Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 17. Juni 2021


Johannes Brahms: 1. Symphonie

Johannes Brahms
Johannes Brahms (* 183 in Hamburg; † 1897 in Wien)

Der Lebensweg von Brahms ist ein kontinuierlicher Aufstieg in nahezu allen Bereichen, sozial, ökonomisch, künstlerisch. Er spiegelt den damals herrschenden Fortschrittsglauben und des individuellen Vorankommens des Bürgertums mit den Idealen Leistungswille, Selbstdisziplin, Fleiß und Sparsamkeit wieder. Gleichwohl fiel ihm die Annäherung an die große Form der Symphonie aufgrund gleich mehrerer Umstände schwer: Da waren die frühen Vorhersagen Schumanns, der den gerade 20jährigen Brahms als „Berufener“ bezeichnete und ihm nahelegte, sich mit den Großformen zu befassen. Da waren die Misserfolge der ersten Versuche – sowohl das Klavierkonzert d-Moll op.15 als auch die Serenade A-Dur für kleines Orchester op. 16 fielen bei den ersten Aufführungen in Leipzig durch. Da war die Abneigung zu den von den „Neudeutschen“, v.a. Liszt und Wagner, geprägten Vorstellungen einer zeitgenössischen Sinfonik, die sich auf klangliche und instrumentatorische sowie programmatisch-inhaltliche Gestaltung richtete, während Brahms durch seine Ausbildung bei Eduard Marxsen in Hamburg seine Vorliebe mehr auf die Verfahren der Variation und die intensive motivische Durcharbeitung richtete und ihm daher die Kammermusik näher lag. Schließlich war da seine überaus selbstkritische Haltung, die ihm die Bewältigung der großen Formen erschwerte.
 Erst das Deutschen Requiem op. 45 (1868) und die Variationen über ein Thema von Joseph Haydn op. 56a (1873) erschlossen ihm den Weg zur Symphonie. Und sie folgten innerhalb von knapp zehn Jahren 1876 (1. Symphonie c-Moll, op. 68), 1877 (2. Symphonie D-Dur, op. 73), 1883 (3. Symphonie F-Dur, op. 90) und 1885 (4. Symphonie e-Moll, op. 98).



Symphonie Nr. 1, c-Moll, Op. 68 (1862-1876)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 3 Fagotte (1 auch Kontrafagott) – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken – Streicher
Spieldauer: ca. 40-45 Min.
Sätze: 1. Un poco sostenuto – Allegro – Meno allegro; 2. Andante sostenuto; 3. Un poco Allegretto e grazioso; 4. Adagio – Più Andante – Allegro non troppo, ma con brio – Più Allegro
Uraufführung: 4. Nov. 1876 in Karlsruhe, Felix Otto Dessoff – Ltg.

Die ersten Skizzen an der Symphonie entstanden bereits 1862. Eine Frühfassung des ersten Satzes ohne Einleitung zeigte er Clara Schumann, die sich begeistert äußerte. 1868 schickte er ihr einen Geburtstagsgruß, der das Alphornthema aus dem letzten Satz enthielt. Möglicherweise gab es immer wieder Anläufe, weiter zu schreiben. Doch erst im Sommer 1876 in Sassnitz auf Rügen folgte eine längere Arbeitsphase und im Oktober schloss er die Arbeit ab, spielte Clara Schumann die Komposition am Klavier vor, die – ohne Brahms das zu sagen – in ihrem Tagebuch große Enttäuschung vermerkte.
 Die ersten Takte des Kopfsatzes – scheinbar eine sostenuto-Einleitung – bergen keimhaft das gesamte thematische Material in sich. Zwei gegenbewegte, chromatisch gefärbte Linienzüge in Streichern und Bläsern bilden mit dem Orgelpunkt der Pauken und Bässe ein dreistimmiges kontrapunktisches Geflecht. Fallende Septimen und synkopische Vorhalt-Akkorde bilden eine zweite Ebene. Aus diesem rudimentären Material wird der gesamte Kopfsatz – und nicht nur er – als wachsender Organismus gebaut. Das eigentliche Hauptthema des Allegros stellt nur noch eine Ableitung, ein „sekundäres kontrapunktisches Kunstprodukt“ dar. Diese Idee symphonischer Entwicklung definiert durch sich selbst die Exposition, also das Aufstellen kompakter Thematik im klassischen Sinn, nun als Quasi-Durchführung. Die Durchführung selbst wird nun eher nebensächlich, sie tendiert sogar zu geschlossenen melodischen Gestalten.
 Die Kernsubstanz der Einleitung strahlt auf die beiden Mittelsätze. Der zweite Satz, der wie Beethovens c-moll-Klavierkonzert in E-dur steht, weist schon am Anfang die chromatische Gegenläufigkeit auf; das Poco Allegretto dann speist daraus seine gesamte thematische Substanz, und selbst in der langsamen Einleitung zum Finale ist sie konkret greifbar. Dann aber geschieht Ungewohntes: Dieser Finalsatz zentriert den Gedanken des Gegenentwurfs auf das Werk selbst; er verhält sich gleichsam antithetisch zum Kopfsatz. Was dort nämlich abstrakte Struktur war, wird jetzt zu melodischer Gestalt; ein Vorgang, der in mehreren Etappen verwirklicht wird. Nach der pizzicato durchsetzten Einleitung zum Finalsatz erklingt ein Hornmotiv, das konkret auf einer Alphornmelodie basiert, als erste frei einsetzende, melodisch geschlossene Gestalt des Werkes. Ebenso wie der eingeschobene Choralpartikel ist sie nicht als variatives Element ableitbar. Dann setzt ein Streicherhymnus ein, dessen Analogie zum Finale Beethovens Neunter so oft kritisch vermerkt wurde. Aber hier geht es um anderes. Hornruf, Choral und Hymnus sind Bilder von Natur und dem darin eingebetteten und gleichwohl selbsttätigen Menschen. Gegenüber den komplexen Strukturen des Kopfsatzes stehen sie als Befreiung der Musik selbst; nicht im Beethovenschen Sinn einer philosophischen Überwindung, sondern als kompositorische Realität für sich. Zwischen erstem und letztem Satz ergibt sich kein Gefälle, weder nach oben noch nach unten. Brahms verweigert den moralischen Appell, die tragödische Steigerung. Er konstatiert, er stellt zwei Welten als eigenständigen instrumentalen Entwurf gegenüber: die kompositorische, gleichsam abstrakte Struktur des Kopfsatzes und die warm atmende melodische Geschlossenheit im Finale. Beide können gegeneinander bestehen.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.