Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 17. Juni 2021


Alberto Evaristo Ginastera: Concierto para violín, Op. 30

Alberto Ginastera
Alberto Evaristo Ginastera (* 1916 in Bueons Aires; † 1983 in Genf))

Ginastera gilt als einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts in Amerika. Er studierte zunächst in Buenos Aires. Ab 1939 unterrichtete er am neuen Liceo Militar General San Martín Musik. Zwischen 1945 und 1947 studierte er in den Vereinigten Staaten bei Aaron Copland in Tanglewood. Als er nach Argentinien zurückkehrte, gründete er zusammen mit anderen Musikern die Liga der Komponisten, die Musikfakultät der Katholischen Universität, deren erster Dekan er war, und 1962 das Centro Latinoamericano de Estudios Musicales am Instituto Torcuato di Tella in Buenos Aires, das er bis zu seiner Emigration leitete. Dort studierten Komponisten aus ganz Lateinamerika und als Dozenten waren Olivier Messiaen, Luigi Nono, Iannis Xenakis u.v.a. zu Gast. 1971 heiratete er in zweiter Ehe die argentinische Cellistin Aurora Nátola und zog mit ihr nach Genf, wo er bis zu seinem Tod blieb.
 Ginastera kombinierte Techniken der Zwölfton-Musik, des Serialismus, der Mikrotönigkeit und der Aleatorik. In seinen frühen Werken sind Verbindungen zu argentinischer Folklore zu hören, intensiv beschäftigte er sich mit der Musik Bartóks, die sein musikalisches Denken beeinflusste. Mit dem 2. Streichquartett op. 26 (1958, rev. 1968) begann eine Orientierung an der Musik der 2. Wiener Schule und hier vor allem an Alban Berg. Er schuf drei Opern. Seine Oper Bomarzo (1967) mit dem Libretto von Manuel Mujica Lainez wurde in Argentinien wegen des „pornographischen“ Inhalts verboten. Ginastera verfügte daraufhin ein Aufführungsverbot für alle seine Werke in Argentinien, das bis zur argentinischen Erstaufführung von Bomarzo 1972 bestehen blieb. Außerdem schrieb er mehrere Konzerte, Orchesterstücke, Ballette, Kammermusik und eine relativ große Anzahl von Klavierstücken.
 Er unterrichtete u.a. Astor Piazzolla, Mauricio Kagel, Gerardo Gandini, Waldo de los Ríos, Alcides Lanza, Carlos Bellisomi, Jacqueline Nova, Mesías Maiguashca, Blas Emilio Atehortúa, Alicia Terzian und Antonio Mastrogiovanni.
 Ginastera wurde außerhalb der akademischen Welt bekannt, als die Rockgruppe Emerson, Lake and Palmer den vierten Satz seines ersten Klavierkonzerts adaptierte. Ginastera soll dazu geäußert haben: „Wow, niemand hat es je geschafft, meine Musik so zu erfassen, so stelle ich sie mir selbst vor!“



Concierto para violín, Op. 30 (1963)

Orchesterbesetzung: Solo-Violine – 3 Flöten (1 auch Piccolo), 3 Oboen (1 auch Englischhorn), 4 Klarinetten (1 auch Bassklarinette), 3 Fagotte (1 auch Kontrafagott) – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 6 Schlagzeuge, Harfe, Celesta – Streicher
Spieldauer: ca. 27 Min.
Sätze: I. Cadenza e studi: Cadenza – Studio I per gli accordi (Allegro) – Studio II per le terze (Allegretto) – Studio III per gli altri intervalli – Studio IV per arpeggiato – Studio V per gli armonici (Andante) – Studio VI per i 24 quarti di tono (Larghissimo) – Coda (Maestoso);
II. Adagio per 22 solisti
III. Scherzo pianissimo e Perpetuum mobile
Uraufführung: 3. Oktober 1963, New York, Ruggiero Ricci – Violine, New York Philharmonic, Leonard Bernstein – Ltg.

Der erste Satz ist in zwei größere Abschnitte unterteilt. Eine Kadenz der Solovioline eröffnet den Satz in einem rhapsodischen, virtuosen Stil, der das zugrundliegende musikalische Material des gesamten Konzerts vorstellt. Ohne Pause setzt das Orchester ein und sechs symphonische Studien und eine Coda folgen. Jede Studie ist eine Variation der Grundreihe, die die Solo-Violine mit unterschiedlichen Techniken und Materialen verarbeitet und in jeder Studie begleiten andere Orchesterinstrumente: Studie 1 beginnt mit einem Orchester-Tutti. Nach ihrem Einsatz spielt die Solo-Violine Akkorde und wird von den Hörnern und dem Schlagzeug begleitet. Studie 2 sieht Terzintervalle für die Solo-Violine vor, begleitet von sparsam gezupften Streichern. In Studie 3 spielt sie andere Intervalle, begleitet von den Holzbläsern. Studie 4 bringt Arpeggios, begleitet von 3 solistischen Violinen, Studie 5 Flageoletts, begleitet von Flöten, Klarinetten, Glockenspiel, Celesta, Harfe und Bratschen und schließlich Studie 6 mit vierundzwanzig Vierteltönen mit der Begleitung der mehrfach geteilten Streicher, die enge vierteltönige Klangflächen spielen und dabei die Bogenposition immer wieder dem Steg nähern, so dass ein obertonreicher, scharfer Ton entsteht. Die Maestoso-Coda kombiniert Elemente der anfänglichen Kadenz mit dem Orchester-Tutti der ersten Studie und führt diese zu einem kraftvollen Höhepunkt
 Das Adagio ist ein liedhafter Satz, aus fünf Abschnitten, jeweils mit unterschiedlichen Instrumenten und Strukturen. Durchgehend bestimmt die Solo-Violine den Gang fügt sich aber in die Textur so ein, das ein kammermusikalisches Miteinander entsteht. Jeder dieser Abschnitte beginnt mit einer kleinen Besetzung, die sich im Laufe des Abschnitt erweitert, um mit einem morendo zu enden. Der vierte Teil steigert sich erheblich, heftige Akkord- und Paukenschläge bestimmen den Anfang, bevor auch dieser Abschnitt verhallt. Im letzten Teil entwickelt sich eine hohe, klangvolle, aber leise Schlusspassage mit Solo-Violine, Glockenspiel, Celesta, Harfe und 3 Solo-Violinen.
 Das Finale gliedert sich, wie der erste Satz, in zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt, „Sempre volante, misterioso e appena sensibile“, lässt sich als überaus flüchtig und geheimnisvoll charakterisieren, ein Flüstern, manchmal an der Grenze der Hörbarkeit. Das Schlagzeug eröffnet, die Solo-Violine tritt dazu, später wechseln die Besetzungen fließend. Das Orchester spielt überwiegend flirrende, verwischte Flächen, nur die Solo-Violine bringt gelegentlich figürliches. In der Mitte erscheinen Fetzen aus Paganinis Capriccios, „als ob der Schatten dieses großen Geigers durch das Orchester ginge“. Die Form des Scherzos wird durch eine Reihe von miteinander verbundenen Mikrostrukturen gebildet, die präsent sind, sich entwickeln und dann schnell wieder verschwinden. Der abschließende „Perpetuum mobile“-Abschnitt, „Agitato ed allurinante“, dient als erweiterte Coda des gesamten Konzerts. Es beginnt wieder sehr leise mit sich schnell steigernden Trommeln in einem rasendem Sechzehntel-Tempo, das alsbald das gesamte Orchester übernimmt. Nach ihrem Einsatz bleibt das Tempo in der Solo-Violine bis zum Ende durchgehalten, während Instrumente des Orchesters unregelmäßige Muster beschreiben, als ob sie den Solisten unerbittlich mit einer anhaltenden Steigerung in Dynamik und rhythmischer Kraft bis zum Ende verfolgen.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.

Hilary Hahn

Violine: Hilary Hahn

Die 1979 geborene Geigerin mit Vorfahren aus Bad Dürkheim wuchs in Baltimore auf. Als Kind erhielt sie Unterricht bei Klara Berkovich. Mit zehn Jahren wechselte sie zu dem Eugène Ysaÿe-Schüler, Jascha Brodsky, an das Curtis-Institut of Music in Philadelphia. Mit zwölf Jahren spielte sie erstmals mit dem Baltimore Symphony Orchestra. Seitdem verfolgt sie eine internationale Solisten-Karriere. Mit dem hr-Sinfonie-Orchester war sie zuletzt mit den Violinkonzerten von Brahms am 16. Januar, von Bruch im Dezember und von Mendelssohn-Bartholdy im letzten Juli zu hören.
Sie spielt ein Guarneri-del-Gesù-Modell aus dem Jahre 1864 und ein Stradivari-Modell aus dem Jahre 1865 des französischen Geigenbauers J. B. Vuillaume.