Einführung zur Orchesterprobe des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 8. März 2023


Edgar Varèse: Amériques

Edgar Varèse
Edgar Varèse (* 1883 in Paris, † 1965 in New York)

Edgar Varèse wuchs in Paris und bei seinen Großeltern im Burgund auf. Sein Vater war Ingenieur und wollte, dass sein Ältester dieselbe Laufbahn einschlug, förderte daher seine naturwissenschaftlich-mathematische Ausbildung. 1892 zog die Familie nach Turin. Dort erhielt Edgar musiktheoretischen Unterricht bei dem Direktor des Konservatoriums, Giovanni Bolzoni. Eine Aufführung von Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune beeindruckten ihn, so dass er 1904 nach Paris zurückkehrte und zunächst an der Schola cantorum Kontrapunkt und Gregorianik sowie Dirigieren, ab 1906 am Conservatoire Komposition bei Charles-Marie Widor studierte. Nachdem er bei der Vorentscheidung zum Rompreis ausgeschieden war, brach er das Studium ab, leitete einen Arbeiterchor und widmete sich seiner eigenen kompositorischen Arbeit. 1907 zog er mit Hilfe eines Stipendiums nach Berlin, gründete dort den gemischten Symphonischen Chor und verkehrte mit Ferruccio Busoni. Mit Unterstützung durch Richard Strauss wurde seine Symphonische Dichtung Bourgogne (1907-09) aufgeführt. 1913 kehrte er nach Paris zurück, versuchte sich als Dirigent – eine Dirigentenkarriere gelang ihm indes nicht. Mit Beginn des ersten Weltkrieges wurde er eingezogen, aus gesundheitlichen Gründen aber 1915 entlassen. Noch Ende desselben Jahres emigrierte er in die USA.
 Von den Kompositionen Varèses, die bis dahin entstanden sind, ist nur ein einziges Lied erhalten, alle anderen Werke hat Varèse entweder selbst vernichtet oder sie gingen bei einem Brand in Berlin verloren. In diesem Frühwerk pflegte er eine neomodale Tonsprache und folgte einem von Claude Debussy und Richard Strauss geprägten Stil. Dabei suchte er extreme Klangdifferenzierung auf neuartige Weise. Mit seiner Emigration war dieses Frühwerk abgeschlossen. Mit seiner ersten Komposition in den USA, Amériques, prägte er eine neue panchromatische Syntax, wobei er freie Chromatik mit Zentraltonverfahren, an Stravinskij erinnernde variable Ostinati sowie diatonische Motivkerne kombinierte. In der Verwendung von Sirenen und der Aufwertung des Schlagzeugs zu einem eigentlichen Sub-Orchester, aber auch im breiten Klangraum des Orchesters von kammermusikalischer Intimität bis hin zu Tuttis von noch nie dagewesener Klanggewalt manifestierte sich bereits das spätere Credo von der Erweiterung oder „Befreiung“ des Klangs. Die überschwengliche Fülle musikalischer Einfälle in Amérique macht in den späteren Werken von Hyperprism (1922-23) bis Arcana (1925-27) einer konsequenten Stilisierung des Ausdrucks, einer größeren Strenge und Kargheit Platz.
 Das Œuvre Varèses ist von bescheidenem Umfang und doch nimmt es als Ganzes eine herausragende Position im Korpus der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts ein.



Amériques (1918-21, rev. 1927)

Orchesterbesetzung: 2 Piccolo, 2 Flöten (1 auch Picc.), Altflöte, 3 Oboen, Englischhorn, Heckelphon, kl. Klarinette, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, 2 Kontrafagotte – 8 Hörner, 6 Trompeten, 3 Posaunen, Bassposaune, Kontrabassposaune, Tuba, Kontrabasstuba – 2 Pauken, 12 Schlagzeuge, 2 Harfen, Celesta – Streicher
Spieldauer: ca. 23 Min.
Uraufführung: 9. April 1926, Philadelphia, Philadelphia Orchestra, Leopold Stokowski – Ltg.
revidierte Version: 30. Mai 1929, Paris, Orchestre des Concerts Poulet, Gaston Poulet – Ltg.

Varèse sagte, der Titel Amériques sei „symbolisch für Entdeckungen – neue Welten auf der Erde, am Himmel oder in den Köpfen der Menschen“. Das Werk besteht aus einem Satz. Es beginnt ruhig mit einem Debussy- oder Stravinskij-ähnlichen Motiv der Altflöte, das in kurzer Folge wiederholt und von Trompete, Englischhorn und Violine in regelmäßigen Abständen aufgenommen wird. Dazwischen mischen sich scheinbar chaotische Trommelwirbel und Sirenen mit Varèses unkonventionellen instrumentalen Effekten. Das Werk gewinnt schnell an dynamischer Kraft und wird von gewaltigen crescendi unterbrochen, ähnlich denen in Stravinskijs Sacre du printemps. Es zeichnet sich durch seine dissonanten Akkorde und rhythmisch komplexen Polyphonien für Schlagzeug und Bläser aus. Es entwickelt sich kontinuierlich mit wiederkehrenden kurzen Motiven, die ohne Verbindung nebeneinander gestellt, quasi montiert werden.
 Strukturell setzt sich das Werk aus einer Reihe in sich geschlossener „Blöcke“ zusammen, die in erster Linie durch Textur und Klangfarbe gekennzeichnet sind, ohne dass eine Entwicklung erkennbar wird. Die „Blöcke“ weisen ganz unterschiedliche Längen auf, manche dauern kaum einen Takt, sie gewinnen sowohl in der Gestaltung des Klangverlaufs innerhalb der Blöcke selbst als auch in der vertikalen Differenzierung von Intensitätszonen strukturelle Bedeutung.
 Nach etwa zwei Dritteln des Stückes leiten die Violinen mit einer kurzen Version des Eröffnungsmotivs eine raue, tänzerische Passage ein, die von einer sich windenden Melodie der hohen Bläser angetrieben wird. Am Ende dieses Tanzes kündigt ein surreales Ruf- und Antwortspiel zwischen Sirene und Orchester die letzten Momente der brachialen Klangorgie an.


Alain Altinoglu

Leitung: Alain Altinoglu

Der 1975 in Paris geborene Dirigent armenischer Abstammung studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet. 2016 wurde Altinoglu Directeur Musical des Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, gerade hat er dort seinen Vertrag bis 2025 verlängert. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent begleitet er seine Ehefrau, die Mezzosopranistin und Liedsängerin Nora Gubisch am Klavier und macht hin und wieder auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Seit 2021 ist er Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters.