Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 29. April 2021


Astor Piazzolla: Sinfonietta

Astor Piazzolla
Astor Piazzolla (* 1921 in Mar del Plata, Argentinien; † 1992 in Buenos Aires)

Die italienisch-stämmige Familie emigrierte wegen der schlechten Wirtschaftslage in die USA, als Astor vier Jahre alt war. Der Vater betrieb einen Friseursalon und war Tango-Kenner. 1929 begann Piazzolla seine musikalischen Studien, lernte Klavier und Bandoneón, interessierte sich für Jazz und die Musik Johann Sebastian Bachs. 1937 kehrte die Familie nach Buenos Aires zurück, wo eine Aufführung des Tango-Ensembles von Elvino Vardaro zu einem Schlüsselerlebnis für Piazzolla wurde: Hier erlebte er erstmals eine neuartige Tango-Interpretation, die ihn begeisterte. Er übte nun vermehrt und perfektionierte sein Bandoneónspiel. 1939 wurde er Mitglied des Orchesters von Aníbal Troilo, dem er bis 1944 angehörte. Dort entstanden auch seine ersten Arrangements. Von 1940 bis 1946 studierte er Komposition, Orchestrierung und Kontrapunkt bei Alberto Ginastera und begann damit seine zweigleisige Laufbahn als klassischer Komponist und Unterhaltungsmusiker.
 1944 machte er sich als Leiter und Arrangeur seines eigenen Tangoorchesters selbständig, wobei er weitgehend den klassischen Tangostil pflegte. 1949 gab er die Tätigkeit als Ensemble-Leiter und Interpret auf und widmete sich verstärkt der Komposition klassischer Musik sowie der Filmmusik, eine Spezialität, die er sein Leben lang beibehielt. Für etwa 60 Filme produzierte er die Filmmusik. Sein Verhältnis zum Tango war widersprüchlich, denn obwohl er sich der Kunstmusik zugewandt hatte, sicherte der Tango doch seine regelmäßigen Einkünfte, da er weiterhin für namhafte Tangoorchester Arrangements schrieb. Für die 1953 komponierte Sinfonietta erhielt er einen Preis, der ein Stipendium am Pariser Konservatorium enthielt. Das ermöglichte es ihm, bei Nadia Boulanger zu studieren. Beim ersten Vorspielen verschwieg er ihr, dass er Tangos gespielt und komponiert hatte. Piazzolla erklärte seine Gründe so: „In Wahrheit schämte ich mich, ihr zu sagen, dass ich Tangomusiker war, dass ich in Bordellen und Cabarets von Buenos Aires gearbeitet hatte. Tangomusiker war ein schmutziges Wort im Argentinien meiner Jugend. Es war die Unterwelt.“
 Boulanger entdeckte beim Durchsehen von Piazzollas Partituren Einflüsse von Ravel, Stravinsky, Bartók und Hindemith, vermisste jedoch eine individuelle Handschrift und bat Piazzolla, einen Tango auf dem Klavier zu spielen. Danach sagte sie Piazzolla deutlich die Meinung: „Du Idiot! Merkst Du nicht, dass dies der echte Piazzolla ist, nicht jener andere? Du kannst die gesamte andere Musik fortschmeißen!“
 Piazzolla nahm dies ernst; er nahm seine Tätigkeiten im Bereich des Tango wieder auf und entwickelte diese parallel zu seinem klassischen Konzertschaffen weiter. Nach seiner Rückkehr 1955 gründete er das Octeto Buenos Aires, das die Geburt des tango nuevo darstellt. Zum ersten Mal wurde die Gattung nicht als Tanzmusik, sondern als Musik für den Konzertsaal betrachtet. Die Bearbeitungen für das Oktett weisen einen bunt gemischten Katalog an komplexen harmonischen und melodischen Mitteln auf. Sie fanden in intellektuellen Kreisen großen Anklang, wurden von den Traditionalisten der Tango-Szene jedoch scharf kritisiert. 1958 versuchte Piazzolla sein Glück in New York, hatte jedoch wenig Erfolg. Nach seiner Rückkehr 1960 gründete er das Quinteto Nuevo Tango bestehend aus Bandoneón, Gitarre, Violine, Kontrabass und Klavier, eine Besetzung, die zum Standard des modernen Tangoensembles wurde. In den 1960er Jahren kristallisierte sich sein eigener Stil heraus, der im wesentlichen kammermusikalisch ist und häufig auf kontrapunktische Techniken innerhalb einer tonalen Musiksprache zurückgreift. Zu Beginn der 1970er Jahre erweiterte er sein Ensemble Conjunto 9 zu einem Nonett. Für diese Formation entstanden formal und rhythmisch freiere und komplexere Werke, die als tango de vanguardia bezeichnet wurden. 1968 entstand im Bereich der Vokalmusik zusammen mit dem Dichter Horacio Ferrer die „operita“ María de Buenos Aires, die die Struktur einer Kantate aufweist und einen Markstein in der Geschichte des Tango darstellt. Aus Piazzollas enger Zusammenarbeit mit Ferrer entstand schließlich ein neuer gesungener Tango, der sich völlig von der traditionellen Gattung unterschied. Eine der erfolgreichsten Kompositionen dieses Genres war die Balada para un loco (1969), mit der Piazzolla erstmals breite Popularität erlangte. 1974 ließ Piazzolla sich in Italien nieder und veränderte nochmals seinen Musikstil, so verwendete er nun auch elektronische Instrumente in seinen Studio-Ensembles. 1988 musste er sich einer Herz- und Gefäßoperation unterziehen und löste anschließend das Quintett auf. 1989 formierte er für kurze Zeit ein Sextett mit zwei Bandoneónes, Cello, E-Gitarre, Klavier und Kontrabass. Kurz darauf erlitt er in Frankreich einen Gehirnschlag und war bis zu seinem Tode bettlägerig.



Sinfonietta für Kammerorchester, Op. 19 (1953)

Orchesterbesetzung: Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott – Horn – Pauken, 2 Schlagzeuge, Harfe, Klavier – Streicher
Spieldauer: ca. 17 ½ Min.
Sätze: 1. Dramatico: Allegro marcato, un poco pesante
 2. Sombrío: Andantino - Poco più mosso - Tempo 1
 3. Jubiloso: Vivace
Uraufführung: 1953 in Buenos Aires, Fabian Sevitzky - Ltg.

Nachdem Piazzolla 1950 sein erstes Orchester aufgelöst hatte, gab er den Tango fast ganz auf. Er verbrachte viel Zeit damit, Jazz zu hören und nach einem eigenen Musikstil jenseits des Tangos zu suchen, studierte Bartók- und Stravinsky-Partituren. Er beschloss, das Bandoneón aufzugeben und sich dem Schreiben und dem Musikstudium zu widmen. Ganz gab er den Tango aber nicht auf, experimentierte vielmehr auch damit weiter. So komponierte er zwischen 1950 und 1954 eine Reihe von Tango-Werken, in denen er einen einzigartigen Stil zu entwickeln begann:
Para lucirse, Tanguango, Prepárense, Contrabajeando, Triunfal und Lo que vendrá.
 Auf Drängen seines Kompositionslehrers, Alberto Ginastera, reichte Piazzolla im August 1953 seine klassische Komposition Sinfonietta de Buenos Aires en tres movimientos für den Fabian-Sevitzky-Preis ein, den er gewann. Die Aufführung fand in der juristischen Fakultät in Buenos Aires mit dem Sinfonieorchester von Radio del Estado unter der Leitung von Sevitzky selbst statt. Mit dem Preis war ein Stipendium der französischen Regierung verbunden, mit dem Piazzolla in Paris bei der legendären französischen Kompositionslehrerin Nadia Boulanger am Konservatorium von Fontainebleau studieren konnte. Nadia Boulanger erkannte in Piazzollas Partituren Einflüsse von Ravel, Stravinsky, Bartók und Hindemith auf, die auch in der Sinfonietta deutlich zu hören sind.
 Der erste Satz etabliert zunächst ein zweitaktiges Ostinato aus einer Quartenreihe mit einem 3-3-2-Achtelrhythmus, die von Klavier und Kontrabässen gespielt wird. Über dieser Grundkonstante entfaltet sich eine tiefe und langsame, nur vier Halbtöne umfassende Viola-Melodie. Ein ansteigendes rhythmisch markanteres Holzbläser-Motiv mischt sich ein. Über betonten sforzato-Akkorden erscheinen schnelle Sechzehntel-Läufe von Klarinette und Bratschen, die anschließend zusammen in die erste Viola-Melodie zurückgehen. Erneut baut sich ein rhythmisches Motiv in den Holzbläsern auf, beginnend mit dem Fagott zu dem nach und nach die anderen hinzukommen. Ein kleines Klarinetten-Solo läutet ein kurzes Wechselspiel mit den anderen Holzbläsern und dem Horn ein. Und wieder wird reduziert: Diesmal mit der ersten Melodie der Klarinette in tiefster Lage. Ein kurzer, aber heftiger Tutti-Ausbruch folgt. Und weiter werden diese Elemente kleinteilig zusammenmontiert. Trotz dieser Kleinteiligkeit gibt es verbindende Elemente, die die Einheit der Komposition nicht in Frage stellen. Beherrschend sind immer wieder der 3-3-2-Achtelrhythmus, die betonten sforzato-Akkorde und das Bass-Ostinato. Mit einem erneuten Tutti-Ausbruch endet der Satz.
 Der zweite Satz, Sombrío, also „schattig“, beginnt mit einem Kanon. Fagott und Violoncello exponieren ein langsames, leises, von Quint-glissandi gekennzeichnetes Motiv, das von Klarinette und Viola imitiert wird. Mit dem Hinzutreten der 2. Violine gehen die Bässe und Celli über in eine tremolierende Bass-Begleitung, die dem harmonischen Gerüst einen schwankenden, verschwommenen Charakter geben. Nach und nach wird das Orchester aufgefüllt, bis die Bässe liegenbleiben und die Streicher zusammen mit der Harfe den Abschnitt mit einer absteigenden Linie beenden. Es folgt ein etwas schnellerer Mittelteil, der wie in einer klassischen Durchführung das Thema verarbeitet. Die verkürzten Elemente des Themas werden immer wieder durch sich beschleunigende Tonwiederholungen unterbrochen, die wie interpunktierende Einschnitte wirken. Die kurze Coda im ersten Tempo bringt den Anfang zurück, Celli und Bässe spielen die ersten Töne das Themas, während die Streicher mit absteigenden Liegeakkorden ins Verklingen führen. Eine letzte Tonwiederholungsgruppe der Klarinette beendet den Satz.
 Der dritte Satz, Jubiloso, ist ein Stück voller Überraschungen und großer Rasanz, das in sich eine erstaunliche Mischung aus kontinuierlicher Geschlossenheit und zerrissener, brüchiger Vielgestaltigkeit vereinigt. Der Satz startet mit einem schnellen, akkordisch angelegten Sechzehntellauf voller Tonwiederholungen und kurzen, chromatisch absteigenden Linien in den Streichern. Bald mischen sich die Holzbläser ein, bis plötzlich aus dem gemeinsamen Lauf ein Wechselspiel wird. Das Klavier tritt als weiterer Akteur in das Wechselspiel ein, es wird verdünnt, füllt sich wieder auf, manchmal gliedern Streicher-pizzicati, manchmal Paukenschläge oder Xylophon-Läufe. Plötzlich stellt sich ein regelmäßiges Bass-Metrum in Vierteln ein, dann wandelt sich dieses in den 3-3-2-Achtelrhythmus des ersten Satzes. Dazwischen wird der kontinuierliche Lauf immer wieder in zerrissene, aus Einzelbestandteilen montierte Fetzen zerlegt, angereichert oder unterbrochen durch schnelle Akkordwiederholungen. Unvermittelt erscheint eine Reprise, zunächst eine genaue Wiederholung des Anfangs, bis sich aus dem rasenden Lauf eine Variante entwickelt. Drei große glissandi, beginnend im Horn, dann im Klavier und darin einstimmend in den hohen Holzbläsern landen in einem abrupten Schluss mit den vier Schlussakkorden.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Ab der Saison 2021/22 wird er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.