Einführung zu der Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 7. Februar 2023


Benjamin Britten: Violinkonzert op. 15

Benjamin Britten
Benjamin Britten (* 1913 in Lowestoft, Suffolk; † 1976 in Aldeburgh, Suffolk)

Britten kam durch seine Mutter, eine Amateursängerin, früh mit Musik in Berührung und begann bereits als Sechsjähriger zu komponieren. 1924 lernte er Frank Bridge kennen, der ihn ab 1927 als Lehrer und Mentor für die Musik Bartσks, Schönbergs und Stravinskijs begeisterte. Sein offizielles Kompositionsstudium bei dem konservativen John Ireland am Royal College of Music in London, wo Britten 1930-33 auch Klavier bei Arthur Benjamin und Harold Samuel studierte, brachte ihm kaum schöpferische Anregungen. Pläne, bei Alban Berg zu studieren, konnten durch dessen frühen Tod 1935 nicht verwirklicht werden. Frühe Konzertwerke Brittens wie die Sinfonietta für zehn Instrumente (1932) zeigten Einflüsse Schönbergs und wurden in England als zu modern und konstruiert empfunden. Britten lebte vor allem von Kompositionen für Theater und Radio und von den Filmmusiken. Dabei lernte er Wystan Hugh Auden kennen, mit dem er bei mehreren Projekten zusammenarbeitete und der ihn schließlich dazu brachte, gemeinsam mit ihm und Peter Pears 1939, vor der Ausbreitung des Faschismus in Europa, in die USA zu fliehen. Dort festigte sich die Beziehung zu Pears, der bis zu Brittens Tod sein Lebensgefährte blieb; für ihn entstanden fast alle wichtigen Tenorpartien in Brittens Vokalwerken.
 Brittens Musik ist durch die Disparatheit seiner Kompositionstechniken gekennzeichnet, traditionelle und moderne Elemente intergriert er ebenso wie tonalitätsbezogene und zwölftonige Elemente, Stravinskijs Verfremdungstechniken und Schönbergs konstruktives Arbeiten, Einflüsse Henry Purcells und Anregungen ostasiatischer Musik.
 1942 kehrte Britten nach England zurück. Mit der Uraufführung seiner Oper Peter Grimes op. 33 (1942/45) wurde Britten international bekannt. 1946 zählte er zu den Mitbegründern der „English Opera Group“, 1948 gründete er das „Aldeburgh Festival“.
 Als Musikdramatiker verhalf Britten der englischen Oper zu internationalem Ruhm.



Violinkonzert op. 15 (1939, überarbeitet 1951)

Orchesterbesetzung: Solo-Violine – 3 Flöten (2 auch Piccolo), 2 Oboen (1 auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 2 Schlagzeuge, Harfe – Streicher
Sätze: 1. Moderato con moto – Agitato – Tempo primo
2. Vivace – Poco più lento – Tempo I – Animando – Largamente – Cadenza
3. Passacaglia: Andante lento (un poco meno mosso) – Con moto – Pesante – Tranquillo – Con moto – Poco animando – Con moto – Alla marcia – Molto animato – Tempo I – Largamente (lento) – Lento e solenne – Più lento
Spieldauer: ca. 35 Min.
Widmung: Henry Boys (Lehrer Brittens am Royal College of Music)
Uraufführung: 29. März 1940, New York Philadelphic, Antonio Brosa – Violine, John Barbirolli – Ltg.
überarbeitete Fassung: 1958, Royal Philharmonic Orchestra, Bronislav Gimpel – Violine, Thomas Beecham – Ltg.

Britten schrieb sein einziges Violinkonzert in einer Situation, die ihm eher unangenehm war. Die Flucht vor dem Krieg in Europa und das Exil in den USA behagte ihm gar nicht, ebensowenig seine Wohnsituation in Brooklyn, wo er mit ständigen Besuchen, ausschweifenden Feierlichkeiten und wechselnden Mitbewohnern zu tun hatte. Dazu gehörten der Dichter Wystan Hugh Auden, der Schriftsteller Carson McCullers, der Komponist und Schriftsteller Paul Bowles und die Burlesque-Tänzerin Gypsy Rose Lee. Erst 1941 verließ er Brooklyn zusammen mit seinem Lebensgefährten, dem Tenor Peter Pears.
 Wie viele seine Werke überarbeitete Britten auch das Violinkonzert. 1951 arbeitete er mit dem britischen Geiger Manoug Parikian an dem Werk und änderte einige Details an der Solostimme.
 Die dreisätzige Form, die Britten verwendet, unterscheidet sich erheblich von den Konzerten der Klassik und Romantik. Eine ähnliche Form wurde erstmals im Ersten Violinkonzert von Sergei Prokof'ev verwendet, findet sich auch in Konzerten von William Walton und später in Dmitrij Šostakovičs erstem Violinkonzert.
 Der erste Satz wird mit einem Quartmotiv in den Pauken eröffnet, vier Schläge abgeschlossen mit einem Beckenschlag. Dieses Motiv erscheint in allen drei Sätzen immer wieder abgewandelt, von verschiedensten Instrumenten übernommen, bleibt aber immer klar erkennbar. Es zieht sich wie ein ostinato durch das gesamte Werk. Die Violine setzt mit einer liedartigen Klage ein, die sich über das Orchester erhebt. Aus den zunehmend bewegten Abschnitten der Solo-Violine entwickelt sich dann eine Orchesterpassage, die den ersten Themenabschnitt beendet. Die Solo-Violine eröffnet mit harten, am Frosch gestrichenen, wiederholten Achteln ein eher martialisches, perkussives Seitenthema. Das erste Thema kehrt zuerst in der Solo-Violine später im Orchester wieder, dann mit dem Paukenmotiv und den harten Achteln kontrastiert von der Solostimme. Eine kurze Passage, in der nur die Violine und das Schlagzeug spielen, leitet das Ende des Satzes ein.
 Der zweite Satz ist ein wildes Scherzo in Form eines moto perpetuo. Es erinnert unverkennbar an Prokof'ev. Dem Rhythmus des 3/8-Takts wird immer wieder eine hemiolische Vergrößerung aus drei Vierteln entgegengesetzt. Aus dem anfänglich fast perkussiven Spiel entwickelt sich eine Melodie aus kurzen aufsteigenden Figuren, und dann wieder mit Vorschlägen verzierte Abwärtsgänge in Achteln. Eine große Vielfalt immer wieder reduzierter und wieder gesteigerter Passagen unterschiedlichster Klangkombinationen bestimmen den Fortgang. Der Satz gipfelt in einer großen Kadenz, die musikalisches Material aus den beiden ersten Sätzen aufgreift und als organisches Bindeglied direkt zum Finale führt.
 Für das Finale verwendet Britten eine Passacaglia: eine Reihe von Variationen über einen Grundbass, die in der Tradition der barocken Chaconnes vor allem von Henry Purcell stehen. Der tonal instabile Grundbass wird zunächst von den Posaunen eingeführt, während die Violine das lyrische Thema des ersten Satzes aufgreift. Das Posaunenmotiv wird von den Streichern, der Trompete und den hohen Holzbläsern nacheinander übernommen und zu einem ersten Höhepunkt geführt. Solo-Violine und Cello beginnen den con moto-Abschnitt aus dem niente. Nach und nach treten die anderen Streicher und einige Bläser hinzu, eine ausgesparte Passage folgt, die zögernd an das Posaunenmotiv anknüpft. Perkussives mischt sich ein, Variationen entfalten sich, nehmen Lied-, Tanz-, Capriccio- und Marschcharakter an. Auch das Quartmotiv der Pauken aus dem Anfang des ersten Satzes erscheint wieder. Am Ende reduziert sich die Orchesterbegleitung wie ein Trauermarsch auf wiederholte Akkorde und wenig bewegte, rezitative Passagen der Solo-Violine dazwischen. Am Ende bleibt das Orchester auf einem reinen Quintklang da stehen, während der Solist mit einem Triller zwischen den Tönen F und Ges, also zwischen Dur- und Mollterz unentschieden endet.


Hugh Wolff

Leitung: Hugh Wolff

Der US-amerikanische Dirigent wurde 1953 in Paris geboren. Er studierte an der Harvard-Universität Komposition bei Georg Crumb und Leon Kirchner und Klavier bei Leon Fleisher und Leonard Shure, anschließend erhielt er ein Jahr „fellowship“ in Paris, wo er Dirigieren bei Charles Buck und Komposition bei Olivier Messiaen studierte. 1979 begann seine Dirigenten-Karriere mit einer Assistentenstelle bei Mstislav Rostropovič am National Symphony Orchestra in Washington. 1980 gab er sein Debüt an der Carnegie Hall. 1982-1985 leitete er das New Jersey Symphony Orchestra zunächst als „Associate Conductor“, ab 1985 als Chefdirigent. 1992 wurde er bis 2000 Musikdirektor des Saint Paul Chamber Orchestras, 1997 bis 2006 dirigierte er das hr-Sinfonieorchester. Ab 2008 hatte er die Stelle als „Stanford and Norma Jean Calderwood Director of Orchestras“ am renommierten New England Conservatory in Boston inne. 2017 wurde er Chefdirigent des Belgian National Orchestras in Brüssel.

Carolin Widmann

Solistin: Carolin Widmann

Die Geigerin wurde 1976 in München geboren und studierte bei Igor Ozim in Köln, Michθle Auclair in Boston und David Takeno an der Guildhall School of Music and Drama in London. Seit 2006 ist sie Professorin für Geige an der Hochschule für Musik und Theater “Felix Mendelssohn Bartholdy” Leipzig. In der Saison 2014/15 war Carolin Widmann Artist in Residence an der Alten Oper Frankfurt. Sie erhielt zahlreiche Preise, spielte mit einer großen Anzahl von Orchestern und Dirigenten und ist international tätig. Im Dezember 2018 spielte sie mit dem hr-Sinfonieorchester die Polonaise und das Rondo für Violine und Orchester von Franz Schubert sowie das Violinkonzert Nr. 2 ihres Bruders, Jörg Widmann.
Carolin Widmann spielt auf einer Giovanni Battista Guadagnini-Violine von 1782.