Einführung zum Livestream-Konzert des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 3. Juni 2021


Igor' Stravinskij: Apollon Musagète

Igor' Stravinskij
Igor' Fëdorovič Stravinskij (* 1882 in Oranienbaum (heute: Lomonossow, bei St. Petersburg), † 1971 in New York City)

Als Sohn eines Sängers erhielt Stravinskij wie seine beiden älteren und sein jüngerer Bruder soliden Musikunterricht, neben dem Klavierunterricht wurde er von zwei Rimskij-Korsakov-Schülern in Harmonielehre und Kontrapunkt unterwiesen. Entsprechend der Familientradition studierte er bis 1906 – lustlos – Jura an der Universität in St. Petersburg. Daneben förderte sein Onkel Aleksandr Elačič, ein glühender Musikliebhaber, auf seinem Gut in Südrussland seine musikalischen Studien. Dort entstanden auch Stravinskijs erste Kompositionen.
 1902 begegnete er während eines Sommeraufenthalts in Deutschland Rimskij-Korsakov, zeigte diesem einige seiner Kompositionen und erhielt „das kostbare Geschenk eines unvergesslichen Unterrichts“: wöchentlich zwei Doppelstunden in Werkanalyse und Instrumentation, wie er später berichtete. Unter dieser Anleitung entstanden die ersten großen Kompositionen, die viersätzige fis-Moll-Sonate für Klavier (1903/04), die Symphonie Es-Dur, Op. 1 (1905-07) und das Orchesterstück Fejerverk / Feu d’artifice (1908). Die Uraufführung dieses Werks und des Fantastičeskoe skerco / Scherzo fantastique (1907/08) hörte auch Sergej Djagilev, der Kurator und Impresario des späteren Balletts Russes. Dieser beauftragte Stravinskij mit mehreren Ballett-Musiken, die beide überaus berühmt machen sollten: Žarptica / L’oiseau de feu (1909), Petruška / Pétrouchka (1911) und Le Sacre du printemps (1913).
 Noch während der Zusammenarbeit mit Djagilev und dem Ballett russes verlegte Stravinskij seinen Wohnsitz an den Genfer See, wo er mit seiner Frau und den drei Kindern bis 1920 blieb. Durch den ersten Weltkrieg und die russische Revolution war die Familie von dem heimatlichen Besitz abgeschnitten, Einkünfte aus Tantiemen entfielen ganz. Auch die Tourneen des Ballett russes brachte nur das Notwendigste ein. Fast am Ende der Schweizer Zeit steht die Komposition Histoire du soldat / Geschichte vom Soldaten (1918), ein Schlüsselwerk, das an alte theatralische Formen anknüpft und dabei Stile und Gattungen mischt und neue dramatische Verfahren ins Spiel bringt.
 Mit dem Ortswechsel 1920 nach Paris ist ein musikalischer Stilwechsel verbunden, die „russische Periode“ – wie man sie später bezeichnet hat – wird durch die „neoklassizistische“ abgelöst. Stravinskij schreibt strengere Formen und sucht nach dem „Griff“, mit dem Unzusammenhängendes verbunden wird: historisierende Elemente und ausgesprochen neuzeitliche Klangmittel. Es geht ihm darum, „Ordnung und Disziplin auf dem Gebiet des reinen Klangs herzustellen, denn dem Klang gebe ich immer den Vorzug vor den Elementen des pathetischen Ausdrucks“. Entscheidend bei der Anlehnung an historische Vorbilder seien keine konkreten Zitate, sondern die „Hinwendung zur lichtvollen Idee des reinen Kontrapunkts“.
 Doch seiner Affinität zur tänzerischen Musik, zum Rhythmus bleibt Stravinskij durch alle Stilwechsel treu. Seine Musik ist auch dort tänzerisch, wo sie nicht für das Ballett geschrieben ist; sie arbeitet mit gestischen Elementen, kurzen Bewegungseinheiten und deren Verbindung, es geht immer um das Wechselspiel von Bewegungszusammenhängen.
 Der Choreograph George Balanchine schrieb: „Das tänzerische Element ist der dominierende Pulsschlag in Stravinskijs Musik. Er ist immer spürbar, eindringlich, stets überzeugend. Man fühlt ihn sogar in den Pausen. Er hält jedes seiner Werke zusammen und durchdringt sie alle.“



Apollon musagète – Ballett in 2 Bildern (1927/28)

Orchesterbesetzung: Streicher
Spieldauer: ca. 32 Min.
Auftrag: Elizabeth Sprague Coolidge für ein Festival für zeitgenössische Musik, Library of Congress, Washington.
Szenen: Erstes Bild: Prolog: Die Geburt des Apollon (Largo – Allegro – Tempo I)
Zweites Bild: Variation des Apollon (♪ = 66)
Szene: Apollon und die drei Musen: Kalliope, Polyhymnia und Terpsichore (Moderato)
Variation der Kalliope (Allegretto)
Variation der Polyhymnia (Allegro)
Variation der Terpsichore (Allegretto)
Zweite Variation des Apollon (Lento)
Pas de deux, Apollo und Terpsichore (Adagio)
Coda: Apollo und die Musen (Vivo – Agitato)
Apotheose (Largo e tranquillo)
Uraufführung: 27. April 1928, Washington, D.C., Adolph Bolm, Choreographie

Mit dem Ballett Apollon musagète zeigt Stravinskij erstmals Interesse an der griechischen Mythologie, nachdem er sich vorher nahezu ausschließlich mit russischen Stoffen befasst hatte. Hier unterweist der Gott Apollo die Musen in den Künsten. Die musikalische Sprache bezieht sich auf den Barockstil. Entsprechende Elemente, melodische Bildungen, harmonische Farben, Form, Rhythmik und Satztechnik werden zitiert – aber nicht im Sinne einer Stilkopie, sondern verfremdet und neu belebt. Stravinskijs Idee war, ein musikalisches Äquivalent zum ballet blanc zu schaffen, dessen besondere Frische ihn faszinierte. Sie rühre daher, „dass die bunten Farben und der überladene Prunk aus ihm verbannt sind. Das reizte mich, meiner Musik den gleichen Charakter zu geben, und am meisten schien mir dazu die diatonische Schreibweise zu passen. Die Klarheit dieses Stils bestimmte auch die Wahl, die ich unter den Instrumenten traf“ – er verwendet nur Streichinstrumente unter raffinierter Ausnutzung verschiedenster Spielarten.
 Das erste Bild ist gebaut wie eine barocke Ouvertüre: Langsame Eröffnung und Schluss mit einem schnellen Mittelteil. Der langsame Teil ist geprägt von durchwegs aufsteigenden, jambischen, punktierten und immer wieder variierten Dreiklangsfiguren, die in einem längeren Akkord enden, der durch Triller zum Schweben gebracht werden. Gelegentlich wird diese Struktur unterbrochen durch in Vierteln voranschreitende Bewegungen. Schnelle Anapäst-Figuren werden zur Begleitung in den tiefen Instrumenten verwendet. Schnelle staccato-Achtel in den Violinen, die später durch eine punktierte Melodie mit synkopisierter Gegenstimme ersetzt wird, und eine gleichmäßige Viertel-Begleitung in den unteren Stimmen bestimmen den schnellen Teil. Das langsame Ende nimmt die punktierte Struktur das Anfangs mit der Anapäst-Begleitung wieder auf.
 Das zweite Bild – die Variation des Apollo – beginnt mit einem längeren Violin-Solo, das später durch eine pizzicato-Begleitung sowie eine zweite Solo-Violinstimme angereichert wird.
 In gemessenen Unisono-Halben, das einem barocken Fugenthema nachempfunden ist, beginnt der gemeinsame Tanz der vier Beteiligten. Doch bald eröffnen die Bratschen eine bewegte Achtel-Melodie, die ersten Violinen setzen ein langsames Motiv dagegen, während die anderen Instrumente mit kurzen Viertelstößen begleiten. Der Satz gliedert sich immer weiter auf, alle anderen Instrumente übernehmen die Motive, die sich variativ immer weiterentwickeln. Bald wird wieder reduziert: ein Violin-Solo steht einer einfachen Cello-Begleitung gegenüber. Am Ende erscheint das Halbe-Motiv des Anfangs wieder.
 Die Variation der Kalliope beginnt deutlich bewegter in einem 6/8-Takt mit aufsteigenden Achtel-Linien, die bald in einen beschwingten Rhythmus übergehen. Ein Mittelteil bringt eine Kantilene des Solo-Cellos mit einer pizzicato-Begleitung, bevor das anfängliche Motiv abschließt.
 Die Variation der Polyhymnia eröffnet mit einer kräftigen absteigenden Kadenz, um dann bald in eine schnelle verspielte Bewegung überzugehen. Aus der anfänglichen Figur wird eine Melodie entwickelt, die sich kurz entfaltet, bis der Satz reduziert und überraschend schnell endet.
 Die Variation der Terpsichore ist ein expressives Allegretto, das von diatonisch oder chromatisch ansteigenden, punktierten Bewegungen in den beiden Violinen geprägt ist. Der Satz nimmt zunächst an Dynamik zu, um gegen Ende wieder zart zu verklingen.
 Die zweite Variation des Apollo beginnt machtvoll mit drei sehr wiederholten Akkorden, die im Lento-Tempo alsbald in ein leicht bewegtes und deutlich zarteres Spiel übergehen. Eine kurze Steigerung bringt drei ähnliche Akkorde im fortissimo. Damit wiederholt sich das Spiel.
 Der Pas de deux von Apollo und Terpsichore ist ein überaus zartes, in hoher Lage beginnendes Adagio.
 Die Coda beginnt wieder in einer kräftigen Einleitung mit einzelnen Akkorden, die gegen schnelle Aufwärtsbewegungen gesetzt sind. Der Takt wird gewechselt, ein schneller 6/8-Takt beginnt mit schwungvoller Melodie in den Celli, dann folgen die anderen Instrumente. Ein energievolles Agitato entwickelt sich aus der Tiefe mit ganz zerrissenen Figuren und verändertem zweiteiligem Rhythmus. Eine leise Coda lässt den Satz im Nichts verschwinden.
 Die Apotheose (= Schlussbild) schließlich bringt einen choralartigen Satz im Largo-Tempo. Einige Motive erscheinen erneut über einer tremolierenden Klangfläche, in der das Stück endet.
 Nach der Uraufführung durch die Elizabeth Sprague Coolidge Foundation in der Washingtoner Library of Congress wurde die Pariser Premiere am 12. Juni 1928 von Djagilev betreut und vom Komponisten dirigiert. Balanchine als Choreograph und Sergej Lifar als Tänzer des Apollo und dem Ballett russes schufen eine für Jahrzehnte modellhafte Aufführung. Es war Stravinskijs letzte Zusammenarbeit mit Djagilev, der die Überlassung der Aufführungsrechte nach Amerika als Verrat empfand.


Andrew Manze

Leitung: Andrew Manze

Der britische Geiger und Dirigent wurde 1965 geboren. Er widmet sich vor allem der historischen Aufführungspraxis. Zunächst studierte er in Cambridge Altphilologie, danach Violine. In den Niederlanden setzte er das Violin-Studium fort. Mit Nigel North, Laute, und John Toll, Cembalo, gründete er das Ensemble Romanesca. Ab 1988 war er Konzertmeister des Amsterdam Baroque Orchestra, von 2003 bis 2007 leitete er das englische Barockorchester The English Concert. Von 2006 bis 2014 war er Chefdirigent des Helsingborger Symphonieorchesters. Seit 2014 leitet er die NDR Radiophilharmonie in Hannover. Manze sieht sich, wie er in einem Interview erklärte, als einer der „Leute aus der historischen Musikwelt“. Er brauche die historische Perspektive auf die Musik. Aber – bezogen auf Mozart und die Französische Revolution – der Komponist gehe von der Musik aus. „Er ist in der Musik, auch die Revolution ist bei ihm in der Musik.“