Einführung zum Video-Livestream des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 24. Februar 2022


Jean Sibelius: Symphonie Nr. 5, Es-Dur, op. 82

Jean Sibelius
Jean Sibelius (* in Hämeenlinna, Finnland; † 1957 in Järvenpää bei Helsinki)

Die Eltern, der Arzt Christian Gustaf Sibelius und Maria Charlotta Borg, stammten aus Familien von finnischen und schwedischen Offizieren, Beamten und Pfarrern. In der Familie wurde überwiegend Schwedisch gesprochen. Vom neunten Lebensjahr an erhielt Jean Sibelius methodischen Klavier-Unterricht, mit fünfzehn Jahren Violin-Unterricht. Nach der Reifeprüfung ließ sich Sibelius im Herbst 1885 als Student der Rechts an der Universität Helsinki und am Musikinstitut einschreiben. Nach dem ersten Universitäts-Jahr wandte er sich ausschließlich der Musik zu, er studierte Violine bei Hermann Czillag und Musiktheorie bei Martin Wegelius. Mit einer Suite für Streichtrio und einem Streichquartett schloß er seine Studien am Musikinstitut ab. Ihre Originalität überraschte die führenden Männer des Musiklebens in Helsinki, u.a. Ferruccio Busoni, der als Klavier-Lehrer am Musikinstitut wirkte. Vom Herbst 1889 studierte Sibelius in Berlin, u.a. Kontrapunkt bei Albert Becker. Das Musikleben der Weltstadt beeindruckten ihn stärker als der nach seiner Ansicht veraltete Unterricht.
 Nach seiner Rückkehr im Sommer 1890 nahm Sibelius den bereits früher bestehenden Verkehr mit der Familie Järnefelt wieder auf, der von großer Bedeutung für seine Zukunft werden sollte. Hier kam er mit einem starken finnischen Nationalbewusstsein in Berührung und im Herbst 1890 verlobte er sich mit der jüngsten Tochter des Hauses, Aino Järnefelt. In demselben Herbst reiste er, von Busoni an Johannes Brahms empfohlen, nach Wien; Brahms empfing ihn jedoch nicht. Sibelius betrieb Instrumentationsstudien bei Robert Fuchs und ließ sich auch von Karel Goldmark beraten. Seinen ersten Versuch als Orchesterkomponist, eine Ouvertüre, verurteilte Goldmark „in Bausch und Bogen“. Bald danach schrieb Sibelius eine zweite Ouvertüre in E, die mehr Anerkennung fand. Mit seiner Rückkehr nach Finnland 1891 waren seine Lehrjahre zu Ende.
 Die bedrängte politische Lage im Finnland der 1890er Jahre erweckte in Sibelius das Gefühl für das Vaterländische und Finnische. Er schrieb 1892 die große Chorsymphonie Kullerwo, ein für seine Zeit sehr kühnes, jedoch mit größter patriotischer Begeisterung aufgenommenes Werk, das ihm die Anerkennung als finnischer Nationalkomponist einbrachte. Im Juni desselben Jahres heiratete er Aino Järnefelt, die ihm bis zu seinem Tod treu zur Seite stand. Vom Herbst an wurde Sibelius als Lehrer für Musiktheorie am Musikinstitut zu Helsinki und als zweiter Geiger in dessen Streichquartett angestellt. Daneben versah er das Lehramt für Musiktheorie an der Orchesterschule des Philharmonischen Orchesters, eines Klangkörpers, den der Dirigent Robert Kajanus dem jungen Komponisten auch jederzeit zur Verfügung stellte, wenn dieser die Wirkung seiner instrumentalen Kombinationen versuchen wollte. Kurz nach Beendigung der Tondichtung Eine Sage, deren erste Fassung 1893 uraufgeführt wurde, fing Sibelius an, aus einem Motiv des „Kalewala“ – ein auf der Grundlage von mündlich überlieferter finnischer Mythologie zusammengestelltes Epos – eine Oper zu schreiben, die zwar nie vollendet wurde, ihm aber die Anregung zur großen Lemminkäinen-Suite schenkte. Mit dem Vorspiel zu der Oper lag eine der vier Tondichtungen der Suite Der Schwan von Tuonela schon vor. Um die Jahreswende 1895/96 war die Tetralogie beendet. Im selben Zeitraum beschäftigte er sich mit der Suche nach archaisch-finnischer Volksmusik. Er betrieb dies vor allem in den Dörfern Savo-Kareliens, im Nordosten Finnlands. Obwohl seiner Musik immer wieder bescheinigt wurde, sie treffe den Charakter der finnischen Musik, betonte er: „Es herrscht die irrige Ansicht, dass meine Themen oft Volksmelodien seien. Aber bis jetzt habe ich nie ein Thema verarbeitet, das nicht meine eigene Erfindung gewesen wäre.“
 Um 1905 entdeckte Sibelius die zeitgenössische Avantgarde, er bewunderte Claude Debussy, Paul Dukas und Arnold Schönberg. In seiner Vierten Symphonie suchte er, sich die Denkweisen der Avantgarde anzueignen, und auch in der ersten Fassung der Fünften Symphonie sind Modernismen zu finden, die Sibelius in der letzten Fassung abschwächte.



Symphonie Nr. 5, Es-Dur, op. 82 (1915 / 1916 / 1919)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken – Streicher
Sätze: 1. Tempo molto moderato – Allegro moderato (ma poco a poco stretto) – Vivace molto – Presto – Piω Presto
2. Andante mosso, quasi allegretto – Poco a poco stretto – Tranquillo – Poco a poco stretto – Ritenuto al tempo I
3. Allegro molto – Misterioso – Un pochettino largamente – Largamente assai – Un pochettino stretto
Spieldauer: ca. 32 Min.
Uraufführung: 1. Version: 8. Dez. 1915, Sinfonisches Orchester Helsinki, Jean Sibelius – Ltg.
2. Version: 8. Dez. 1916, Orchester der Musikalischen Gesellschaft Turku, Jean Sibelius – Ltg.
3. Version: 24. Nov. 1919, Sinfonisches Orchester Helsinki, Jean Sibelius – Ltg.

Zu Sibelius’ 50. Geburtstag plante die finnische Regierung ein Festival mit einem Konzert an seinem Geburtstag, dem 8. Dezember 1915. Dies beschleunigte seine Arbeit an der Fünften Symphonie, deren Planung er bereits im März 1912 begonnen hatte. Eine erste viersätzige Version war rechtzeitig fertig und wurde an Sibelius’ 50. Geburtstag uraufgeführt. Doch abgeschlossen hatte Sibelius mit der Komposition noch nicht. Eine zweite Version – jetzt in drei Sätzen – wurde ein Jahr später, eine dritte – endgültige – 1919 geschaffen. In dieser dritten Fassung ist der erste Satz aus zwei ursprünglich selbstständigen Sätzen zusammengezogen: einem langsamen Kopfsatz und einem schnellen Scherzo-artigen. Alle Versuchen, diesen Satz in der Art einer konventionellen Form zu analysieren, sind zum Scheitern verurteilt worden. Ansätze einer Sonatenform, einer Rotationsform sind vorhanden, aber immer gibt es Aspekte, die der eindeutigen Zuordnung widersprechen. Sibelius selbst sagte zu der Formproblematik: „Es wird häufig gedacht, dass das Wesentliche an einer Symphonie in ihrer Form liegt, aber das ist gewiss nicht der Fall. Der Inhalt ist stets der primäre Faktor, während die Form zweitrangig ist, denn die Musik selbst bestimmt ihre Form“ und: „Eine natürliche Sinfonie muss wie ein Fluss kleine Bäche in sich vereinen. Die Motive sollen sich organisch formen und den Weg suchen“.
 Das Hornmotiv am Anfang bestimmt eine ganze Weile den Fortgang, weitere Motive gesellen sich dazu, werden immer weiter variiert, entwickeln sich ungezwungen, ohne Brüche auseinander und miteinander. Erst das Scherzo tritt ganz überraschend ein, ohne dass es vorbereitet ist. Doch es arbeitet mit denselben Motiven weiter.
 Der zweite Satz bereitet – ähnlich wie der Kopfsatz für seinen Scherzo-Abschnitt – das musikalische Material für den Finalsatz vor. Nach einer Introduktion, die zunächst die zweite Hälfte des Themas enthält, beginnt das Thema in einer aufsteigenden Pizzicato-Line der Violinen. Es ist ein Kontrapunkt zu dem Schwanenthema, das in diesem Satz nur rudimentär in Nebenstimmen vorbereitet wird und vollständig erst im Finalsatz zu hören sein wird. Mehrfach wird das Kontrapunkt-Thema variiert.
 Im Finalsatz in Rondo-Form ist die Tempo-Entwicklung umgekehrt wie im ersten Satz: Er beginnt Allegro molto und endet Largamente assai. Nur in den letzten sechzehn Takten, von denen neun isolierte Tutti-Akkorde mit unterschiedlichen Pausenabständen enthalten, gibt es die Anweisung: Un pochettino stretto. Das tonal nicht eindeutige erste Thema, dem man eine Ähnlichkeit zu Haydn’schen Themen ansehen mag, setzt viermal an. Danach erscheint die sogenannte Schwanenhymne in den Hörnern. Dieses Thema soll auf die Rufe von sechzehn Schwänen zurückgehen – für Sibelius ein eindrückliches Naturerlebnis. Nach den ersten zwölf Tönen dieser Hymne setzen die Kontrabässe im dreifach verlangsamten Tempo mit derselben Melodie ein. Die folgende Entwicklung, die zwischen den beiden Themen hin- und herwechselt, variiert beide, manchmal durchführungsartig polyphon, manchmal mit veränderten Harmonien und Instrumentierung. Dies führt bei Rücknahme des Tempos und Verdichtung der thematischen Bezüge zu einer anderen Stimmung: traurig, resigniert, ein letzter Abschied. Noch einmal erscheint die Schwanenhymne in veränderter Gestalt, bevor der Satz mit sechs vereinzelten rhythmisch unregelmäßig angeordneten Tutti-Akkorden endet.



Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.