Einführung zu den Konzerten des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 19. und 20. Mai 2022


Jean Sibelius: Symphonie Nr. 7 (in einem Satze), C-Dur, op. 105

Jean Sibelius
Jean Sibelius (* (* 1865 in Hämeenlinna, Finnland;
† 1957 in Järvenpää bei Helsinki)

Die Komposition der großen Chorsymphonie Kullerwo (1892), ein für seine Zeit sehr kühnes, jedoch mit größter patriotischer Begeisterung aufgenommenes Werk, brachte Sibelius die Anerkennung als finnischer Nationalkomponist und internationalen Erfolg ein. Im Juni desselben Jahres heiratete er Aino Järnefelt, die ihm bis zu seinem Tod treu zur Seite stand.
 Nach erfolgreichen Jahren bis 1914 bedeutete der Ausbruch des Ersten Weltkrieges für Sibelius einen Rückschlag durch seine Isolation in Finnland in seinem seit 1904 bewohnten Domizil Ainola. Eine einzige Reise nach Schweden war ihm möglich, die geplante zweite Reise in die USA, die ihn finanziell saniert hätte, konnte er nicht mehr durchführen. Erfreulich war der Festakt zu seinem 50. Geburtstag mit der Uraufführung seiner Fünften Symphonie, mit der er jedoch noch nicht zufrieden war, so dass er sie noch zweimal überarbeitete und erst 1919 endgültig dirigierte. Vor dem Bürgerkrieg in Finnland ab 1917 mussten er und seine Familie fliehen und Ainola verlassen. Er suchte eine Nervenheilanstalt auf. Seitdem quälte ihn die Angst, durch einen frühzeitigen Tod geplante Werke nicht zu Ende bringen zu können. Im September 1922 vollendete er seine Sechste Symphonie, 1924 die Siebte, an der er bereits seit 1914 gearbeitet hatte. Zusammen mit der sinfonischen Dichtung Tapiola, der Rituellen Freimaurer-Musik op. 113, den Fünf Skizzen für Klavier op. 114 sowie Sieben Stücken für Klavier und Violine op. 115 und op. 116 waren dies die letzten Werke Sibelius‘. Obwohl er noch bis 1957 lebte, beendete er seine Tätigkeit als Komponist 1931, man sprach von dem „Schweigen von Ainola“. Nach seinem letzten Besuch 1931 in Berlin stellte er auch seine Reisetätigkeit weitgehend ein. Bis in die 40er Jahre arbeitete er an einer Achten Symphonie, die ursprünglich Sergej Kusevickij für sein Orchester in Boston in Auftrag gegeben hatte. 1943 vernichtete Sibelius die in professioneller Reinschrift vorhandenen Partiturbögen sowie dazugehörige Skizzen und andere Notizen.



Symphonie Nr. 7 (in einem Satze), C-Dur, op. 105 (1914-1924)

Orchesterbesetzung: 2 Flöten (beide auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte – 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen – Pauken – Streicher
Tempi: Adagio / Vivacissimo / Adagio / Allegro molto moderato / Allegro moderato / Vivace / Presto / Adagio / Largamente / Affettuoso / Adagio
Spieldauer: ca. 22 Min.
Uraufführung: 24. März 1924 in Stockholm, Philharmonisches Orchester Stockholm, Ltg. des Komponisten

Im Jahr 1918 vollendete Sibelius nicht nur seine Fünfte Symphonie und begann seine Sechste, sondern setzte auch die Arbeit an seiner Siebten fort, für der er erste Skizzen bereits 1914 notiert hatte. Nach Abschluss der Sechsten konnte er sich ohne Ablenkung auf seine Siebte konzentrieren; dafür benötigte er weitere dreizehn Monate.
 Zu dieser Symphonie schrieb er in einem Brief: „Die Siebte Symphonie. Lebensfreude und Vitalität mit Appassionata-Passagen. In drei Sätzen – der letzte ein ‚hellenisches Rondo‘.“ Doch schließlich fasste er alles in einem einzigen Satz zusammen. Diese Form wird traditionell nicht mit einer Symphonie in Verbindung gebracht; eigentlich wollte Sibelius das Werk Fantasia sinfonica nennen. So hieß es auch, als er die Uraufführung und die ersten paar Aufführungen dirigierte, die folgten. Erst kurz vor der Veröffentlichung des Werks änderte er seine Meinung und schrieb an den Verleger Wilhelm Hansen: „Am besten wäre es, wenn sie Symphonie Nr. 7 (in einem Satze) hieße“, damit nahm er sie in die Reihe seiner Symphonien auf.
 Innerhalb des Werkes durchläuft Sibelius‘ Musik elf einzelne Abschnitte, die mit unterschiedlichen Tempi gekennzeichnet sind. Versuche, diese Teile in drei oder vier Unterabschnitte zusammenzufassen, um damit das Werk mit der traditionellen symphonischen Form in Verbindung zu bringen, stehen in Widerspruch zu der Kompositionsweise Sibelius, der einen Großteil der Tempi durch acellerandi oder ritardandi ineinander übergehen lässt. Auch ist keine Tonartendisposition zu erkennen, wie sie zur Symphonie gehören würde. Hier ist vielmehr eine Brücke zwischen mehrsätziger Symphonie und einsätziger symphonischer Dichtung zu erkennen und Sibelius folgt den jeweiligen Themenerfindungen, gibt ihnen ihren eigenen Raum, bevor ohne Brüche Neues erscheint.
 Das Stück beginnt mit einem leisen Dreifachschlag der Pauke - wie er auch den zweiten Satz seiner Sechsten Symphonie begonnen hatte, dort allerdings forte. Mehrere Themen spielen eine Rolle, manche werden durch Variationen verwandelt. Dazu gehören eine ansteigende Tonleiter der Streicher zu Beginn und eine sich absteigend schlängelnde Antwort der Holzbläser; ein strahlendes Posaunensolo im Adagio; ein fanfarenartiges Thema in den Bläsern im Abschnitt Allegro molto moderato. Sowohl das ursprünglich geplante „hellenische Rondo“ als auch der „wilde und leidenschaftliche“ Charakter verflüchtigten sich im Laufe der Arbeit. Trotzdem ist der Ablauf dank der spezifischen Qualitäten ihrer Themen, der verschiedenen orchestralen Texturen und des definierten Charakters ihrer Episoden klar zu verfolgen.


Paavo Järvi

Leitung: Paavo Järvi

stammt aus einer Musikerfamilie und wurde 1962 in Tallinn (Estland) geboren. Er studierte zunächst Schlagzeug und Dirigieren in Tallinn. 1980 übersiedelte er mit seiner Familie in die USA, um dort in Philadelphia und Los Angeles – dort bei Leonard Bernstein – sein Studium fortzusetzen. Gleichzeitig spielte er Schlagzeug in Erkki-Sven Tüürs kammermusikalischem Ensemble „In Spe“, einer in Estland beliebten Rockgruppe. Ab 1995 widmete er sich mehr dem Dirigieren, zunächst als Orchesterleiter in Stockholm, später in Cincinnati, Bremen und von 2006 bis 2013 als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und seitdem sein „Conductor laureate“. Danach dirigierte er Orchester in Paris und Tokio, seit der Spielzeit 2019/20 ist er Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Tonhalle-Orchesters Zürich.