Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 23. Mai 2018 und zu den Konzerten am 16. und 17. Dezember 2021


Antonín Dvořák: Symphonie Nr. 9

Antonín Dvořák
Antonín Dvořák (* 1841 in Nelahozeves, Tschechien, † 1904 in Prag)

Nach Beendigung seiner Schulzeit an der Prager Orgelschule 1859 arbeitete Dvořák über elf Jahre als Bratschist in einer privaten Tanzkapelle, die 1865 im Opernorchester des Prager Interimstheaters aufging. Offensichtlich probierte er sich in dieser Zeit systematisch als Komponist. Seine erste für die Öffentlichkeit bestimmte Komposition war die Oper Kral a uliř (Der König und der Köhler) von 1871. Mit dem patriotischen Hymnus Die Erben des Weißen Berges für Chor und Orchester gelang ihm der Durchbruch.
 Dieser Erfolg ermöglichten ihm die Heirat mit seiner ehemaligen Klavierschülerin Anna Čermaková, 1874 wurde das erste ihrer neun Kinder geboren. Damit nahm jener tragische Komplex ‚Kinder und Familie‘ seinen Anfang, der in der Folgezeit ebenso wie das Komponieren selbst, auch die Begeisterung für Lokomotiven und Dampfschiffe, das Taubenhobby, das Interesse am technischen Fortschritt, die Liebe zur Natur und die Religiosität das Persönlichkeitsbild Dvořáks prägte.
 Gleichzeitig setzte eine stilistische Neuorientierung ein. Er zog seine in ihrer Deklamation, Harmonik, Leitmotivik und Orchesterbehandlung an Wagner orientierte Oper Kral a uliř zurück und vernichtete einen Großteil seiner Frühwerke. Er löste sich spürbar vom neudeutschen Einfluss, suchte eine neue formale Strenge verbunden mit einer musikalischen Sprache, die zunehmend von Elementen slawischer Folklore geprägt wurde. Diese Folklore hörte Dvořák in Smetanas Musik, er wurde durch Freunde angeregt, wie etwa durch Leoš JanáČek, der ihn auf die ukrainische Dumka aufmerksam machte. Dazu studierte er die Volksliedsammlungen von Karel Jaromír Erben und František Sušil. An diese Wendezeit schloss die sogenannte „slawische Periode“ an, für die der Zeitraum von 1876 bis 1881 angegeben werden kann. In diese Zeit fällt neben den Slawischen Tänzen, der Tschechischen Suite, den Slawischen Rhapsodien und der Symphonie Nr. 6 in D-Dur auch das Violinkonzert a-Moll op. 53.
 Dass Dvořák seine ersten kompositorischen Erfolge mit Werken erzielen konnte, die vor allem mit folkloristischen Elementen seiner slawischen Heimat aufwarteten, dass auch seine internationale Bekanntheit vor allem mit den Erfolgen seiner Klängen aus Mähren op. 29, seinen Slawischen Rhapsodien op. 45 und den Slawischen Tänzen op. 46 begründet war, prädestinierte ihn möglicherweise besonders für die Absichten, die die Präsidentin des New Yorker National Conservatory of Music, Jeanette Thurner, im Juni 1891 verfolgte, als sie Dvořák die hochdotierte Stelle des künstlerischen Direktors und Kompositionsprofessors an ihrem Institut anbot. Dvořák unterrichtete einen Prager Freund über diese Absichten: „Die Amerikaner erwarten große Dinge von mir, vor allem soll ich ihnen den Weg ins gelobte Land und in das Reich der neuen, selbständigen Kunst weisen, eine nationale Musik schaffen! […] Es ist gewiß eine große und hehre Auf-gabe für mich und ich hoffe, dass sie mir mit Gottes Hilfe gelingen wird. Anregung gibt es hier genug und genug.“
 Und so studierte Dvořák in der Vorbereitung auf die Komposition seiner 9. Symphonie also verschiedenste Seiten amerikanischer Folklore: Transkriptionen von Indianermelodien, Negrospirituals und Plantagenlieder, er studierte Theodor Bakers Buch Über die Musik der nordamerikanischen Wilden, den Artikel Negro Music von Johann Tonsor (alias Mildred Hill). Aus diesen Untersuchungen fand er einige musikalische Charakteristika, die sich dann in seinen amerikanischen Kompositionen wiederfinden: Pentatonik in der Melodieführung, den erniedrigten Leitton (mixolydische Tonart), Bordunbegleitung (gleich bleibend wiederholte Bässe), das rhythmische Ostinato sowie eine stark synkopierte Rhythmik mit dem speziellen Fall des sog. „scotch snap“ (ein Rhythmus, der als „lombardischer Rhythmus“ bereits in der Barockmusik, aber auch in dem schottischen Tanz „Strathspey“ häufig verwendet wird).
 Alle diese Elemente verwendet Dvořák als Kolorit, ohne aber die sinfonische Form, Verarbeitungstechnik oder die Instrumentation anzupassen oder zu verändern. Er selbst beschrieb das so: „Ich studierte sorgfältig eine gewisse Zahl Indianischer Melodien, die mir ein Freund gab, und wurde gänzlich durchtränkt von ihren Eigenschaften – vielmehr ihrem Geiste. Diesen Geist habe ich in meiner neuen Symphonie zu reproduzieren versucht, ohne die Melodien tatsächlich zu verwenden. Ich habe schlichtweg originäre Themen geschrieben, welche die Eigenheiten der Indianischen Musik verkörpern, und mit den Mitteln moderner Rhythmen, Harmonie, Kontrapunkt und orchestraler Farbe entwickelt.“
 Offensichtlich wurde seine Arbeitsweise in den Vereinigten Staaten als „amerikanischer Stil“ anerkannt. Die Symphonie wurde zu seinem größtem Erfolg. Dvořák schrieb über das Konzert: „Die Zeitungen sagen, noch nie hatte ein Komponist einen solchen Triumph. […] Die Leute applaudierten so viel, dass ich aus der Loge wie ein König!? alla Mascagni in Wien mich bedanken musste.“



Symphonie Nr. 9 e-Moll, op.95 „Aus der Neuen Welt“ (1893)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten (1 auch Piccolo), 2 Oboen (1 auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, Schlagzeug – Streicher (16-14-12-10-8)
Sätze: 1. Adagio – Allegro molto; 2. Largo; 3. Scherzo, Molto vivace; 4. Allegro con fuoco
Spieldauer: ca. 42 Min.
Uraufführung: 16. Dez. 1893, New York, New Yorker Philharmonic Society, Anton Seidl, Ltg.

Der erste Satz beginnt mit einer wehmütigen Adagio-Einleitung. Aus einem Streicher-Unisono, mit markanten Paukenschlägen begleitet, entwickelt sich allmählich das schwungvolle Allegro. Das Hauptthema steigt in den Hörnern auf und wird vom ganzen Orchester aufgenommen. Die Holzbläser bringen ein zweites Thema, das rhythmisch zunehmend variiert und gesteigert wird. Das Thema der Schlussgruppe, von der Flöte gebracht, ist offensichtlich von der Melodie des Spirituals „Swing low, sweet chariot“ inspiriert. Alle Themen werden in der Durchführung ausführlich verarbeitet. Die Coda bricht mit Urgewalt herein und beendet den Satz in donnerndem e-Moll.
 Der zweite Satz wurde vom Komponisten als „Legende“ bezeichnet. Nach Dvořáks eigenen Worten ist er durch eine Szene aus dem Poem des amerikanischen Schriftstellers Henry Longfellow „Hiawatha“ angeregt worden und vertont gleichsam die Totenklage des Irokesenhäuptlings Hiawatha, dessen treue Gefährtin Minnehaha dahingeschieden ist. In schmerzlicher Melancholie singt das Englischhorn die Hauptmelodie, mit der dieser Satz ruhig an- und ausklingt. Ein neues, etwas schnelleres Thema taucht auf und wird - von Streichertremoli begleitet - mit der Totenklagemelodie verbunden. Wenig später verwandelt eine heitere, an Vogelgesang erinnernde Flötenmelodie den Charakter, doch das hervorbrechende Hauptthema des ersten Satzes unterbricht. Das Englischhorn trägt wieder das Hauptthema des Largos vor, mit welchem der Trauergesang verklingt.
 Das Scherzo beginnt mit einem rhythmisch markanten Thema, das den Festtanz der Indianer zur Hochzeit Hiawathas vorbereitet. Auch hier ist eine Szene aus Longfellows Epos musikalisch nacherlebt. Der Satz hat einen lyrischen Mittelteil und ist damit komplizierter gebaut als andere Scherzi Dvořáks – eher Bruckner ähnlich. Zwischen Scherzo und Trio klingt in den tiefen Streichern leise und bedrohlich das Hauptthema des ersten Satzes an. Der Trio-Teil besteht aus einer anmutigen Walzermelodie mit sprunghafter Rhythmik. Das Bild des Freudentanzes der Indianer kehrt zurück. Kurz vor dem Ende setzt sich mit aller Kraft wieder das Hauptthema des ersten Satzes durch.
 Der letzte Satz ist von einer Dynamik erfüllt, wie sie bei Dvořák vorher nur in der 7. Symphonie zu finden ist. Vom vollen Orchester wird das energische Hauptthema vorgetragen, das pathetisch von der „Neuen Welt“ kündet. Das zweite Thema in den Klarinetten ist dagegen eher sehnsüchtig. Kaum ist es verklungen, setzt das erste Thema sich wieder durch. In der Folge wird es mannigfaltig verarbeitet; es tauchen auch immer wieder Motive aus den ersten drei Sätzen auf. Ein Orchestertutti schmettert anschließend das Hauptthema mächtig heraus, bis das zweite Thema nochmals unterbricht. Doch wieder bricht sich das Hauptthema seine Bahn und führt den Satz zu einem alles mitreißenden Höhepunkt, dem nach einem letzten Innehalten die triumphale Coda folgt. Der Satz wird mit einigen Akkorden beendet, deren letzter von den Bläsern ausgehalten wird, so dass die Symphonie langsam verklingt.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung 23. Mai 2018: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.


Petr Popelka

Leitung am 16. und 17. Dezember 2021: Petr Popelka

wurde 1986 in Prag geboren. Er erhielt seine musikalische Ausbildung als Kontrabassist am Prager Konservatorium und an der Hochschule für Musik Freiburg. Er spielte im Prager Rundfunk-Symphonieorchester, im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und in der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Seit 2016 widmet sich Popelka vermehrt dem Dirigieren und erhielt Impulse von Vladimir Kiradjiev, Péter Eötvös, Alan Gilbert, Jaap van Zweden und Johannes Schlaefli. Er dirigierte das NDR Elbphilharmonie Orchester, das Danish National Symphony Orchestra, das Bergen Philharmonic Orchestra, die Janáček Philharmonie Ostrava und weitere tschechische Orchester. Operndirigate führten ihn an Den Norske Opera Oslo, an die Semperoper Dresden, an das Prager Nationaltheater sowie an die Ungarische Staatsoper Budapest. Petr Popelka ist auch als Komponist tätig. 2015 leitete er in Mödling die Uraufführung seines Auftragswerks Labyrinth des Herzens. Seine Szenen für Klavierquartett wurden in Wien uraufgeführt.