Einführung zum Konzert des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters des Hessischen Rundfunks am 9. Dezember 2022


Mieczysław Weinberg: Cellokonzert c-Moll, op. 43

Mieczysław Weinberg
Mieczysław Weinberg (* 1919 in Warschau; † 1996 in Moskau)

Weinbergs Vater arbeitete als Violinist und Komponist am jüdischen Theater. Als Zwölfjähriger konnte er die Klavierklasse am Warschauer Konservatorium besuchen, wo Józef Turczyński sein Lehrer war. Der deutsche Überfall auf Polen zwang ihn zur Flucht. Vom Schicksal seiner in Warschau verbliebenen Angehörigen, die im Lager Trawniki ermordet worden waren, erfuhr Weinberg erst wesentlich später. Er kam nach Minsk, studierte am dortigen Konservatorium Komposition bei Vasilij Zolotarëv. Der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 zwang ihn erneut zur Flucht, diesmal in die usbekische Hauptstadt Taškent, wo er als Korrepetitor am Opernhaus tätig wurde. Von Taškent aus gelangte ein Exemplar seiner 1. Symphonie op. 10 (1941) in die Hände von Dmitrij Šostakovič, der sich fortan für seinen jüngeren Kollegen einsetzte. Šostakovič ermöglichte Weinberg 1943 die Übersiedlung nach Moskau, wo dieser bis zu seinem Lebensende wohnhaft blieb. Zwischen beiden Komponisten entwickelte sich eine Freundschaft und ein reger künstlerischer und persönlicher Austausch.
 Nach Kriegsende machte sich der wachsende Antisemitismus für Weinberg bemerkbar. 1948 wurde er wegen „Nachahmung der schlechten Eigenschaften der Musik von Šostakovič und Prokof'ev“ von Tichon Chrennikov, dem Generalsekretär des Komponistenverbandes, öffentlich gerügt. Er wurde des „Formalismus“ beschuldigt und die Aufführung seiner Werke untersagt. 1953 wurde er für drei Monate inhaftiert. Aufgrund eines Bittbriefes von Šostakovič an den Geheimdienstchef Lavrentij Berija oder aufgrund des Todes Stalins wurde er entlassen.
 Ab den 1960er-Jahren fand er zu voller Produktivität zurück und komponierte in den Jahren bis 1980 seine wichtigsten Werke. Er war überaus produktiv, schuf acht Opern – darunter sein Hauptwerk Passažirka (Die Passagierin – 1968); die Oper wurde 2015 an der Frankfurter Oper inszeniert – und Operetten, Ballettmusik, Chorwerke und Lieder, 22 Symphonien, 17 Streichquartette, zehn Instrumentalkonzerte sowie eine Vielzahl kammermusikalischer und solistischer Werke. Hinzu kommen Stücke ohne Opusbezifferung, größtenteils aus den Jahren 1947 bis 1953, die als verloren gelten. Der genaue Umfang der Musik für Film und Fernsehen, für das Radio, das Theater und den Zirkus ist bis heute nicht erfasst.



Cellokonzert c-Moll, op.43 (1948)

Orchesterbesetzung: Solo-Violoncello – 3 Flöten (1 auch Piccolo), 3 Klarinetten (1 auch Bassklarinette) – 4 Hörner, 2 Trompeten, 1 Posaunen – Pauken – Streicher
Spieldauer: ca. 30 Min.
Sätze: 1. Adagio
2. Moderato – Lento
3. Allegro – Cadenza. L`istesso tempo – Andante – Allegro – Andante
4. Allegro – Adagio – Meno mosso
Uraufführung: 9. Jan. 1957, Moskauer Philharmoniker, Mstislav Rostropovič – Vc, Samuil Samosud – Ltg.

Das Cellokonzert op. 43 ist Weinbergs erstes großes Konzert überhaupt. Durch die politischen Verhältnisse in der Sowjetunion war an eine Uraufführung nicht zu denken. Als er an dem Werk schrieb, wurde Weinberg – wie Šostakovič – öffentlich wegen sogenannter „formalistischer Tendenzen“ kritisiert. Nach Stalins Tod 1953 dauerte es noch einmal vier Jahre, bis das Cellokonzert in der sogenannten Tauwetterperiode der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte.
 Eine schwere, sich in fast durchgehend gleichmäßigen Halben bewegende Akkord-Begleitung der Streicher und an einigen Stellen auch der Bläser ist dem Adagio unterlegt. Darüber erhebt sich die schwermütige Melodie des Solo-Cellos. Gegen Ende des Satzes lösen sich Orchester und Cello für kurze Passagen voneinander, bevor am Ende die Bewegungen im pianissimo ersterben.
 Nach wenigen Übergangsakkorden entspinnt sich ausgehend von den Violen ein Tanzrhythmus, über den zunächst das Solo-Cello ein bewegtes, spielerisches Motiv setzt. Später nehmen Flöte und Klarinette das Thema auf und es entwickelt sich ein Wechselspiel zwischen diesen drei Instrumenten. Skurrile Trompeteneinwürfe fügen eine weitere Farbe und Atmosphäre hinzu. Nach einer Triolenpassage des Solo-Cellos über Liegeakkorden, wechselt das Solo-Cello im Lento zu dem Begleitmotiv und in die Basslage.
 Der dritte Satz beginnt mit dem einem Volkstanz nachempfundenen, überaus schwungvollen Thema im 3/4-Takt, das bis zur Solo-Kadenz das Geschehen bestimmt und in verschiedene Klangfarben gehüllt, fragmentiert und dynamisch variiert wird. Die Kadenz nimmt zunächst das Allegro-Tempo und die Motive auf, um dann ins Andante-Tempo zu wechseln und damit auch Teile des melodischen Materials vor allem des ersten Satzes wieder aufzunehmen und dies mit Figuren aus den Sätzen II. und III. zu mischen. Für wenige Momente taucht auch noch einmal das Allegro-Tempo des Anfangs auf, um im letzten Andante Lautstärke und Energie zu vermindern, bis die Kadenz in der Tiefe endet.
 Der Finalsatz beginnt mit einem introvertierten Allegro im pianissimo. Das Orchester übernimmt bald die zuerst vom Solo-Cello gebrachte Melodie. Unvermittelt erscheint ein zweites Thema, in dem das Orchester mit den Blechbläsern die Atmosphäre des Volkstanzes des dritten Satzes, jetzt aber im 4/4-Takt, wieder aufnehmen. Mit dem erneuten Einsatz des Solo-Cellos springt der Satz zurück in die Anfangssituation, bevor erneut das zweite Thema diesmal unter Beteiligung des Solo-Instruments erscheint. Nach einer großen Steigerung und einem Abschluss im Unisono entspinnt sich eine kanonischer Satz in gemessenen Vierteln, den das Solo-Cello mit einem Aufwärtslauf beendet. Es geht zurück in das Tempo und die Atmosphäre des ersten Satzes und mit einer weiteren Verlangsamung klingt der Satz aus.


Andrés Orozco-Estrada

Leitung: Andrés Orozco-Estrada

wurde 1977 in Medellín, Kolumbien geboren. Er begann seine Ausbildung mit Violinunterricht. Als 15jähriger erhielt er den ersten Dirigierunterricht. Von 1997 bis 2003 studierte er an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Wien, in der Dirigierklasse von Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. 2004 sprang Orozco-Estrada kurzfristig bei einem Festwochen-Konzert des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich im Wiener Musikverein ein. Dieses Konzert, nach dem Orozco-Estrada von der Wiener Presse als „das Wunder von Wien“ gefeiert wurde, führte zu einer intensiven Zusammenarbeit mit dem Orchester, sowie zu Einladungen zahlreicher internationaler Orchester. 2007 wurde er Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Mit der Saison 2014/2015 folgte er Paavo Järvi als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters und wurde Musikdirektor der texanischen Houston Symphony. Seit Sommer 2021 ist er Chefdirigent der Wiener Symphoniker als Nachfolger von Philippe Jordan.

Edgar Moreau

Solist: Edgar Moreau

Der französische Cellist wurde 1994 in Paris geboren. Sein Vater ist Antiquitätenhändler. Mit ihm zusammen hörte er bei einem Spaziergang den Cello-Unterricht eines Mädchen und wollte es ihr gleichtun. Mit vier Jahren begann er, Cello zu spielen, mit sieben erhielt er Klavierunterricht. Cellounterricht nahm er zunächst bei Xavier Gagnepain, dann wechselte er zum Nationalen Konservatorium für Musik und Tanz in Paris und studierte dort in der Klasse Philippe Muller und in der Kammermusikklasse von Claire Dιsert. Mit fünfzehn Jahren gewann er den Jugendpreis beim Rostropovič-Wettbewerb, mit siebzehn eine Silbermedaille beim Čajkovskij-Wettbewerb in Moskau, sowie eine ganze Reihe weiterer Auszeichnungen und Preise. Von 2015 bis 2018 gehörte er zu den „Jungen Wilden“ des Konzerthauses Dortmund.
 Edgar Moreau spielt ein Cello aus dem Jahr 1711 von dem Geigenbauer David Tecchler.