Einführung zum Konzert des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 9. Dezember 2022


Johannes Brahms: Schicksalslied, op. 54

Johannes Brahms
Johannes Brahms (* 1833 in Hamburg; † 1897 in Wien)

Brahms’ Werke für Chor und Orchester sind in drei eng umrissenen Lebensphasen entstanden. Ave Maria für Frauenchor und Orchester bzw. Orgel (1858), Begräbnisgesang für gemischten Chor und Blasinstrumente (1858) und die Vier Gesänge für Frauenchor, 2 Hörner und Harfe (1860) gehören zu den ersten Kompositionen, die Brahms nach einer Schaffenslücke schrieb, die dem überbordenden Lob Robert Schumanns geschuldet war, das Erwartungen geschürt hatte, denen der junge, gerade zwanzigjährige Brahms nicht entsprechen zu können glaubte. 1857 war Brahms nach Detmold gezogen, leitete dort einen Chor und gab Klavierunterricht.
 In einer zweiten Phase entstanden Ein deutsches Requiem für Sopran solo, Bariton solo, gemischten Chor und Orchester (1868), Rinaldo Kantate für Tenor solo, Männerchor und Orchester (1868), Rhapsodie für Alt solo, Männerchor und Orchester (1869), Schicksalslied für gemischten Chor und Orchester (1871) und Triumphlied für achtstimmigen Chor und Orchester (1870/71). Es ist die Zeit seiner Tätigkeit als Chormeister der Singakademie in Wien ab 1863, eine Stellung, die er nach zwei Jahren wieder aufgab, während er bis 1871 die Sommermonate meistens in Baden-Baden bzw. im benachbarten Lichtenthal in der Nähe von Clara Schumann verbrachte. Hier fand er die größte Ruhe zur konzentrierten, produktiven Arbeit.
 In der dritten Phase, in der sich Brahms mit Werken für Chor und Orchester befasste, entstand Nänie für gemischten Chor und Orchester (1881) und Gesang der Parzen für sechsstimmigen Chor und Orchester (1882). In dieser Phase stand Brahms auf dem Höhepunkt seines Ruhms.
 Trotz der Verwendung religiöser Texte sind diese Werke als weltliche Kantaten zu verstehen. Nach Überzeugung des gehobenen Bürgertums im 19. Jahrhundert ist die Substanz von Religion in der Kunst aufgehoben. Dem entsprechend ist das literarische Niveau der vertonten Texte herausragend: Goethe, die Luther-Bibel, Schiller und Hölderlin. Dies verweist auf den ästhetischen Anspruch, den Brahms mit diesen Kompositionen erhob und auf die Erwartungshaltung, die das gebildete Bürgertum als Zielgruppe der Werke mit der weltlichen Kantate verband.



Schicksalslied, op. 54 (1871)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken – gem. Chor – Streicher
Spieldauer: ca. 16 Min.
Tempobezeichnungen: Langsam und sehnsuchtsvoll / Allegro / Adagio
Text: Friedrich Hölderlin
Uraufführung: 18. Oktober 1871 in Karlsruhe, Philharmonischer Verein in der Ltg. des Komponisten.

In dem Gedicht Hyperions Schicksalslied schildert Hölderlin die Welt der Götter als Sehnsuchtsvision und in scharfem Kontrast dazu in der dritten Strophe das ausweglose Leiden der Menschen. Bereits 1868 hatte Brahms sich mit dem Text befasst und erste Skizzen niedergeschrieben. Eine musikalisch ausgewogene Form zu finden, beschäftigte ihn lange.
 Das Werk beginnt mit einem Orchestervorspiel in Es-Dur, ein Pauken-Ostinato untermalt es. Wir werden in die helle Welt der beiden ersten Strophen eingestimmt. Der Alt steht mit einer Textzeile allein, dann setzt die anderen Stimmen des Chors ein. Das Orchester nimmt mehrere Motive des Textes auf und versinnbildlicht diese in musikalischen Gesten.
 Kontrastierend zu der im pianissimo verklingenden zweiten Strophe beginnt die dritte Strophe in der Paralleltonart c-Moll mit erregten Streicherfigurationen, harten Akzenten und Dissonanzen. Der Chor singt den Text beim ersten mal annähernd unisono, von den Holzbläsern gestützt. Ein zweiter Durchgang beginnt als fugato, um schnell wieder in einen homophonen Satz zu münden. Der dritte Durchgang ähnelt dem ersten, zerfranst aber am Ende in mehrfacher Wiederholung der letzten Textpassage „ins Ungewisse hinab“ in stockender Deklamation. Das Orchester bringt Themenfragmente über einem leisen Pauken-Ostinato. Damit endet der Chorteil.
 Es folgt Orchesternachspiel in C-Dur, in dem zunächst die Soloflöte legato e molto espressivo auf die instrumentale Einleitung zurückgreift. Dieses Nachspiel, das die Stimmung der ersten Strophen wieder aufgreift und der düsteren Welt der dritten Strophe etwas positives entgegensetzt, war Gegenstand des Zweifels von Brahms. Eine Weile dachte er darüber nach, die ersten beiden Strophen eventuell auch ohne Text zu wiederholen. Bei der Probe zur Uraufführung legte Brahms jedenfalls besondere Sorgfalt auf dieses instrumentale Nachspiel, wie berichtet wurde.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

wurde 1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Seit Sommer 2021 ist er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.