Einführung zu den Konzerten des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 19. und 20. Mai 2022


Jüri Reinvere: Und müde vom Glück, fingen sie an zu tanzen

Jüri Reinvere
Jüri Reinvere (* 1971 in Tallinn, Estland)

Jüri Reinvere ist ein estnischer Komponist, Lyriker und Essayist, der seit 2005 zunächst in Berlin, seit 2017 in Frankfurt lebt. In seinen Kompositionen vertont er oft seine eigene Poesie, deren komplexe Sprache auf einer kosmopolitischen Lebenserfahrung beruht: Die Leichtigkeit, mit der Reinvere Grenzen überschreitet, rührt sicher daher, dass er in Gesellschaften mit gegensätzlichen Lebensstilen und Glaubenssystemen gelebt hat: die atheistische Sowjetwelt wurde vom katholischen Polen abgelöst, gefolgt vom lutherischen Finnland. In seinen Kompositionen zielt er auf psychologische Beobachtung und hintergründige theologische Anspielungen ab. Mit 15 Jahren schrieb Reinvere die Klavierkomposition Urvaste Evening – Urvaste ist ein Ort im südlichen Estland –, beruhend auf einer Improvisation über eine Offenbarungsvision, deren Harmonik einer Konsonanz-Dissonanz-Paarung zur Basis seines späteren Schaffens wurde.
 Sein erster Kompositionslehrer war Lepo Sumera, einem der letzten Schüler des Großmeisters Heino Eller. Die pianistische Ausbildung, die er in Tallinn erhielt, führte ihn bis zum Konzertexamen. Von 1990 bis 1992 studierte Reinvere Komposition an der Fryderyk-Chopin-Musikhochschule in Warschau. In Finnland lernte er 1993 die estnische Ex-Pianistin und Schriftstellerin Käbi Laretei persönlich kennen, die ihn mit ihrem ehemaligen Ehemann, dem Regisseur Ingmar Bergman, bekannt machte. Mit Laretei entstand eine tiefe, langjährige Mentorenfreundschaft, während Bergman zu einer indirekten, aber entscheidenden Lehrerfigur wurde. Ab 1994 studierte er Komposition bei Veli-Matti Puumala und Tapio Nevanlinna an der Sibelius-Akademie in Helsinki, wo er 2004 mit einem Master abschloss. Daneben beschäftigte er sich mit Theologie.
 Reinveres Ästhetik hat zwei Aspekte: einerseits einen entschiedenen Modernismus mit all seiner klanglichen Härte, andererseits eine unerschütterliche Romantik. So nimmt seine Musik viele verschiedene Klanggestalten an. Seine groß angelegten Werke, vor allem die Opern und Orchesterkompositionen, gehen einen Mittelweg zwischen den beiden Aspekten. Sie halten sich an ein psychologisches Verständnis von dramatischer Kunst, erweitern aber die Ausdrucksmittel über die bekannte Tradition hinaus. In seinen Kammermusik- und Ensemblestücken verbindet Reinvere oft avancierte Methoden der Klangerzeugung mit klassischen Erzählstrukturen. Die stringente Entwicklung der Werkform geht einher mit einer thematischen Öffnung zu anderen Kunstformen, zu Fragen der Theologie, der Politik, der allgemeinen Geschichte und des Alltagslebens. Das Hauptaugenmerk bleibt jedoch auf die unmittelbare, sinnliche Präsenz der Kunst gerichtet.
 Seit 2001 hat er eine radiophone Oper sowie drei Opern für die Bühne, ein Ballett und eine Tanzperformance, neun Werke für großes Orchester, ein Cello-Konzert, ein Konzert für zwei Flöten und Orchester sowie zahlreiche kammermusikalische und Chorstücke komponiert.



Und müde vom Glück, fingen sie an zu tanzen (2018)

Orchesterbesetzung: 3 Flöten (eine auch Piccolo), 3 Oboen (eine auch Englischhorn), 3 Klarinetten (eine auch Kontrabassklarinette), 3 Fagotte (eines auch Kontrafagott) – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen (eine Bassposaune), Tuba – Pauken, 3 Schlagzeuge, Harfe, Klavier/Celesta – Streicher
Sätze: 1. Schatten im Spiegel – Agitato, ma leggiero / Doppio più lento
2. Bewegung des Wartens – Leggiero / Con grazia / Molto meno mosso
3. Entbehrung und Verlangen – Con fuoco / Robustamente, un poco più mosso / Alla breve, meno mosso
Spieldauer: ca. 23 Min.
Auftrag: Estnisches Festivalorchester unter Leitung von Paavo Järvi Uraufführung: 8. August 2018, Pärnu Concert Hall, Estnisches Festivalorchester, Paavo Järvi – Ltg.

Der erste Satz exponiert mit einer kurzen schnellen Aufwärtsbewegung ein Kernmaterial das ganzen Satzes. Diese Läufe verflechten sich, werden aneinandergereiht, verlangsamt, beschleunigt, vergrößert. Auch die Gegenbewegung wird gelegentlich verwendet. Dahinter entwickeln sich dichte Klangflächen aus vielen kleinen Bewegungen, die sich mit Tremoli vermischen. Ein drittes Material erscheint in Form choralartig angeordeneter, an- und abschwellender Akkorde im Blech und den tiefen Holzbläsern, die an Wagner erinnern. Dieses Material, das zunächst nur kurz zwischen den Klangflächen erscheint, wird gegen Ende mit Eintritt des langsameren Tempos bestimmend, eine Melodie entwickelt sich dazu, bevor die Streicher erneut mit den Läufen erscheinen und in großer Steigerung den Schluss des Satzes einleiten.
 Der zweite Satz nimmt die Klangfläche des ersten Satzes auf, auch die Aufwärtsbewegung findet sich wieder, jetzt allerdings nicht mehr als Lauf, sondern entweder als gebrochener Akkord oder als Hin- und Herbewegung, die sich wiederum in die Klangfläche einfügt. Steigerungen werden immer wieder abgebrochen. Der Satz ist in seiner Flächigkeit homogener als der erste, allerdings gibt es größere Unterschiede in der Dichte der Ereignisse. Am Schluss bleibt ein dünner Tonfaden in den Violinen stehen, während einerseits Celesta und Schlagzeug, andererseits Bratschen und Celli leise Figuren hinzufügen.
 Der dritte Satz verarbeitet erneut die selben Elemente der vorherigen Sätze, fügt diese aber zu großen filmmusikalisch effektiven Klangblöcken. An eine noch relativ klein besetzte Exposition schließt sich eine gewaltige Schlagzeug-Etüde an, von immer dichter besetzten und unbewegteren Klangmassen begleitet. Ein kurzer Abschnitt dichter und schneller Bewegung führt in eine Strecke mit romantischen Bläser-Akkorden, die von den Streichern mit Bartók-Pizzicati rhythmisiert werden. Nach einer erneuten Rücknahme entspinnt sich eine Verarbeitung des Laufmotivs, immer weiter verdichtet, anschwellend bis in ein fulminantes Ende.
 Seinen Titel erklärt Jüri Reinvere mit „kultureller Erschöpfung“, einem Begriff des französisch-amerikanischen Philosophen George Steiner. Reinvere sagt: „Diese Erschöpfung liegt an unseren Werten – wir haben Kultur in eine soziale Ware verwandelt, sind bereit, einen großen Teil unserer Errungenschaften wegzuwerfen und setzen Dinge aufs Spiel, die wir für selbstverständlich halten: Bildung, Umsicht, Gesundheitsfürsorge, Stabilität, sichere Zukunft.“


Paavo Järvi

Leitung: Paavo Järvi

stammt aus einer Musikerfamilie und wurde 1962 in Tallinn (Estland) geboren. Er studierte zunächst Schlagzeug und Dirigieren in Tallinn. 1980 übersiedelte er mit seiner Familie in die USA, um dort in Philadelphia und Los Angeles – dort bei Leonard Bernstein – sein Studium fortzusetzen. Gleichzeitig spielte er Schlagzeug in Erkki-Sven Tüürs kammermusikalischem Ensemble „In Spe“, einer in Estland beliebten Rockgruppe. Ab 1995 widmete er sich mehr dem Dirigieren, zunächst als Orchesterleiter in Stockholm, später in Cincinnati, Bremen und von 2006 bis 2013 als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und seitdem sein „Conductor laureate“. Danach dirigierte er Orchester in Paris und Tokio, seit der Spielzeit 2019/20 ist er Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Tonhalle-Orchesters Zürich.