Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 28. Februar 2018


Paul Hindemith: Kammermusik Nr. 4

Paul Hindemith
Paul Hindemith (* 1895 in Hanau am Main, † 1963 in Frankfurt am Main)

Dass Paul Hindemith der Nachkriegsavantgarde als Konservativer, ja als Reaktionär galt, hat drei verschiedene Gründe: Das Bedürfnis Hindemiths, ein theoretisches Werk zu hinterlassen – seine Unterweisung im Tonsatz (1937) und A Composer’s World (1952) –, hat seine eigenen späten Kompositionen, wie auch seine Schüler einer allzu engen, spröden Beschränktheit unterworfen. Der zweite Grund lag in dem großen Interesse der Nachkriegsavantgarde an seriellen Lösungen, für die sie in der zweiten Wiener Schule – Schönberg, Berg und vor allem Webern – ihre Vorbilder fanden. Der dritte Grund ist Unkenntnis insbesondere von Hindemiths Werk der 20er Jahre.
 Denn hier ist er ganz frei, bezieht alle musikalischen Einflüsse seiner Gegenwart mit in seine Komposition, und zeigt sein ganzes handwerkliches Können verbunden mit Einfallsreichtum, musikalischem Witz und wildem Denken frei von Konventionen. Zugute kam ihm dabei seine eigene Praxis als Konzertmeister an der Frankfurter Oper (1915-23), mit der Bratsche im Amar-Streichquartett (1921-29) und als Solist. Insbesondere seine sieben Kammermusiken, die zwischen 1921 und 1929 entstanden, stempelten ihn zum „Bürgerschreck“ und „Bad boy“ der Musik der 20er Jahre ab. Urteile, wie: „Man steht einer Musik gegenüber, wie sie zu denken, geschweige zu schreiben, noch nie ein deutscher Komponist von künstlerischer Haltung gewagt hat, einer Musik von einer Laszivität und Frivolität, die nur einem ganz besonders gearteten Komponisten möglich sein kann ...“ waren keine Seltenheit und forderten Hindemith gelegentlich zu humorvoll-bissigen Repliken heraus: „... meine Sachen [sind] für Leute mit Ohren wirklich leicht zu erfassen (...), eine Analyse also überflüssig (...) Den Leuten ohne Ohren ist ja auch mit solchen Eselsbrücken nicht zu helfen.“ (1922)



Kammermusik Nr. 4 für Violine und größeres Kammerorchester op. 36 Nr. 3 (1925; 1. Satz umgearb. 1951)

Orchesterbesetzung: Solo-Violine – 2 Piccolo-Flöten, kleine Klarinette, Klarinette, Bass-Klarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott – Cornet à piston, Posaune, Tuba – Schlagzeug – 4 Bratschen, 4 Celli, 4 Kontrabässe
5 Sätze: 1. Signal: Breite, majestatische Halbe – 2. Sehr lebhaft – 3. Nachtstück: massig schnelle Achtel – 4. Lebhafte Viertel – 5. So schnell wie möglich
Widmung: "Yashnykneshpeff für eines lieben Löwen Geburtstag" (= Licco Amar)
Spieldauer: ca. 23 Min.

Die sieben Kammermusiken entstanden zwischen 1922 und 1929. Die Kammermusik Nr. 4 komponierte Hindemith 1924 für seinen Freund Licco Amar, den Primarius des Amar Quartetts. Von den sieben fällt das erste von 1922 aus der Reihe: Es erscheint als Parodie von Konventionen traditioneller Kammermusik. Erst die Kammermusik Nr. 2 für obligates Klavier und zwölf Solo-Instrumente op. 36 Nr. 1 von 1924 begründet die folgende sechsteilige Reihe von Konzerten für ein Solo-Instrument und Kammerorchester. Die weiteren Solo-Instrumente sind: Cello (Nr. 3), Violine (Nr. 4), Bratsche (Nr. 5), Viola d’amore (Nr. 6) und Orgel (Nr. 7). Die Besetzung des Kammerorchesters, die Form und Satztechnik unterscheiden sich dabei jedesmal, so dass sich ganz charakteristische Klangbilder und musikalische Beziehungen ergeben.
 Das Violinkonzert markiert in der Reihe eine veränderte stilistische Haltung. Während in den beiden Kammermusiken Nr. 2 und Nr. 3 polyphone Strukturen und neobarocke Anlagen hörbar werden, vergrößert er in Nr. 4 die Kammerorchesterbesetzung und besetzt die extremen Lagen mit zwei kleinen Flöten und der Es-Klarinette einerseits, dem Kontrafagott, der Baßtuba und vier Kontrabässen andererseits, besonders stark, so daß ein greller, scharf akzentuierter Tuttiklang resultiert. Mit ihren fünf Sätzen ist diese energische, ernste Musik das ambitionierteste Werk der Reihe und behandelt die Violine wie einen traditionellen Konzertsolisten. Das Hauptgewicht des begleitenden Ensembles liegt auf den Bläsern und dadurch, dass er in der Streichergruppe keine Violinen einsetzt, gewinnt die Solo-Violine an Gewicht und die restliche Streichergruppe ist in die Tiefe orientiert. Zudem verlangt Hindemith die in Jazzkapellen beliebten kleinen Trommeln. Der Kopfsatz ist ein Signal mit Fanfaren des Cornet ŕ piston, das auf die erst im 2. Satz einsetzende Solo-Voline hinführt. Die Satzweise lässt eine neue Fundierung der Kompositionsweise zu erkennen, die als „Neue Sachlichkeit“ aufgefasst werden kann: Unsentimental, nüchtern, formal fest gefügt, überschaubar und prägnant. Sie verschmäht das „Stimmungsvolle“, ohne deshalb ausdruckslos zu sein, und kann sich stilistisch an die Musik vergangener Epochen anlehnen. Hindemith bestimmt: „Die Zeiten des steten Für-sich-Komponierens sind vielleicht für immer vorbei. Auf der anderen Seite ist dagegen der Musikbedarf so groß, dass es dringend nötig ist, dass sich Komponist und Verbraucher endlich verständigen.“


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.

Frank-Peter Zimmermann

Violine: Frank-Peter Zimmermann

1965 in Duisburg geboren. Seine Mutter unterrichtete ihn ab einem Alter von 5 Jahren. Sein erstes öffentliches Konzert gab er mit zehn Jahren. Mit elf Jahren gewann er den Wettbewerb Jugend musiziert, er kam im gleichen Jahr an die Folkwangschule in Essen und wurde dort Schüler von Valery Gradow. Bis 1985 studierte er weiter bei Saschko Gawriloff und Herman Krebbers. Sein offizielles Debüt gab er 1981 mit den Berliner Philharmonikern mit Mozarts Violinkonzert KV 216. Er spielte auf Festivals und Konzerten in allen Erdteilen. Seine Einspielungen umfassen alle großen Violinkonzerte der Weltliteratur. Inzwischen gehört Frank Peter Zimmermann zu den bekanntesten deutschen Geigern seiner Generation. Regelmäßige Kammermusikpartner sind die Pianisten Enrico Pace und Christian Zacharias sowie der Cellist Heinrich Schiff. Seit 2007 besteht das Trio Zimmermann mit Antoine Tamestit, Viola, und Christian Poltéra, Violoncello.
Die beiden Kompositionen von Hindemith und Schumann spielt Zimmermann in der ersten Jahreshälfte 2018 in 17 Aufführungen mit 11 verschiedenen Orchestern.