Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 12. April 2018


Wynton Marsalis: Swing Symphony

Wynton Marsalis
Wynton Marsalis (* 1961 in New Orleans)

Wynton Marsalis, Sohn des Jazz-Pianisten Ellis Marsalis, begann als Zwölfjähriger seine klassischen Trompetenstudien und sammelte erste Band-Erfahrungen in lokalen Marching-, Jazz- und Funkbands. Nach Besuch des Berkshire Music Centre in Tanglewood, Mass., studierte er ab 1979 an der Juilliard School in New York und wurde bis 1982 Mitglied von Art Blakeys’s “Jazz Messengers”. 1981 und 1983 tourte er mit dem Jazzpianisten und -komponisten, Herbie Hancock, 1982 gründete er zusammen mit seinem Bruder, dem Saxophonisten Branford Marsalis ein Quintett. 1983 und 1984 gewann er neun Grammy Awards, als erster Musiker sowohl für Jazz als auch für „klassische“ Aufnahmen (u.a. Trompetenkonzerte von Joseph Haydn, Johann Nepomuk Hummel und Leopold Mozart). Seit 1987 ist Marsalis maßgeblich an der Etablierung des Jazz-Programms am Lincoln Center in New York beteiligt und wurde dessen künstlerischer Leiter und seit 1995 auch Leiter des Lincoln Center Jazz Orchestra. 1987 gründete er das Wynton Marsalis Septett, das mit Unterbrechungen bis heute besteht und international konzertiert.
 Ab etwa Mitte der 1990er Jahre befasste sich Marsalis zunehmend mit Kompositionen für Besetzungen, die im Jazz eher unüblich sind, das Jazz-Oratorium für Orchester und Gesang Blood on the Fields (1994), ein 1. Streichquartett At The Octoroon Balls (1995), eine abendfüllende zwölfteilige Komposition All Rise (1999 = Symphony Nr. 1) für großes Orchester, Chor und Jazz-Bigband und die Blues Symphony (2009, rev. 2015 = Symphony Nr. 2) für Sinfonie-Orchester.
 Ab 1995 gestaltete er die TV-Produktion “Marsalis on Music” und er beriet Ken Burns bei dessen Fernsehserie über Jazz, die wegen ihrer eingeschränkten Sicht der Jazzgeschichte in der Kritik stand. Marsalis gilt als äußerst konservativer Musiker, der viele stilistische Entwicklungen des Jazz ab Ende der 1960er Jahre – etwa Free Jazz oder Fusion – rigoros ablehnt. Er wird dafür von Vertretern der Jazz-Avantgarde z. T. heftig kritisiert. Dennoch beteiligte er sich etwa an der Einspielung von Charles Mingus’ Third Stream-Komposition Epitaph und Joe Hendersons Album Lush Life: The Music of Billy Strayhorn. Seit 2012 ist er als Kulturkorrespondent für CBS tätig.
 Als Trompeter ist er unbestritten. Seine Technik befähigt ihn, klassische Werke adäquat aufzuführen, im Jazz hat er sich sowohl die Phrasierung, Artikulation und Tongebung des traditionellen Jazz, wie des modernen Hard-Bop angeeignet. Während er in seinen Aufnahmen mit Art Blakeys “Jazz Messengers” oder mit Herbie Hancock vor allem die Hard-Bop-Tradition pflegte, schuf er mit seinem Septett nach einer mehrjährigen Entwicklungsphase etwa ab 2003 eine gelungene Synthese aus traditionellem Spiel (New Orleans-Jazz und Swing) mit moderneren Hard-Bop-Konzeptionen.



Swing Symphony (2010)

Orchesterbesetzung: Piccolo, 2 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 5 Schlagzeuger – Streicher (14-12-10-8-6) – Big Band: 4 Trompeten, 4 Posaunen, 5 Saxophone, Klavier, Gitarre, Bass, Schlagzeug
Sätze: 1. “St. Louis to New Orleans”
2. “All-American Pep”
3. “Midwestern Moods”
4. “Manhattan to LA”
5. “Modern Modes & the Midnight Moan”
6. “Think Space: Theory”
7. “The Low Down Up on High”
Spieldauer: ca. 70 Min.
Uraufführung: 10. Juni 2010, Jazz at Lincoln Center Orchestra, Berliner Philharmoniker, Leitung: Sir Simon Rattle.

Die Idee, Jazz und westliche, klassische Musik zu vereinen, ist fast so alt wie der Jazz. 1924 beauftragte Paul Whiteman George Gershwin, für sein Orchester zu komponieren, das Ergebnis war die Rhapsody in Blue. Duke Ellington experimentierte schon 1935 mit größeren Formen, etwa sein 12-minütiges Reminiscing in Tempo oder sein Kurzfilm Symphony in Black. Gegen Ende seines Lebens komponierte Ellington für das New York Philharmonic Orchestra.
 Jazz besteht – wie alle Improvisations-Idiome – aus Dialog, und bei Marsalis beginnt dieser mit dem Gegenüber zweier in ihrer Arbeitsweise üblicherweise höchst unterschiedlichen Ensembles. Die Komposition, die im Auftrag der Stiftung Berliner Philharmoniker, dem New York Philharmonic Orchestra, der Los Angeles Philharmonic Association und dem Barbican Centre, London, entstand, verfolgt die Absicht, die Geschichte des Jazz nachzuzeichnen.
 Wie auch das zwölfsätzige All Rise ist auch die Swing Symphony eher eine Suite, als eine Sinfonie. Mehr oder wenig chronologisch geht Marsalis durch die verschiedenen historischen Stationen des Jazz, beginnend mit dem Ragtime und dem Übergang zum New Orleans-Stil. Im zweiten Satz werden die goldenen 20er Jahre mit Slapstick Percussion und Whistles erinnert. Sie enden mit Baritonsaxophon und Solo-Violine.
 Der dritte Satz beginnt mit einem Dialog zwischen Celli und Saxophonen und führt in einen größeren Schlagzeug-Abschnitt. Es scheinen die Charleston- und Bigband-Ären auf, Bebop – mit rasendem Tempo und einem rauschhaften Trompetensolo – dann wieder lateinamerikanische Anklänge mit Afro-Cubop und einem Altsaxophon-Solo, und schließlich John Coltranes modale Periode (im fünften Satz) mit flirrenden Dissonanzen und intensivem Dialog zwischen den beiden Ensembles, bevor sich das Stück verbreitert zu einer balladenartigen Sequenz im Stile des Ellingtonschen Saxophonsatzes.
 Der sechste Satz ist der vielleicht am wenigsten durchschaubare: Der Dialog scheint hier in der amorphen Klangmasse der großen Anzahl von Stimmen und Instrumenten verloren.
 Der siebte Satz knüpft wieder an Duke Ellington an und trifft einen explosiven, überaus optimistischen, „finalen“ Ton voller Vitalität.
 Die Jazz-Entwicklungen nach 1960 kommen in der Jazzgeschichte von Marsalis nicht vor, eine Auffassung, für die er von vielen seiner Jazzmusiker-Kollegen immer wieder heftig kritisiert wurde.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.