Einführung zum Konzert des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 12. Oktober 2022


Charilaos Perpessas: Symphonie Nr. 2 „Christus“

Charilaos Perpessas
Charilaos Perpessas (* 1907 in Leipzig; † 1995 in Sharon, Massachusetts, USA)

Perpessas’ griechische Eltern waren Pelzhändler, die nach Leipzig gezogen waren. Vieles in seinem Werdegang ist rätselhaft: Er soll Politik und Komposition studiert haben, anderen Quellen zufolge studierte er Philosophie und Literatur an der Universität und am Konservatorium in Leipzig. Sicher ist, dass er ein Jahr lang bei Arnold Schönberg an der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin studierte. 1934 reiste er das erste Mal nach Griechenland, wo er zwei symphonische Werke komponierte, die erfolgreich aufgeführt wurden. Während der Schlacht um Athen 1944 verlor er den linken Arm, wodurch er nicht mehr als Pianist arbeiten konnte. 1948 ließ er sich in den USA nieder und führte ein zurückgezogenes Leben in New York. Vermutlich hat er in dieser Zeit frühere Kompositionen überarbeitet. Eine größere Anzahl abgeschlossener Kompositionen vernichte er aber auch. Ein Angebot von Spyros Skouras, dem Präsidenten der Twentieth-Century Fox, Filmmusik zu komponieren, lehnte er ab und verbot die Aufführung oder Veröffentlichungen seiner Werke. Als sensibler und introvertierter Mensch wandte er sich der Philosophie, der christlichen Apologetik und der Astrophysik zu. 1992 zog er in ein Altenheim in Sharon, Massachusetts.
 Neben Dimitri Mitropolous und Nikos Skalkottas gilt Perpessas als einer der wichtigsten griechischen Komponisten und Neuerer. Er blieb allerdings zeit seines Lebens der Tonalität als Grundlage der Musik verhaftet, das Zwölftonsystem lehnte er ab. In Athen befreundete er sich mit Mitropoulos, der sich für seine Musik einsetzte und seine Werke sowohl in Griechenland als auch in den USA aufführte. Mitropoulos hielt die Werke Perpessas' für gut geschrieben, jedoch von „Selbstmitleid“ durchdrungen, was den Kritikern missfalle. Perpessas’ großformatige Kompositionen sind den tonalen Werken der Spätromantik und deren Folgezeit verpflichtet und weisen Einflüsse von Gustav Mahler, Richard Wagner, Richard Strauss, Claude Debussy und Maurice Ravel auf. Sein Stil ist durch die melodische Verwendung großer Intervalle gekennzeichnet sowie durch eine moderne harmonische Anlage, traditionelle rhythmische Muster, üppige Orchesterfarben und beindruckend gestaltete Steigerungen.



Symphonie Nr. 2 „Christus“ (1948-50)

Orchesterbesetzung: 4 Flöten (zwei auch Piccolo), 4 Oboen (eines auch Englischhorn), 5 Klarinetten (2 auch kleine Klarinette in D oder Es, 1 Bassklarinette), 4 Fagotte (eines auch Kontrafagott) – 4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba – Pauken, 3 Schlagzeuge, 2 Harfen – Streicher
Spieldauer: ca. 30 Min.
Sätze: 1. Adagio – Presto – Adagio
2. Adagio – Allegro – Adagio
3. Allegro con fuoco – Adagio – Andante
4. Adagio – Presto subito
5. Presto – Adagio – Tempo I – Grandioso – Presto
6. “O, Thou my Jesus” / Adagio molto
Uraufführung: 26. Okt. 1950, Carnegie Hall New York, Orchester der Philharmonic-Symphony Society, Dimitri Mitropoulos – Ltg.

Bereits 1936-1937 arbeitete Perpessas an seiner 2. Symphonie, die er nicht vollendete. Ab 1948 – noch in Athen – begann er das Werk zu revidieren und nannte es „Christus Symphonie“. Das Werk wurde 1950 in New York vollendet. Inspiriert wurde das Werk von Wagners Schrift „Religion und Kunst“. Die Arbeit fällt also in eine Periode, die das Ende seines zweiten Lebensabschnitts und den Beginn des dritten markiert, als er nach Amerika ging.
 Die Symphonie besteht aus sechs Sätzen, von denen die ersten fünf ohne Zwischenpausen gespielt werden. Allen Sätzen sind bestimmte Bibelstellen oder geistliche Leitsprüche zugeordnet, die ihren jeweiligen Inhalt bestimmen. Zwischen den verschiedenen Sätzen des Werks gibt es außerdem musikalisch-thematische Zusammenhänge.
 Perpessas malt mit seinem groß besetzten Orchester bunte und bedrohliche, fragende und lobpreisende Bilder in den Raum. Die Symphonie ist eine tonale Collage aus Monumentalästhetik, wie sie bei Bruckner oder Wagner zu finden ist, und Filmmusik, expressiven Glissandi und Tremoli und darauffolgenden hymnisch-melodischen Abschnitten. Mit seiner religiösen Programmatik zwischen Apokalypse und Apotheose erscheint das Werk deutlich überfrachtet und vielleicht sollte man dem Hörer raten, das Werk ohne Kenntnis dieser Zuschreibungen unbefangen zu hören. Trotzdem seien diese Bezüge hier mitgeteilt.

 Für den ersten Satz ist eine Textstelle aus der Offenbarung des Johannes (4,1) ausgewählt: „Darnach sah ich, und siehe, eine Tür war aufgetan im Himmel; und die erste Stimme, die ich hörte, war wie eine Trompete, die mit mir redete und sprach: Komm herauf, ich will dir zeigen, was nachher sein soll.“ Der Einzug der Bläser des Orchesters zu Beginn des Werkes könnte eine Deutung dieses Satzes sein. Der Anfang ist geprägt durch stehende Akkorde, die nach und nach zu einer absteigenden Viererfigur zusammentreten. Ein zweites Thema beginnt mit schnellen wiederholten Tonrepetitionen über die sich eine wenig markante Themenfigur erhebt. Diese Figur bestimmt später den fünften Satz.
 Auch für die Beschreibung des zweiten, sehr kurzen Satzes ist ein Auszug aus der Offenbarung (21,3-4) ausgewählt: „Und ich hörte eine große Stimme aus dem Himmel sagen: Siehe, die Hütte Gottes ist bei den Menschen, und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein und ihr Gott sein. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ Das erste Thema beginnt unisono mit zwei aufeinanderfolgenden Abwärtsbewegungen, um dann stufenweise anzusteigen. Dieses Thema erscheint variiert im vierten Satz wieder. Aus der Melodie entwickelt sich eine große Steigerung, die aber bald wieder zurückgenommen wird und in eine Schlussfigur führt, die später als Hauptthema des sechsten Satzes fungiert.
 Der dritte, deutlich längere Satz trägt den nach dem Wagnerschen Aufsatz gebildeten Titel: Das Übel der Menschheit: Selbstzerstörung. Das erste Thema ist ein schnelles, von punktierten Rhythmen geprägtes Motiv, das variiert im vierten Satz als zweites Thema wieder erscheint. Es folgt ein kurzer Choral. In dessen Schlussakkord trillern Fagott und Horn. Eine ausgedehnte abstiegende Linie im Adagio führt erneut in ein schnelleres Tempo mit aufsteigenden, akkordischen Vierergruppen in regelmäßigen Achteln im Bass und einer kurzweiligen Verarbeitung veschiedener kurzer Motive, die immer wieder in schnelle akkordische Läufe münden. Den Schluss bilden nacheinander Wirbel bzw. Triller der Pauke, des Fagotts und der Bassklarinette.
 Motto des vierten Satzes ist Liebe, Glaube und Hoffnung. Er beginnt mit einer bewegten Akkordfläche in den Streichern, aus der sich zunächst eine einzelne Hornmelodie erhebt. Sobald die Holzbläser übernehmen, gehen die Streicher in eine Laufbewegung über. Das erste Thema des zweiten Satzes wird variiert und kontrapunktisch verarbeitet. Der Satz wird auf Violinen und Bratschen reduziert, nun wird das erste Thema des dritten Satzes verarbeitet. Nach und nach wird der Satz immer dichter, schneller und kräftiger. Am Schluss spielen Violinen, Oboe und Schlagzeug wenige Takte im Presto als Übergang in den fünften Satz.
 Für den fünften Satz wird erneut die Offenbarung (19,1 u. 7) zitiert: „Und ich hörte eine Stimme wie eine große Schar und wie die Stimme vieler Wasser und wie die Stimme eines gewaltigen Donners, die sprachen: Halleluja, denn der Herr, der allmächtige Gott, ist König. Lasst uns fröhlich sein und uns freuen und ihm die Ehre geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Frau hat sich bereit gemacht.“ Die Begleitung dieses Satzes besteht zunächst aus Repetitionen der Streicher im Presto, über denen das zweite Thema des ersten Satzes verarbeitet wird. Die Melodie wird zum Gegenstand eines grandiosen Adagio-Chorals, um – immer in Tutti-Besetzung – verschiedenen Steigerungen ausgesetzt und durch verschiedene Lagen und Charaktere geführt zu werden.
 Der sechste Satz, der durch eine Pause vom Rest des Werks getrennt ist, ist ein Choral in Liedform – eine orchestrale Ausarbeitung des Hymnus Oh Du mein Jesus (O Thou my Jesus) –, der zunächst von den Streichern vorgestellt wird. Die Melodie, die bereits am Ende des zweiten Satzes erklang, kippt von Dur nach Moll und zurück, wird wiederholt, gesteigert und schließlich immer weiter in die Höhe geführt. Sowohl der Text des Hymnus als auch die Melodie sind keine Zitate, sondern authentische Schöpfungen des Komponisten. Der Text lautet: „O Du mein Jesus, o Du mein Heiland, / Komm und erlöse uns von unserem tiefen Leid. / Wenn wir auf Dich blicken, sind wir im Tal der Tränen, / Reinige uns von allem Kummer und Leid.“


Constantinos Carydis

Leitung: Constantinos Carydis

Der griechische Dirigent und Pianist wurde 1974 in Athen geboren. Er studierte Musiktheorie und Klavier am Nationalen Konservatorium von Athen, danach Dirigieren an der Hochschule für Musik und Theater in München bei Hermann Michael. Als Pianist konzertierte er mit griechischen Orchestern und trat bei Solorecitals und Kammermusikabenden auf. Nach seinem Debüt beim Staatstheater am Gärtnerplatz in München konzentrierte er sich auf seine Dirigentenkarriere. Bald wandte er sich der Oper zu, Engagements an der Staatsoper Stuttgart und ab 2006 an der Wiener Staatsoper folgten. 2016 war er an der Oper Frankfurt mit Bizets Carmen zu hören.
 Der Musikjournalist Karl Harb schrieb über ihn: „Für jedes Stück findet Carydis eine passende, spezifische Klangaura, entwickelt einen Farbenreichtum, der nur entstehen kann, wenn man selbst kleinste Nuancen, Verzierungen, Phrasierungsdetails beachtet und ernst nimmt, mithin ins Innerste der Werke zu hören versteht.“ Carydis dirigiert – wie viele heutige Dirigenten – ohne Taktstock.