Einführung zu den Konzerten des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 14. und 15. Oktober 2021


Johannes Brahms: Symphonie Nr. 2, D-Dur, op. 73

Johannes Brahms
Johannes Brahms (* 1833 in Hamburg; † 1897 in Wien)

Trotz des überschwenglichen Lobs Robert Schumann, der den 20jährigen Brahms in seiner Neuen Zeitschrift für Musik zum „Berufenen“ erklärte, stellten sich wirkliche Erfolge erst 9 Jahre später ein. Sein 1. Klavierkonzert d-Moll, op. 15 fiel durch, seine Volks-Kinderlieder wurden ohne Urheber-Angabe veröffentlicht und seinem Freund und Förderer, Theodor Avé-Lallemant, war es weder gelungen, ihm den Direktorenposten der Hamburger Philharmonischen Konzerte zu verschaffen, noch ihn als Chormeister der Singakademie durchzusetzen.
 Nach seiner ersten Übersiedlung nach Wien jedoch begeisterte er 1862 mit seinem 1. Klavierquartett g-Moll, op. 25. Für ein Jahr war er Chormeister der Wiener Singakademie. Das in der Folgezeit entstandene und in Bremen 1868 uraufgeführte Deutsche Requiem wurde enthusiastisch gefeiert und er und sein Verleger, Fritz Simrock, verdienten mit seinen Kompostionen so viel, dass Simrock ihn immer wieder bestürmte, ihm doch etwas Neues zur Veröffentlichung zu geben.
 Als Pianist war er nun so erfolgreich, dass er auch ohne feste Anstellung seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. 1872 zog er endgültig nach Wien. Er übernahm zwischen 1873 und 1875 die Leitung des Wiener Singvereins. 1876 konnte er nach 14 Jahren Arbeit endlich seine 1. Symphonie c-Moll, op. 68 in Karlsruhe aufführen.
 Gerade ein Jahr später konnte er in nur ¼ Jahr seine 2. Symphonie fertigstellen.



Symphonie Nr. 2, D-Dur, op. 73 (1877)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinette, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken – Streicher
Sätze: 1. Satz: Allegro non troppo
2. Satz: Adagio non troppo – L'istesso tempo, ma grazioso
3. Satz: Allegretto grazioso (Quasi Andantino) – Presto ma non assai – Tempo I – Presto ma non assai
4. Satz: Allegro con spirito – Tranquillo – in tempo
Spieldauer: ca. 40-45 Min. (abhängig davon, ob die Exposition wiederholt wird)
Uraufführung: 30. Dezember 1877, Wien, Hans Richter – Ltg.

Brahms begann im Sommer 1877 während eines Aufenthaltes in Pörtschach am Wörthersee mit der Arbeit an der Symphonie. Im September fuhr er nach Lichtental bei Baden-Baden, wo sich Clara Schumann aufhielt. Zu diesem Zeitpunkt stand das Konzept der Symphonie, der erste Satz und Teile des letzten – wahrscheinlich auch der übrigen Sätze – waren aufgeschrieben und wurden engen Freunden am Klavier vorgespielt. Mitte Oktober war dann die Partitur fertig.
 Während der Arbeitsphase führte Brahms seine Freunde und den Verleger Simrock oft dadurch in die Irre, dass er das Werk als besonders traurig oder wehmütig bezeichnete. So schrieb er z.B. an Simrock: „Die neue Symphonie ist so melancholisch, daß Sie es nicht aushalten. Ich habe noch nie so was Trauriges, Molliges geschrieben: die Partitur muß mit Trauerrand erscheinen.“ Dabei wurden in den zeitgenössischen Kritiken oft die heitere, pastorale Grundstimmung des Werkes, ja die Vorstellungen einer Naturidylle hervorgehoben.
 Das Hauptthema des ersten Satzes besteht aus zwei unabhängig verwendeten Elementen. Cello und Kontrabass beginnen ein Pendelmotiv, bestehend aus einer Wechselnote und einem Sprung. Dieses Pendelmotiv ist für die gesamte Symphonie von Bedeutung. Darüber beginnen nacheinander Hörner und Holzbläser mit einer sanglichen Melodie. Nach einer viertaktigen Folge von Pauke, Posaune und Basstube, dreimal wiederholt, erscheint mit dem Einsatz der Streicher eine aufblühende Achtelfiguration. Das Seitenthema mit stimmführenden Bratschen und Celli in parallelen Terzen ähnelt dem Lied „Guten Abend, gute Nacht“. Während das Seitenthema kaum gegensätzlich zum Hauptthema wirkte, folgt nun eine Kontrastpartie im forte mit markantem, punktiertem Rhythmus, dem Pendelmotiv in rhythmischer Umbildung angereichert mit Synkopen, die sich in der etablierenden Sechzehntelbewegung bis zum Fortissimo steigern. In großem Espressivo spielen Fagott und Bass mit den Violinen im Dialog ein vorwärtsdrängendes, weitgespanntes Dreinotenmotiv zu starken Synkopen der Bratschen, Hörner und Klarinetten. Die Schlussgruppe greift das Seitenthema in 2. Violine und Bratsche auf, begleitet von einer aus dem Pendelmotiv abgeleiteten Gegenstimme in den Flöten. Die Exposition kann wiederholt werden. Die Durchführung greift das Hauptthema in den Hörnern und Flöten auf, baut daraus ein Fugato mit Kontrapunkt in Staccato-Achteln, daraus entwickelt sich eine Engführung des Pendelmotivs, das wiederum mit dem Hauptthema konfrontiert wird. Die Reprise variiert die Instrumentation der Exposition. Die Coda bringt nach einer kurzen Einleitung das Pendelmotiv in den expressiv geführten Hörnern. Erneut begegnen sich Hauptthema und Pendelmotiv jetzt nicht mehr mit zeitlich versetzten Einsätzen. Es folgt eine Scherzando-Passage in der Flöten und Oboen das Lied „Es liebt sich so lieblich im Lenze“ zitieren und der Satz verklingt.
 Das Adagio in H-Dur weist eine Mischform zwischen Sonatenhauptsatzform und Lied auf. Das Hauptthema wird als weit ausholende Kantilene von den Celli angeführt und fast kammermusikalisch durch andere Instrumente übernommen. Die Holzbläser dominieren das freundliche, graziöse Seitenthema im 12/8-Takt mit zahlreichen Synkopen, während die Streicher im Pizzicato begleiten. Die Schlussgruppe geht ohne Pause in die Durchführung nach h-Moll über. Nach einer Weile ist das Pendelmotiv und das Adagio-Hauptthema zu hören. Durch die Crescendi, die Tremoli, verminderte Septakkorde und den abrupten Wechsel von forte und piano bekommt die Durchführung dramatischen Charakter. Die Reprise beginnt wie am Satzanfang mit dem Hauptthema, allerdings variiert und in veränderter Instrumentierung. Das Seitenthema ist ausgelassen. Auch die Schlussgruppe ist variiert, die Coda greift den Themen-Kopf auf und schließt mit einer interessanten Kombination von Streichern und Pauke.
 Der dritte Satz kombiniert verschiedene Tänze. Es beginnt mit einem eleganten Ländler. Die Holzbläser dominieren, begleitet vom pizzicato der Celli. Später treten die Hörner hinzu, Fagott und Horn spielen musette-artig Liegetöne. Es folgt ein Galopp, bzw. die Geschwindform des Ländlerthemas. Dies geht über in einen Marsch mit punktierten Rhythmen und dem Orchestertutti. Über Staccato-Achteln im pianissimo der Streicher erscheinen die Themen nacheinander. Der Abschnitt hat Scherzo-Charakter. Im ersten Tempo folgt eine Reprise des Ländlers, dem jetzt ein Geschwindwalzer folgt. Schließlich erscheint das Ländler-Thema im ersten Tempo, jetzt in den Streichern. Die Holzbläser dominieren die Coda.
 Das Hauptthema des vierten Satzes wird piano von den Streichern vorgestellt. Auffällig ist sein Unisono-Beginn und die fallenden Quarten. Dieses Quartmotiv wird viermal wiederholt, wobei zunächst das Fagott, dann auch Flöten und Klarinetten dazukommen. Das Thema wird im forte vom ganzen Orchester variiert aufgegriffen. Eine Unterbrechung mit einer rotierenden Achtelfigur kommt später mehrfach vor. Mit fallenden Figuren der Holzbläser in halben Noten wechselt der Satz abrupt ins Piano mit ruhigerem Impuls. Die Streicher stellen das Seitenthema vor. Die Schlussgruppe enthält viel brillantes Laufwerk. Die Exposition schließt mit einer Folge von lombardischen Rhythmen. Mit diesen Rhythmen erfolgt auch die Überleitung zur Durchführung. Diese verarbeitet in dichter Folge und zunächst im fortissimo einzelne Motive der Themen, um dann in eine tranquillo-Passage überzugehen mit einem Dialog zwischen Streichern und Holzbläsern. Das Quartmotiv in Flöte, Klarinette und Posaune und das Oktavtremolo der Streicher führt in die Reprise, die ähnlich unscheinbar wie im ersten Satz beginnt. Die Struktur ab dem Seitenthema ist ähnlich zur Exposition. Die Coda führt zunächst nach d-Moll und einer düsteren Variation des Seitenthemas in Posaunen und Basstuba einen starken Kontrast zum vorigen Geschehen. Die variierte Figur des Seitenthemas wird dann im Fortissimo des ganzen Orchesters wiederholt und anschließend im Piano mit der Tranquillo-Variante des Hauptthemas kombiniert. Danach dominieren das rotierende Achtelmotiv, Tremolo und Tonwiederholungen. Virtuose Skalenläufe werden dreimal im jeweils vierten Takt abgebrochen und nach Generalpausen wiederholt. Der dritte Anlauf führt zu der Tonika D-Dur zurück mit fanfarenartigem Anklang des Kopfes vom Seitenthema in den Bläsern. „... ein mit allen aufbietbaren Mitteln veranstalteter Kehraus beschließt die Symphonie,“ schrieb Reinhold Brinkmann in seiner Analyse der 2. Symphonie 1990.


Marin Alsop

Leitung: Marin Alsop

wurde 1956 in New York geboren. Sie lernte als Kind Violine und Klavier und entschloss sich früh, Dirigentin zu werden. Sie studierte an der Yale University und an der Juilliard School. Sie studierte bei ihrem Mentor Leonard Bernstein sowie bei Seiji Ozawa und Gustav Meier. 1989 gewann sie sowohl den New Yorker Leopold-Stokowski-Wettbewerb als auch den Koussevitzky-Dirigentenpreis in Tanglewood. Von 2002 bis 2008 war sie Chefdirigentin des Bournemouth Symphony Orchestra, von 2012 bis 2019 Chefdirigentin des São Paulo State Symphony Orchestra. Sie steht seit der Saison 2007/08 dem Baltimore Symphony Orchestra vor und leitet damit als erste Frau ein großes US-amerikanisches Orchester. Ihre Position wurde bis 2021 bestätigt. Seit September 2019 ist sie Chefdirigentin des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien (RSO) und hat damit die Nachfolge von Cornelius Meister angetreten. Seit 2020 ist sie Artist in Residence an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.