Einführung zum Video-Livestream des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 13. Januar 2022


Pëtr Čajkovskij: Serenade für Streicher C-Dur, op. 48

Pëtr Čajkovskij
Pëtr Il'ič Čajkovskij (* 1840 in Wotkinsk, † 1893 in St. Petersburg)

Bei seinen Reisen 1876 nach Paris, Neapel und Bayreuth hatte Čajkovskij feststellen können, dass seine kompositorische Arbeit internationale Beachtung fand, sein Klavierkonzert war von Hans von Bülow in Boston uraufgeführt und mehrfach überaus erfolgreich gespielt worden und in der kunstsinnigen Nadežda fon-Mekk hatte er eine Förderin und Brief-Freundin gefunden – die Korrespondenz umfasst insgesamt 1200 Briefe, einer persönlichen Begegnung aber gingen beide aus dem Weg –, die ihm später mit dem Angebot einer Jahresrente von 6000 Rubeln die Existenz als freischaffender Künstler ermöglichte. Trotzdem war das Jahr 1877 ein Krisenjahr. Die romantische Liebesbeziehung zu Iossif Kotek, einem seiner ehemaligen Schüler am Moskauer Konservatorium und Geiger, der als Privatmusiker bei Nadežda fon-Mekk angestellt war, musste geheim gehalten werden. Dies und die fast gleichzeitige Heirat mit der ihm nahezu unbekannten Antonina Ivanovna Miljukova, wohl gedacht als Tarnung für seine Homosexualität, die sich als Missgriff erwies und sehr schnell wieder zu einer konfliktreichen Trennung, wenn auch nicht Scheidung, führte, warfen ihn aus der Bahn.
 Erst die Flucht zu seiner Schwester nach St. Petersburg und Auslandsaufenthalte in der Schweiz und in Italien ermöglichten ihm wieder konzentrierte Arbeit. Mit Iossif Kotek zusammen arbeitete er die Solo-Partie seines Violinkonzertes aus, im Laufe des Jahres 1878 stellte er seine Oper Evgenij Onegin und die 4. Symphonie fertig.
 Der Entschluss sich mit der Förderung durch Nadežda fon-Mekk auf eine freischaffende Existenz einzustellen, fiel Čajkovskij gleichwohl nicht ganz leicht. Die nächsten Jahre waren von zahlreichen, teils mehrmonatigen Reisen, u. a. in die Schweiz, nach Italien und Paris, aber auch innerhalb Russlands geprägt. Trotzdem entstanden bis 1885 die beiden Opern Oleanskaja deva (Die Jungfrau von Orléans, nach Friedrich Schiller) und Mazepa (nach Aleksandr Puškin), die Orchestersuiten op. 43, 53 und 55 sowie die Streicherserenade op. 48, das 2. Klavierkonzert op. 44 und die Konzertfantasie op. 56, das Klaviertrio op. 50 sowie einige Klavierkompositionen, die Vsěnoščnoe bděnie op. 52 (ganznächtliche Vigil) und weitere Chormusik, die Romanzen op. 47 und 57 sowie die Kinderlieder op. 54 und Duette op. 46.



Serenade für Streicher C-Dur, op. 48 (1880)

Orchesterbesetzung: Streicher
Sätze: 1. Pezzo in forma di sonatina: Andante non troppo — Allegro moderato
2. Valse: Moderato — Tempo di valse
3. Élégie: Larghetto elegiaco
4. Finale (Tema russo): Andante — Allegro con spirito
Spieldauer: ca. 32 Min.
Uraufführung: 3. Dez. 1880, Moskauer Konservatorium, privates Konzert einer Gruppe von Professoren und Studenten.
30. Oktober 1881, Sankt Petersburg, Sinfoniekonzert der Russischen Musikgesellschaft, Eduard Nápravník – Ltg.

„Wie freue ich mich, dass Mozart seinen Reiz auf mich nicht im Mindesten eingebüßt hat“, so schrieb Čajkovskij aus seiner Sommerfrische in Kamenka 1880 an seine Gönnerin Nadežda fon-Mekk. Den September dieses Jahres nutzte er, um sich von seiner eigenen Musik „auszuruhen“, was beim Studium und Spiel Mozartscher Partituren am leichtesten fiel. Statt eines ursprünglich geplanten Streichquintetts nach Mozarts Vorbild komponierte er dann im Herbst seine Serenade für Streicher.
 Čajkovskij wollte nach eigenem Zeugnis seiner „Mozart-Verehrung Tribut zollen“. Der Verwendung von Zitaten oder Stilkopien widerstand Čajkovskij jedoch; sein Werk ist keine Spielerei „im klassischen Stil“, wie sie damals in Mode war, sondern ein ganz eigenständiges romantisches Werk. Verglichen etwa mit der ersten Orchesterserenade von Brahms finden sich hier kaum Anklänge an Mozart oder Haydn. Entsprechend stolz schrieb Čajkovskij im Oktober 1880 an Frau fon-Mekk: „Die Serenade habe ich aus innerem Antrieb komponiert. Sie ist vom Gefühl erwärmt und, wie ich hoffe, nicht ohne künstlerische Vorzüge. Wie stets habe ich an den Stellen, die mir am besten gelangen, an Sie gedacht, und ich freute mich bei dem Gedanken, dass sie wohl dieselben Gefühle in ihnen wecken würden, von denen ich erfüllt war.“
 Im Oktober war die Serenade fertig, und Čajkovskij machte sich an die Bearbeitung für Klavierduett. Als er die Partitur und die Klavierduett-Bearbeitung an Pjotr Jurgenson zur Veröffentlichung schickte, schrieb Čajkovskij: „Ich habe zufällig eine Serenade für Streichorchester in vier Sätzen geschrieben und schicke sie Ihnen übermorgen in Form einer vollständigen Partitur und einer vierhändigen Bearbeitung ... Ich liebe diese Serenade furchtbar und hoffe inständig, dass sie bald das Licht der Welt erblickt“.
 Wie sehr die Serenade „Gefühlsmusik“ ist, macht schon der Anfang deutlich: Die Streicher spielen im kraftvollen Forte und mit maximaler Klangfülle ein langsame Einleitung mit einem pathetischen Thema in a-Moll. Mit dem Hauptthema des folgenden Allegro wird die Bewegung tänzerisch, der Charakter serenadenhaft leicht und vom Dur geprägt. Noch einmal leichter ist das fröhliche zweite Thema in G-Dur mit seinen ständigen repetierten Sechzehnteln. Das Allegro ist in forma di sonatina geschrieben, also ohne Durchführung, wie eine klassische Sonatine. Die beiden Themen werden im zweiten Durchlauf schlicht wiederholt und von einer feierlichen Wiederkehr der langsamen Einleitung beendet. Der Satz schließt im dreifachen Forte.
 Mit dem zweiten Satz, einem wunderbaren Walzer, macht der Russe Čajkovskij dem Walzerkönig Johann Strauß spät, aber überaus wirkungsvoll Konkurrenz. Seine G-Dur-Melodie, süß und sehr graziös vorzutragen, schwebt zwischen Sentimentalität und Eleganz. Der oft auch allein gespielte Satz erinnert an den Blumenwalzer aus dem Nussknacker oder an den zweiten Satz der Sechsten Symphonie, der Pathétique.
 Der langsame dritte Satz ist eine elegische Totenklage, in die – wie eine Erinnerung – ein Liebesduett eingesetzt ist. Der Satz beginnt mit einem akkordischen Thema in der Art des letzten Satzes der Pathétique. Hier klingt es wie ein orthodoxer Chorgesang im äolischen Kirchenton auf h. Es folgt eine weite, weiche Kantilene der ersten Geigen zur gitarrenartigen Begleitung gezupfter Saiten. Bratschen und Celli greifen die Melodie auf und entwickeln ein glühendes Liebesduett. Es wird ins Elegische gesteigert und zu einem typischen Čajkovskij-Höhepunkt geführt, endet aber in Resignation. Der akkordische Anfang kehrt wieder, wie ein Grabgesang. Das Thema des Liebesduetts klingt noch einmal an, jetzt in finsteres Moll gehüllt, bevor die Musik in den Himmel entschwebt.
 Das Finale greift, wie der Titel sagt, russische Volksthemen auf: Die langsame Einleitung geht auf ein Lied der Wolgaschiffer zurück, das aber ganz leise einsetzt, um den Klangeindruck vom Ende der Elegie nicht zu zerstören. Am Ende der Einleitung löst sich ein kurzes Motiv ab, das dem Allegro als lebhaftes, folkloristisches Thema dient. Die Celli spielen das Seitenthema des umfangreichen Finales. Wie in den Finalsätzen der Vierten und Fünften Symphonie nimmt die Darstellung russischen Volkslebens ausgelassene Züge an. Den Schlusspunkt setzt aber die pathetische Einleitung aus dem ersten Satz, die am Ende noch einmal erklingt.


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.