Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 21. Februar 2023


Sergei Prokof'ev: Violinkonzert Nr. 1 D-Dur, op. 19

Sergei Prokof'ev
Sergei Prokof'ev (* 1891 auf Gut Sonzowka, heute Dnipro, Ukraine; † 1953 in Moskau)

Prokof'ev erhielt Privatunterricht bei Rejngol'd Glièr und studierte von 1904 bis 1914 am Konservatorium St. Petersburg Tonsatz bei Anatolij Ljadov, Instrumentation bei Nikolaj Rimskij-Korsakov, Formenlehre bei Jāzeps Vītols, Klavier bei Aleksandr Vinkler und Partiturspiel und Dirigieren bei Nikolaj Čerepnin. Nach seinem Abschlussexamen 1909 studierte er noch weiter Dirigieren bei Čerepnin und Klavier nun bei Anna Esipova. Zugleich besuchte er die Opernschule am Konservatorium. Bei den Večera sovremennoj muzyki (Abende zeitgenössischer Musik) im Umkreis der avantgardistischen Künstlergruppe Mir iskusstva (Welt der Kunst) trat Prokof'ev im Dezember 1908 erstmals als Komponist in Erscheinung. Noch Konservatoriumsschüler, stand er von jetzt an in einer Reihe mit avancierten Künstlern. 1911/12 entstand das 1. Klavierkonzert, für dessen Interpretation er 1914, im letzten Studienjahr, den Anton Rubinštejn-Preis erhielt. Zum vielberedeten Skandal geriet 1913 die Uraufführung des 2. Klavierkonzertes in Pawlowsk; man unterstellte ihm danach die Zugehörigkeit zu den russischen „Futuristen“, zu denen Prokof'ev selbst sich aber nicht rechnete.
 Auslandsreisen führten ihn nach Frankreich und England, in die Schweiz und nach Italien. In London kam er in Kontakt mit dem Russischen Ballett Sergej Djagilevs; damit begann eine langjährige Zusammenarbeit, aus der die Ballette Ala und Lolli (1914), Der Narr (1915/20), Der stählerne Schritt (1925) und Der verlorene Sohn (1928) hervorgingen.
 Doch der Sommer 1917 war Prokof'evs fruchtbarste Periode. Er verbrachte ihn auf dem Lande bei Petersburg, ganz von kompositorischen Aktivitäten in Anspruch genommen. Abgeschlossen wurden das 1. Violinkonzert, die Klassische Symphonie, die Visions fugitives, die Kantate Semero ich (Sieben, es sind sieben), die 3. und 4. Klaviersonate sowie große Teile der Dostoevskij-Oper Igrok (Der Spieler). Prokof'ev war also ganz auf absolute Musik konzentriert.



Violinkonzert Nr. 1 D-Dur, op. 19 (1916/17)

Orchesterbesetzung: Solo-Violine – 2 Flöten (eine auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 2 Trompeten, Tuba – Pauken, 2 Schlagzeuge, Harfe – Streicher
Spieldauer: ca. 22 Min.
Sätze: 1. Andantino
2. Scherzo: Vivacissimo
3. Moderato – Allegro moderato – Andantino – Moderato
Uraufführung: 18. Okt. 1923, Paris; Marcel Darrieux – Violine; Sergej Kusevickij – Ltg.

Bereits 1915 hatte Prokof'ev erste Skizzen und Entwürfe zu dem Violinkonzert angefertigt, und die Eröffnungsmelodie während seiner Liebesbeziehung zu Nina Mescherskaja komponiert, dann diese Arbeit zurückgelegt. Die Fortsetzung der Komposition wurde wohl teilweise durch eine Aufführung von Karol Szymanowskis Mythen durch den polnischen Geiger Paul Kochanski in Sankt Petersburg im Jahr 1916 inspiriert. Infolge der Revolution konnte das 1. Violinkonzert nicht mehr in Russland uraufgeführt werden. Die Uraufführung in Paris war ein ziemlicher Misserfolg, der zarte und lyrische Grundimpuls des Werkes irritierte offenbar Publikum und Kritik; das Konzert war zu romantisch. Der Komponist Georges Auric bezeichnete das Werk sogar als „mendelssohnianisch“.
 Das Konzert beginnt ätherisch, gewinnt an Schwung und beruhigt sich; diese Beschreibung gilt für das gesamte Werk wie auch für den Eröffnungssatz. Es weist keine Violinkadenz auf, die Solo-Violine verzahnt sich dafür eng mit dem Orchester und es gibt nur wenige kurze Abschnitte, in denen das Orchester alleine spielt.
 Der erste Satz in D-Dur beginnt im 6/8-Takt mit einer lyrischen Geigenmelodie, die verträumt und pianissimo über Bratschen-tremoli gespielt wird. Zur Solovioline treten Flöten, Klarinetten und Oboen, es entwickelt sich ein Dialog. Das zweite Thema, virtuoser und kraftvoller, ist mit narrante (erzählend) bezeichnet. Der Wechsel zum 4/4-Takt und zu C-Dur verstärkt den Kontrast zum Hauptthema. Die Durchführung beginnt mit dem pizzicato-Spiel des Solisten und entwickelt sich aus dem ersten Thema. In einer kurzen Reprise wird das Thema nicht vom Solisten, sondern von der Soloflöte wieder aufgenommen und vom Solisten und der Harfe kunstvoll begleitet. Am Ende wird die Tonlage immer weiter in die Höhe getrieben, der Satz endet in der Solo-Violine auf dem viergestrichenen d.
 Der zweite Satz, ein Scherzo mit der Bezeichnung Vivacissimo, lässt sich als Rondoform verstehen und ist in e-Moll gehalten. Er bildet den größten Gegensatz zu den Randsätzen und bringt eine ungeheure Energie, Wildheit und Brillanz hervor. Kontrastreich wechseln Passagen mit metrisch regelmäßigen Begleitmustern und rasanten Läufen der Solo-Violine mit durchbrochenen Passagen, abenteuerlichen Sprüngen, rasenden Wechseln von gestrichenen und gezupften Tönen. Die Musik wirkt mal amüsant und frech, dann sportlich und athletisch, dann wieder bösartig und aggressiv. Von allen Beteiligten sind Höchstleistungen gefordert.
 Der letzte Satz, der zunächst mit Moderato überschrieben ist, beginnt in g-Moll mit einem Fagott-Thema über einer metrisch gleichmäßigen Achtel-Begleitung des Orchesters. Der Solist übernimmt das Thema des Fagotts, bevor er zu einer begleitenden Rolle zurückkehrt, wenn der Satz in einen mit Allegro moderato bezeichneten Abschnitt übergeht. Die Solo-Violine wechselt zunehmend zwischen den Rollen des Solisten und des Begleiters. Immer wieder übernehmen andere Instrumente des Orchester die Führung, während sich die Solo-Violine in Läufen oder tremoli ergeht. Der Satz endet in D Dur mit einer Verminderung von Tempo und Dynamik und treibt die Tonlage – wie schon am Ende des ersten Satzes – in höchste Höhen.


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.

Hilary Hahn

Solistin: Hilary Hahn

Die 1979 in Lexington, Virginia, geborene Geigerin mit Vorfahren aus Bad Dürkheim wuchs in Baltimore, Maryland, auf. Als Kind erhielt sie Unterricht bei Klara Berkovich. Mit zehn Jahren wechselte sie zu dem Eugène Ysaÿe-Schüler Jascha Brodsky an das Curtis-Institut of Music in Philadelphia. Mit zwölf Jahren spielte sie erstmals mit dem Baltimore Symphony Orchestra. Bis 1999 studierte sie bei Jaime Laredo und Kammermusik bei Felix Galimir und Gary Graffman. Seitdem verfolgt sie eine internationale Solisten-Karriere. Sie ist eine begeisterte Anhängerin der zeitgenössischen klassischen Musik, mehrere Komponisten haben für sie geschrieben.
 Sie spielt ein Guarneri-del-Gesù-Modell aus dem Jahre 1864 und ein Stradivari-Modell aus dem Jahre 1865 des französischen Geigenbauers J. B. Vuillaume.