingt, pianissimo, das Anfangsmotiv der auf- und absteigenden Streicherquinten nach. Anfang und Ende sind eins.
 Das im Grunde dualistische Wesen dieser Musik wird durch die teils polyphone, teils homophone Faktur des Satzes und den Dialogcharakter betont, der das Verhältnis zwischen den Solo- und Orchesterpartien kennzeichnet. Es macht sie zu Trägern einer kommunikativen Funktion. Unter diesem Gesichtspunkt setzt das Konzert die klassische Überlieferung fort. Es ist ein Virtuosenkonzert mit allen Merkmalen einer dramatischen Auseinandersetzung auf höchster Ebene.
 Man hat das Berg’sche Violinkonzert vielfach mit den letzten Kompositionen Johann Sebastian Bachs und Johannes Brahms’, mit jenseitigen Zügen in den Symphonien Gustav Mahlers verglichen und Parallelen zu Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem gezogen.
 Wie diese Werke ist auch das Violinkonzert in einer Sphäre „letzter“ Gedanken beheimatet, die das persönliche Erlebnis des Todes, sei es als nachempfundenes oder als ein vorgeahntes, transzendieren, indem sie es in den Rang eines Gleichnisses für die Hinfälligkeit und Nichtigkeit alles dessen erheben, was ist. Nur erhält dieses Gleichnis bei Berg dadurch einen besonderen Sinn, dass es sich in der Musik selbst darstellt, in der Scheinhaftigkeit und Flüchtigkeit sowohl des Klangs, als auch aller Gestalten, die die Phantasie aus ihm hervortreten, sich wandeln, einander anverwandeln, zusammen- und wieder auseinanderfließen lässt und schließlich zurücknimmt in den wesenlosen Charakter seines Ausgangspunktes.
 Das scheinbar paradoxe Verfahren einer Komposition um der Dekomposition willen, das hier zugrundeliegt, ist hier der programmatischen Grundlage geschuldet. Es ist aber auch in anderen Bergschen Kompositionen zu erkennen. Theodor W. Adorno hat mehrere Beispiele hervorgehoben und ausführlich erläutert. Es sei dahingestellt, ob ein individuell verankertes „Gesetz“, etwa der Zwang eines Bergschen „Todestriebs“ dafür verantwortlich ist, wie Adorno schließt, oder ob nicht vielmehr der reale Druck und die Anfeindungen der Vorkriegszeit, denen Berg und seine Weggenossen ausgesetzt waren, zu einer bewussten Entscheidung für dieses Verfahren führte. Diese Musik ist eine Musik der Neige, nicht weil es ihr an der Fülle fehlt, sondern weil sie das Verschwinden, das Ersterben der Fülle selbst zum Thema macht. Damit wird der als absurd empfundene Tod der Manon Gropius auf ganz andere Weise zum Programm, als die szenische Darstellung des Berlioz’schen Programms seiner Symphonie fantastique.
 Die helldunkle, man ist versucht zu sagen: traumselige, harmonische Atmosphäre, in der sich der Prozess der Aufzehrung vollzieht, ist das Ergebnis einer penibel konzipierten Integration tonaler und dodekaphonischer, also extrem heterogener Komponenten. Um sich ihres Ausgleichs zu versichern, hat Berg das Reihenprinzip zwar stärker gelockert als in früheren Kompositionen, aber konsequent durchgehalten – wie sonst nur noch in der Konzertarie Der Wein und in der Oper Lulu – und entschiedener als in anderen vergleichbaren Werken tonale Orientierungszeichen gesetzt. Trotzdem fließen die Grenzen. Die Tonalität, soweit sie als geschlossenes System zum Vorschein kommt, schwankt zwischen Dur und Moll; Schichten verschiedenen harmonischen Charakters überlagern einander; straffe rhythmische Gliederung, chromatische Durchgänge und behutsam ausgesparte, oft weit gedehnte Spannungsfelder verleihen dem Klang im Verein mit der maßvollen Instrumentation die Wirkung der Schwerelosigkeit und der Mobilität.


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Ab 2021 wird er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.

Frank-Peter Zimmermann

Violine: Frank-Peter Zimmermann

1965 in Duisburg geboren. Seine Mutter unterrichtete ihn ab einem Alter von 5 Jahren. Sein erstes öffentliches Konzert gab er mit zehn Jahren. Mit elf Jahren gewann er den Wettbewerb Jugend musiziert, er kam im gleichen Jahr an die Folkwangschule in Essen und wurde dort Schüler von Valery Gradow. Bis 1985 studierte er weiter bei Saschko Gawriloff und Herman Krebbers. Sein offizielles Debüt gab er 1981 mit den Berliner Philharmonikern mit Mozarts Violinkonzert KV 216. Er spielte auf Festivals und Konzerten in allen Erdteilen. Seine Einspielungen umfassen alle großen Violinkonzerte der Weltliteratur. Inzwischen gehört Frank Peter Zimmermann zu den bekanntesten deutschen Geigern seiner Generation. Regelmäßige Kammermusikpartner sind die Pianisten Enrico Pace und Christian Zacharias sowie der Cellist Heinrich Schiff. Seit 2007 besteht das Trio Zimmermann mit Antoine Tamestit, Viola, und Christian Poltéra, Violoncello.