Einführung zum Konzert des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 22. November 2022


Modest Musorgskij: Chovanščina: Ouvertüre

Modest Musorgskij
Modest Musorgskij (* 1839 in Karewo, Ujesd Toropez, Gouvernement Pskow, Russisches Kaiserreich; † 1881 in Sankt Petersburg)

Musorgskij sollte die Offizierslaufbahn einschlagen und trat 1856 in ein Garderegiment ein, kam aber, immer schon musikalisch interessiert, mit Aleksandr Dargomyžskij, Milij Balakirev und Zesar Kjui in Verbindung und gab seine Laufbahn auf, um sich ganz der Musik zu widmen. Durch eine Fehlspekulation büßte er sein väterliches Erbe ein und mußte, um sein Leben fristen zu können, eine untergeordnete Stelle im Eisenbahnministerium annehmen. Da er die Lage der kurz zuvor von der Leibeigenschaft befreiten Bauern und der Arbeiter in den Manufakturen kannte und ihn die bittere Not des Volkes quälte, suchte er in seinen Werken Visionen eines aus der Unterdrückung befreiten Volkes darzustellen und die ungeschminkte Wahrheit darüber auf die Bühne zu bringen. „Wehe dir, armes Volk, du hungernd Volk!“ heißt es am Ende der Urfassung seiner Oper Boris Godunov. Als einziger der von Milij Balakirev mobilisierten nationalrussischen Komponisten des „mächtigen Häufleins“ sah er die Lage seines Volks klar und begeisterte sich nicht nur an den russischen Volksweisen. Neben dem Brot-Beruf betrieb er seine kompositorische Arbeit mit geradezu fanatischer Besessenheit und arbeitete daneben als Klavierlehrer und Korrepetitor.
 Lieder und Opern sind die Gattungen, mit denen sich Musorgskij am meisten beschäftigt hat. Symphonien und Streichquartette hielt er den ästhetischen Überzeugungen Vladimir Stasovs folgend für überholt. Es sind aber auch Lücken bei der Beherrschung musikimmanenter Formbildung, die er umwertet in eine Ästhetik des Fortschritts, womit er sich auf Vorbilder wie Berlioz, Liszt – und in negativer Verkehrung auf Wagner – beruft. Von den sieben Opern blieben fünf unvollendet, nur Ženit'ba (Die Heirat, nach Nikolaj Gogol') und Boris Godunov (nach Aleksandr Puškin und Nikolaj Karamzin) vollendete er. Die anderen Opern wurden zum Teil später von Nikolaj Rimskij-Korsakov, Zoltán Peskó, Dmitri Šostakovič, Zesar Kjui, Aleksandr Borodin, Léon Minkus, Igor Stravinskij, Maurice Ravel, Anatoli Ljadov, Vasilij Karatygin, Nikolaj Čerepnin, Vissarion Šebalin, Pavel Lamm bearbeitet, orchestriert und ergänzt.
 Pëtr Čajkovskijs Urteil über Musorgskij, der schrieb, er „schmiert hin, wie es ihm gerade einfällt, indem er an die Unfehlbarkeit seines Genies glaubt“, und „außerdem ist er eine niedrige Natur, die alles Grobe, Ungeschliffene und Ungeschlachte liebt“, ist mit Sicherheit ungerechtfertigt. Claude Debussy urteilte ganz gegenteilig: „Niemals hat eine so bis ins Letzte verfeinerte Sensibilität durch so einfache Mittel sich auszudrücken vermocht; man wird dabei an den Tanz eines Wilden erinnert, der bei jedem Schritt, den ihm sein Gefühl vorzeichnet, die Musik entdeckt.“



Chovanščina: Ouvertüre

Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner – Pauken, Schlagzeug, Harfe – Streicher
Spieldauer: ca. 5 Min.
Uraufführung: von der Zensur gekürzte, private Laienaufführung: 21. Febr. 1886 in St. Petersburg;
Fassung Rimskij-Korsakov: 20. Nov. 1911 in St. Petersburg,
Fassung Šostakovič: 25. Nov. 1960 in Leningrad

Als Musorgskij 1881 starb, lag von der Oper Chovanščina ein fast fertiger Klavierauszug vor. Rimskij-Korsakov instrumentierte das Werk. Eine öffentliche Uraufführung fand erst 1911 statt. Im Auftrag Sergej Diaghilews, bearbeitete Igor Stravinskij das Werk erneut, beide Bearbeitungen wurden miteinander verbunden. Später überarbeitete Dmitri Šostakovič das Werk auf der Basis der Gesangsstimmen in Musorgskijs Partitur erneut. Dies ist die Fassung, die heute meist gespielt wird.
 Das Thema der Oper geht auf Vladimir Stasov zurück, der mit wachem Gespür für die aktuelle Debatte über die nationale Geschichte ein Sujet aus dem späten 17. Jahrhundert – von der Vernichtung der Altgläubigen bis zur Machtergreifung Peters des Großen – vorschlug und mit konkreten Recherchen vorbereitete und damit das Spannungsverhältnis von überkommener russischer Tradition, nationaler und kultureller Identität und der politischen und kulturellen Öffnung nach Westen thematisiert.
 Die Ouvertüre ist indes mit dem Idyll des Sonnenaufgangs befasst und lässt von der in der Oper aufgeworfenen Problematik noch nichts ahnen. Eine Melodie wandert mit nur geringen Variationen in Tonlage, Klangfarbe und Begleitung durch das Orchester.


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.