Einführung zum Konzert des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 1. Oktober 2021


Bryce Dessner: Violinkonzert

Bryce Dessner
Bryce Dessner (* 1976 in Cincinnati, Ohio)

Als Sohn eines Jazz-Schlagzeugers und Paukers wurde Dessner durch verschiedenste Musikrichtungen beeinflusst. Als Jugendlicher probierte er sich auf der Gitarre, spielte mit seinem Zwillingsbruder, Aaron, und Freunden Rock'n'Roll, coverte Velvet Underground und The Grateful Dead. Später studierte er zuerst Geschichte. Im Masterstudium kehrte er zur Musik zurück und lernte Flöte, Gitarre und Komposition.
 1999 gründete er zusammen mit seinem Bruder die Indie-Popband „The National“, in der er E-Gitarre spielt und für die Band komponiert und arrangiert. Anfangs erfolglos gelang der Band mit ihrem vierten Album Boxer der Durchbruch. Fanden die Konzerte anfangs in Kellerclubs statt, reichten bald große Mehrzweckhallen nicht mehr aus. Und 2008 verwendete Barack Obama den Song Fake Empire in seinem Wahlkampf. Spätestens damit war eine breite Popularität und Geltung erreicht.
 Dessner nutzte die zunehmende Bekanntheit für die Beschäftigung mit anderen Musikrichtungen. 2006 gründete er in seiner Heimatstadt das Festival MusicNOW mit dem Ziel, Musiker aus den Bereichen Indie und Klassik zusammenzubringen. Er selbst komponierte zunehmend für klassische Besetzungen. 2009 spielte das Kronos Quartett sein Streichquartett Aheym in New York vor mehreren Tausend Zuhörern. Immer wieder geht es bei ihm um Kreuzungen verschiedenster Stile. So bringt etwa sein 2015 komponiertes Stück Garcia Counterpoint die Welt der Minimal Music eines Steve Reich mit dem Stil des Gitarristen Jerry Garcia, Gitarrist der Band The Grateful Dead zusammen, der den Rock für experimentellere und komplexere Ideen öffnete.
 2015 zog Dessner nach Paris und entdeckte damit die Stärken des amerikanischen Crossovers. Er schreibt: „Jetzt, da ich in Paris lebe, wird mir bewusst, dass die Europäer dieses typische amerikanische Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten entweder beneiden oder als allzu naiv ablehnen. Während die Amerikaner Popkultur und jede Art von Zusammenarbeit begeistert aufnehmen, hat die europäische Kulturszene nach dem Krieg jede Form von Schönheit abgelehnt und sich auf extreme Formen der Abstraktion konzentriert. Doch je länger ich im Ausland lebe, desto mehr wird mir klar, wie wichtig diese offene Atmosphäre wirklich ist.“
 So begreift Dessner sich als Mitglied einer großen künstlerischen Gemeinschaft und nicht als kreativen Einzelgänger. Die vielfältigen Einflüsse und Interessen bilden das Fundament seines Schaffens. Das Zwischenmenschliche liegt immer im Herzen seines Bestrebens: „Musik trägt häufig Züge eines Gesprächs“, schreibt er. „Ein Grund, warum Livemusik uns so berührt, ist, dass man menschlichen Beziehungen in Echtzeit dabei zusieht, wie sie sich auf der Bühne entfalten. Das trifft auf Orchestermusik wie das grandiose Klarinettenkonzert von Elliott Carter ebenso zu wie auf die westafrikanische Popmusik von Ali Farka Touré und Jazz von John Coltrane bis Anthony Braxton. Und auch auf Rockbands, seien es die Beatles oder The Grateful Dead. Das Ganze ist größer als die Summe der Teile.“



Violinkonzert (2020 - UA)

Orchesterbesetzung: Solo-Violine – 2 Flöten (1 auch Piccolo), 1 Oboe, 2 Klarinetten (1 auch Bassklarinette), 2 Fagotte (1 auch Kontrafagott) – 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 4 Schlagzeuge – Streicher (8-6-5-4-3)
3 Sätze
Spieldauer: ca. 24 Min.
Auftrag des Hessischen Rundfunks
Widmung: Pekka Kuusisto

Zu seinem Violinkonzert nennt Dessner zwei Inspirationsquellen: Der Essay „Die Anthropologie des Wassers von Anne Carson setzt sich mit der Jakobsweg nach Santiago de Compostela auseinander, der durch die baskische Region Frankreichs führt, in der Dessner lebt, ist die eine, die andere ist das Meer, das ihn bereits mehrfach in Werken wie St. Carolyn by the Sea für 2 E-Gitarren und Sinfonieorchester (2014) und Wave Movements – Filmmusik für Stimme, Streicher und Schlagzeug (2015) musikalisch inspirierte. Er sieht eine Parallele zwischen einer Pilgerreise und dem Schreiben eines Violinkonzerts: „Eine Reise zu unternehmen, die schon so viele vor uns unternommen haben, und auf der so viele andere musikalische Pilger einige der ikonischsten und zeitlosesten Werke hinterlassen haben. Was bedeutet es also für einen zeitgenössischen Künstler, sich auf dieselbe Reise zu begeben, und wie beeinflussen diese von anderen Künstlern hinterlassenen Artefakte unseren eigenen Weg?“
 Dessner arbeitet mit einer relativ kleinen Besetzung, spaltet dafür ab dem zweiten Satz die Streicher gänzlich auf, so dass jedes Streichinstrument eine eigene Stimme spielt. Die drei Sätze gehen direkt ineinander über, sie sind nur mit Nummern bezeichnet und weisen annähernd das gleiche, schnelle Tempo auf.
 Im ersten Satz bildet eine schnelle Sechzehntel-Bewegung der Solo-Violine eine durchgehende Konstante, in die sich das Orchester zunächst mit einzelnen Akkorden, später mit minimalistischen Arpeggio-Bewegungen oder kleinen kanonischen Verflechtungen einfügt. Dies geschieht immer blockartig. Die Betonungsmuster erinnern dabei an die variablen Metren eines Boris Blacher, die Harmonik ist geprägt von Quarten- und Quintakkorden. Dabei wechseln flächig bewegte Strukturen mit rhythmischen Impulsen ab. Auffällig ist die relativ tiefe Lage der Solo-Violine und die vielen Unisono-Passagen. Kurz vor dem Ende des ersten Satzes fügt er eine Solo-Kadenz ein, die überwiegend aus Arpeggien besteht. Diese Arpeggien werden anschließend von den Streichern aufgenommen.
 Ohne Unterbrechung folgt des zweite Satz, der zunächst durch einen Tamtam-Wirbel eingeleitet wird, in den sich die Solo-Violine einfügt, bevor die in 26 Stimmen aufgeteilten Streicher in enger kanonischer Bewegung kleine Figuren mit anschließenden Liegetönen spielen, die wie Echos in einem Hallraum wirken.
 Der Einsatz des dritten Satzes – „Oceanic“ überschrieben – ist nicht wirklich wahrzunehmen, die Streicher setzen die Bewegung des zweiten fort, als einzige Markierung lassen sich einige aufsteigende Tonleitern der Solo-Violine ausmachen. Allerdings ändern sich nach und nach die Tonstrukturen, nicht mehr gleichförmige Arpeggien, sondern etwas längere Melodiephrasen werden aneinander und übereinander gefügt, so dass bewegte Wellenfiguren entstehen, die sich rhythmisch entwickeln und in eine treibende, pulsierende Schlusspassage übergehen. Auch hier wechselt die Besetzung gelegentlich blockartig. Entsprechend ist der Schluss wie abgerissen im vierfachen forte.
 Die Komposition ist Pekka Kuusisto gewidmet, für den Dessner bereits 2015 sein Violinsolo Ornament und Verbrechen komponiert hat.


Ariane Matiakh

Leitung: Ariane Matiakh

Sie wurde 1980 in Paris geboren. Bereits als Kind gewann sie Preise für Klavier, Kammermusik und Dirigieren. Von 2002 bis 2005 studierte Ariane Matiakh Dirigieren an der Musikhochschule in Wien bei Leopold Hager, Yuji Yuasa, Erwin Ortner, Ervin Acél und in Meisterkursen bei Seiji Ozawa. Ihre Karriere als Dirigentin begann sie 2005 in Montpellier. Eine Vertretung für James Conlon im Mai 2006 bei Šostakovičs 7. Sinfonie wurde hoch gelobt und markierte den Beginn ihrer internationalen Karriere. Es folgten Stationen in Berlin, Stockholm, Amsterdam, Göteborg, Graz, Nizza und Straßburg. 2018 wurde Matiakh Professorin am Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris. Ab Beginn der Spielzeit 2019 bis Ende Januar 2020 war Ariane Matiakh Generalmusikdirektorin der Oper und Staatskapelle Halle.

Pekka Kuusisto

Violine: Pekka Kuusisto

Der finnische Geiger wurde 1976 geboren. Mit 3 Jahren erhielt er den ersten Violin-Unterricht. Ab 1985 studierte er in Helsinki bei Tuomas Haapanen. 1992 bis 1996 studierte er bei Miriam Fried und Paul Biss an der Indiana University School of Music. Zusammen mit seinem Bruder leitet er das Lake Tuusula Chamber Music Festival in Finnland. Neben der klassischen Musik beschäftigt er sich auch mit Folk, Jazz und elektronischer Musik.
Er spielt eine Violine von Giovanni Battista Guadagnini aus dem Jahr 1752.